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Aktueller Online-Flyer vom 27. April 2024  

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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 1
Navigator
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

   
    1.


"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                                  
Auch wenn dieser Tag nicht nur Kevins Leben grundlegend ändern sollte, sondern seine ganze Welt aus sämtlichen Fugen trieb – dieser Mittwoch Morgen begann nicht anders als die unzähligen Mittwoch Morgen der letzten zehn Jahre, die er bei der European Bank arbeitete. Um sieben Uhr zogen sich mit ratterndem Geräusch die Rollläden seines Schlafzimmers empor, und von der Küche her war das unverkennbare Geräusch der Espresso-Maschine zu hören, die von selbst begann, Kaffee-Bohnen zu malen.

„Guten Morgen, Kevin“, sagte die etwas rauchige Frauenstimme, die er dem Computer gegeben hatte. „Es liegen acht Nachrichten für Sie vor. Drei Ihrer Freunde sind online. Heute ist der dritte Oktober, sieben Uhr und fünf Minuten. Möchten Sie die aktuellen Nachrichten hören?“

„Nein, danke“, murmelte Kevin noch schlaftrunken. „Später.“ Das Mahlen der Kaffeebohnen war einem Zischen gewichen, der unverkennbare Duft frisch gebrühten Espressos fand den Weg in seine Nase. Ein doppeltes Klacken verriet ihm, dass der Toaster zwei Schreiben geröstetes Brot ausgespieen hatte. Etwas unwillig schob er die Füße über die Bettkante. Draußen war es ungemütlich kalt. „Dreh die Heizung etwas hoch, Sandra“, wies er den Computer an. „Wie wird das Wetter heute?“

„Stark bewölkt mit häufigen Schauern“, entnahm Sandra die Wettervorhersage für Köln der Datenbank im Netz. „Die Höchsttemperaturen liegen bei dreizehn Grad, und es liegt eine Unwetter-Warnung vor.“

„Na klasse!“ Kevin schlug in einem Anflug von Entschlossenheit die Bettdecke zurück und stand auf. Die Tür des Badezimmers glitt genauso automatisch beiseite, wie das Licht anging, ohne dass er einen Schalter drücken musste. Manchmal störte ihn das, ohne dass er genau sagen konnte, warum. Es gehörte einfach zur Standardausführung der Wohnungen, die die Bank den Brokern zur Verfügung stellte. Sie sahen in Köln nicht anders aus als in Berlin, und in Berlin nicht anders als in Paris, New York oder Istanbul. Kevin hatte in allen diesen Städten schon gewohnt, mal ein paar Monate, mal ein Jahr. In Köln war er die längste Zeit bisher: Ganze vier Jahre in derselben Bank, und es war zu hoffen, dass er die Karriereleiter bald ein oder zwei Sprossen nach oben kletterte.

Er schlurfte in die Küche. Die rechte Seite war von einer Einbauküche belegt, die er aber nur selten benutzte. Er aß meistens auswärts. Er pflückte die Brotscheiben aus dem Toast-Automaten, griff sich den doppelten Espresso mit geschäumter Milch und setzte sich an den kleinen Tisch, der direkt aus der Wand ragte. Sogleich erwachte der Bildschirm darüber zum Leben. Mit der Gewohnheit der Jahre registrierte er die Zusammenfassungen der Nachrichten, und wer im Moment gerade online war. Er konnte sie als kleine Bilder in einer Leiste auf der rechten Seite des Bildschirmes sehen. Bernd, ein Kollege aus Frankfurt, saß gerade wie er am Frühstückstisch und mümmelte sichtlich lustlos an seinem Toast herum. Markus in New York starrte angestrengt aus dem Bild heraus – was wahrscheinlich bedeutete, dass er wild auf seine Tastatur einhämmerte und die Webcam ihn vom Bildschirm her aufnahm.

Kevin hatte das winzige Glasauge des Computers mit einem Kaugummi zugekleistert. Irgendwo war das unfair gegenüber dem mit Überbiss mümmelnden Bernd und dem stier starrenden, etwas irre wirkenden Markus – aber Kevin fand, dass es niemanden etwas anging, wie er morgens verquollen über dem ersten Kaffee ausschaute. Und auch nicht, welchen Ausdruck er auf dem Gesicht trug, wenn er konzentriert arbeitete.

Ja, Kevin war der Meinung, dass er ein ausgesprochen kritischer Geist war.

Er nahm einen tiefen ersten Schluck Kaffee und verteilte großzügig Butter und Kirschkonfitüre auf seinem Toast. Ein Blick auf den Bildschirm sagte ihm, dass die GoogleZon-Lieferung schon eingetroffen war. Mit dem Toast in der Hand ging er zur Eingangstür hinüber und öffnete die Klappe rechts daneben, auf der das GoogleZon-Logo prangte. In dem etwa ein mal ein Meter großen Kasten stand sein Einkauf, den er (beziehungsweise Sandra) gestern Abend bestellt hatten. Die GoogleZon-Box war gekühlt, er ließ den Karton mit Gemüse und Obst ebenso stehen wie die Tüte mit den anderen Lebensmitteln. Er griff nur nach dem flachen Karton von Buchgröße, der im oberen Fach der Box abgelegt war.

Ja, Kevin hielt sich für einen überaus kritischen Geist – und er bestellte sich ab und zu sogar ein Buch.

Wieder am Tisch, öffnete er den Karton. Und ärgerte sich. Anstatt der gebundenen Ausgabe von Cervantes Don Quijote rutschte ihm die flache Plastik-Tafel eines eBook-Readers entgegen und das Begleitschreiben, das er fast schon auswendig kannte: Leider sei der bestellte Artikel nicht mehr vorrätig, man wäre untröstlich und stelle ihm aber hiermit die digitale Version zur Verfügung. Das Lesegerät möge er als Entschädigung betrachten, dass der Artikel nicht in der gewünschten Form geliefert werden könne. Dem Schreiben beigelegt war ein Plastikkärtchen, das entfernt an eine Kreditkarte erinnerte.

Mit den Lesegeräten konnte Kevin bald hausieren gehen. Er steckte die Buchkarte oben in den dafür vorgesehenen Schlitz, klappte das Gerät auf und schob den Schalter an der Unterseite auf „on“. Die Oberfläche des Lesegeräts veränderte sich und bildete das GoogleZon-Logo, darunter ein: „Bitte warten, die Verbindung wird hergestellt.“ Die Daten des Buches lagen auf irgendeinem der unzähligen Server von GoogleZon, auf der Buchkarte war nur der Zugangscode gespeichert. Natürlich las sich der eBook-Reader wesentlich angenehmer als ein normaler Bildschirm: Millionen statisch aufgeladener Kügelchen, auf der einen Seite schwarz, auf der anderen weiß gefärbt, bildeten eine Oberfläche, die dem Auge fast so angenehm war wie Papier. Man konnte Lesezeichen abspeichern, sogar Notizen eingeben.

Aber es war eben kein Buch.
Schon gar keines, das ihm gehörte.

Er schnaufte, verstand selbst nicht so recht, warum ihn das jedes Mal aufs Neue so aufregte – das war nun einmal die Entwicklung. Und sie hatte ja auch ihr Gutes: Es mussten weniger Bäume für Papier gefällt werden. Mit dem Lesegerät hatte er überall Zugriff auf alle seine Bücher. Und die Bücher konnten auch wesentlich preiswerter verkauft werden. Trotzdem gefiel ihm das Ganze nicht. Vor zwei Jahren war eine Neuübersetzung vom Don Quijote herausgekommen, und der Text auf dem Server war aktualisiert worden – und es hatte nur noch diese neue Version für alle gegeben, die mit ihrem Lesegerät das Buch aufschlugen. Und was, wenn er eine ältere Übersetzung schöner gefunden hatte?

Ach, was soll‘s!

Er regte sich einfach zu häufig auf! Das Lesegerät wog nicht mehr als ein Taschenbuch, und zusammengeklappt sah es sogar ein wenig wie eines aus. Man konnte es genauso bequem abends in die Couch gerekelt auf dem Schoß halten, und dass man, anstatt die Seite umzublättern, die Weiter-Taste drückte, machte das wirklich so einen Unterschied? Das einzige war vielleicht, dass das Gerät nicht funktionierte, wenn es keinen Empfang hatte. Zumindest theoretisch sollte es noch Gegenden geben, wo man kein Netz bekam. Aber Kevin hatte das noch nie erlebt. Nicht in Frankfurt, nicht in Paris und nicht in New York. Und auch nicht im Urlaub auf Borkum, und das war ja schon ziemlich abgelegen.

Er schmierte sich den zweiten Toast, legte das elektronische Buch beiseite und studierte gedankenverloren das Etikett der Kirsch-Konfitüre.

Wie alles andere auch hatte er sie bei GoogleZon bestellt und am Morgen darauf aus der Box neben der Tür geholt. Bei GoogleZon konnte man sich durch ein paar Hundert Sorten und Hersteller klicken, wenn man Kirsch-Marmelade in die Suchmaske eingab. Auf dem Etikett selbst stand natürlich nichts von Kirschen und Marmelade, sondern von Cherry und Jam, aber das verstand heute jeder, und irgendwo in der Reihe klein gedruckter Namen unter dem großen „Jam“, irgendwo zwischen den verschlungenen Fäden des Arabischen, zwischen den kyrillischen und lateinischen Buchstaben eines guten Dutzend Sprachen, irgendwo neben oder hinter den Sanskrit-Zeichen Indiens stand auch: Kirsch-Konfitüre. Manchmal machte es ihm Spaß, die Inhaltsangaben miteinander zu vergleichen, zu schauen, was „Kirsche“ auf Französisch hieß, auf Spanisch oder Portugiesisch.

„Kevin“, meldete sich die rauchige Frauenstimme des Computers. „Ich würde empfehlen, heute aufgrund der Unwetterwarnung etwas früher zu fahren.“

Kevin schaute aus dem Fenster. Sein Apartment lag in der Reihenhaushälfte eines dieser Vororte, in denen alle Straßen entweder nach Sträuchern, Vögeln, Schmetterlingen oder – wie in seinem Falle – nach berühmten Entdeckern benannt waren, als wäre der Stadtplaner mit dem Finger die Spalte eines thematischen Wörterbuchs hinunter gefahren. Das hier war die Magellan-Straße, und über den Häusern auf der anderen Seite gärten dunkle Wolken und türmten sich im Dämmer des heraufziehenden Morgens. Als ein wild gezackter Blitz einen weiten Bogen quer über den Himmel schrieb, im selben Moment der Donner krachte und eine Bö fauchend gegen das Haus anrannte, nickte Kevin. „Ja, du hast recht“, erklärte er dem Computer. „Hol schon mal den Wagen aus der Garage.“

"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-29-7

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)



Online-Flyer Nr. 194  vom 22.04.2009

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