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Arbeit und Soziales
Kündigung wegen 1,30 Euro – Kommentar und Hintergrund
Wenn Recht zu Unrecht wird
Von Jens Berger

„In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten“. Dieser vielzitierte Rechtsgrundsatz gilt zwar für das Strafrecht, im Arbeitsrecht wird er allerdings durch die Möglichkeit einer „Verdachtskündigung“ explizit außer Kraft gesetzt. Nicht der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer beweisen, dass dieser eine Tat begangen hat, die eine fristlose Kündigung rechtfertigt, sondern der Arbeitnehmer muss seine eigene Unschuld beweisen – was in vielen Fällen kaum möglich ist. Dies allein nötigt dem gesunden Menschenverstand bereits ein hohes Maß an Unverständnis ab.

rer barbara e. "emmely" kaisers
Die Ex-Kassiererin Barbara „Emmely“ E.       
Wenn eine „Verdachtskündigung“ aufgrund eines nicht nachweisbaren Bagatelldelikts ausgesprochen wird, wandelt sich das Unverständnis in Entsetzen. Wenn es in einem solchen Falle dann auch noch offensichtlich ist, dass es dem Arbeitgeber keinesfalls um das Bagatelldelikt als solches geht, sondern um die Entfernung einer unliebsamen Mitarbeiterin, die sich nicht alles gefallen ließ, wird aus dem Entsetzen blanke Wut. Einen solchen Fall stellt die Kündigung der Kassiererin Barbara „Emmely“ E. durch den Einzelhandelskonzern „Kaiser‘s Tengelmann“ dar. Die 50jährige Berlinerin, die sich in 31 Jahren Betriebszugehörigkeit nie etwas zuschulden kommen ließ, wird beschuldigt, Pfandgutscheine im Werte von 1,30 Euro veruntreut zu haben. Doch im Fall „Emmely“ geht es nicht nur um 1,30 Euro – es geht darum, Mitarbeiter zu Duckmäusern zu machen, die sich alles gefallen lassen. Barbara E. bewies Courage und ließ sich nicht kleinkriegen – das wurde ihr zum Verhängnis.

 
Schlägt hier das Herz?
 
Barbara E. wird als resolute, emanzipierte Frau mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit beschrieben. Seit 1977 lebt und arbeitet sie im Berliner Plattenbau-Bezirk Hohenschönhausen. Nach der Wende wurde die DDR-Kaufhalle, in der sie arbeitete, vom westdeutschen Einzelhandelsriesen Tengelmann übernommen, der mit dem Slogan „Hier schlägt das Herz“ wirbt. Tengelmann beschäftigt alleine in seinen 6.011 deutschen Supermärkten über 88.000 Mitarbeiter und macht über 14 Mrd. Euro Umsatz im Jahr. Die Tengelmann-Gruppe ist sehr profitabel, ihre Besitzer, die Familie Haub, wird in der Forbes-Liste der Milliardäre mit einem Familienvermögen von 7,8 Mrd. US$ gelistet.
Viersen kaisers-Tengelmann Foto: Ichmichi
Düster schlagendes Herz in der Zentrale
von Kaiser's-Tengelmann in Viersen
Foto: Ichmichi
So reich wird man im „hart umkämpften“ Einzelhandel natürlich nur, wenn man seinen Mitarbeitern Hungerlöhne zahlt, ihre Arbeitnehmerrechte selbst in die Hand nimmt und das Herz schon mal an anderer Stelle schlagen lässt. Stundenlöhne von 5,20 Euro, wie sie bei Tengelmanns Textil-Discounter KiK gezahlt werden, helfen der Familie Haub, ihren Rang in der Forbes-Liste zu verteidigen. Für die Mitarbeiter reicht es dann nicht einmal für eine kleine Wohnung im Plattenbau. Dafür müssen sie dann auch schon Verständnis haben. Haben sie es nicht, weht in ihnen schnell ein sehr kalter Wind ins Gesicht. Dies musste auch Barbara E. erfahren.


In ihrer Kaiser's Tengelmann Filiale arbeiten 36 Mitarbeiter, von denen Ende 2007 noch zehn gewerkschaftlich organisiert waren. Acht Mitarbeiter folgten dem Ruf der Gewerkschaft Verdi und zogen im letzten Winter mit Pfeifen und Transparenten über den Alex zum Brandenburger Tor. So viel „fehlgeleitetes“ Engagement wird bei Tengelmann nicht gerne gesehen. Die acht „Querulanten“ wurden zu Einzelgesprächen mit der „Distrikt-Managerin“ und der Filialleiterin gebeten, in denen man an den „Teamgeist“ appellierte. Sieben Verkäuferinnen verstanden den Wink mit dem Zaunpfahl und reihten sich wieder in die Herde ein, nur Barbara E. blieb standhaft und war fortan das schwarze Schaf der Kaiser's Tengelmann Filiale Berlin-Storchenhof. Sie folgte auch weiterhin dem Ruf der Gewerkschaft und streikte – das war zwar ihr gutes Recht, wer aber in unserem System auf sein Recht pocht, muss leider auch die Konsequenzen fürchten.
 
„Emmely“ gegen die Tengelmänner
 
An ihrem Arbeitsplatz wurde Barbara E. fortan gemobbt. Man sprach nicht mehr mit ihr, ihre Schichten wurden auf die Spätstunden und die Samstage gelegt, ihren Urlaub sollte sie verschieben. Aber Barbara E. gab nicht etwa klein bei, sondern schaltete den Betriebsrat ein. Tengelmann erhöhte den Einsatz und läutete die nächste Eskalationsstufe ein. Am 25. Januar wurde sie zur Taschenkontrolle gebeten, ihr Spind wurde gefilzt.
 
Angeblich soll sie drei Tage zuvor zwei Pfandbons bei ihrem eigenen Einkauf eingelöst haben, die ihr nicht gehörten. Die Aufnahmen der Überwachungskamera, die entscheidende Hinweise geben könnten, werden nach drei Tagen gelöscht, sodass es keine Beweismittel gab, die Barbara E. entlasten könnten – welch merkwürdiger Zufall. Ein Bon hatte den Wert von 48 Cent, der andere war 82 Cent wert – zusammen 1,30 Euro. Für einen Konzern mit einem Umsatz von nur 24 Mrd. Euro ist dies freilich eine existenzielle Bedrohung. Grund genug, sofort eine fristlose Kündigung auszusprechen das Vertrauensverhältnis sei so sehr gestört, dass an eine weitere Beschäftigung nicht zu denken sei.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos entlassung barbara e. kaiser's
Karikatur: Kostas Koufogiorgos | www.koufogiorgos.de

Zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro, die entgegen der geschäftsinternen Praxis nicht gegengezeichnet wurden bei einem protokollierten Einkauf auf eigene Rechnung? Einem Einkauf, den sie direkt bei ihrer „internen Gegnerin“, der tengelmanntreuen Filialleiterin hat abrechnen lassen? Warum sollte eine Mitarbeiterin 31 Jahre Berufserfahrung und ihre materielle Zukunft für 1,30 Euro aufs Spiel setzen? Noch dazu bei einem „Delikt“, das herauskommen muss? Mit gesundem Menschenverstand lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Tengelmann brauchte aber keinen gesunden Menschenverstand, sondern einen Kündigungsgrund – und den hatte man nun „gefunden“.

Das höchste Recht ist oft das höchste Übel
 
In Deutschland spielt es nämlich keine Rolle, wie hoch die Summe eines „entwendeten“ Gegenstandes ist, den man „veruntreut“. Der dringende Verdacht auf eine Veruntreuung stellt einen gerichtsfesten Kündigungsgrund dar. Dabei kann es sich um eine Stück Bienenstich vom Vortag handeln, das 1984 einer Bäckerverkäuferin zum Schicksal wurde, oder um einen längst abgelaufenen Becher „Müller-Milch“ im Werte von 59 Cent, den ein Filialleiter einer Bäckerei trank, anstatt ihn wegzuschmeißen.
 
Die Höhe des Schadens spielt keine Rolle, wenn es um das Vertrauen geht. Zumindest bei Niedriglohnbeziehern ist dies so. Die Vorstände der Landesbanken, die – teils unter kriminellen Vorsatz – Milliarden Steuergelder verzockt haben, wurden freilich nicht fristlos gekündigt, sondern mit den berühmt-berüchtigten millionenschweren „golden Parachutes“ (goldene Fallschirme) ins Zivilleben entlassen.

Gemüse, Protest vor Kaiser's Filiale in Köln

Fristlose Kündigung: sogar das Gemüse protestiert mit | Quelle: indymedia

Das Landesarbeitsgericht Berlin gab der Tengelmann-Gruppe nun in zweiter Instanz recht und schloss per Dekret sogar eine Berufung aus – wogegen nun allerdings Barbara E. und ihr Rechtsbeistand klagen wollen. Verhandlungsführend war die Richterin Daniele Reber – sie hält neben ihrer richterlichen Tätigkeit auch Referate für Führungskräfte, die von der „Forum - Institut für Management GmbH“ abgehalten werden. Wie hoch ihr Honorar bei solchen Veranstaltungen ist, die pro Teilnehmer auch schon mal über 1.300 Euro kosten, bleibt verständlicherweise im Dunkeln. Ob dies, und der Umstand, dass die „Forum - Institut für Management GmbH“ auch Seminare unter dem Titel „So beenden Sie effektiv Arbeitsverhältnisse“ abhält, in denen auch Tipps gegeben werden, „wie man „Unkündbare“ kündigt“, ihre richterliche Unvoreingenommenheit beeinträchtigt, muss ein jeder wohl für sich selbst beantworten.

Das Arbeitsgesetz in Deutschland ist ein Arbeitgebergesetz. Von Arbeitgebern wie der Tengelmann-Gruppe wird es eingesetzt, um die Mitarbeiter zu Duckmäusern, Mitläufern und Denunzianten zu erziehen. Die Politik hat mit „Hartz-IV“ auch gleich die passende Begleitmusik aufgelegt. Wer kritisch ist und gegen den Strom schwimmt, muss sich warm anziehen. Von Niedrigstlöhnen lassen sich in Berlin nicht einmal die Heizkosten bezahlen, aber dafür gibt es ja warme Pullis. Wie soll der Bürger seiner Wut über solche Fälle freien Lauf lassen? Natürlich sollte man die Märkte der Tengelmann-Gruppe, Kaiser’s Tengelmann, Plus, OBI, KiK und TEDi, boykottieren. Reden wir mit ihnen in der einzigen Sprache, die sie verstehen – und „Unternehmer“ wie die Familie Haub verstehen nur eine Sprache, die des Geldes.

Solidarität mit : Protest vor Kaiser's Filiale in Köln

Solidarität mit „Emmely“ : Protest vor Kaiser's Filiale in Köln 2008
Quelle: indymedia

Nur dumm, dass die Konkurrenz von Tengelmann auch nicht besser ist. ALDI gehört der Familie Albrecht – 35 Mrd. Euro Familienvermögen. Metro, Real, Media-Markt, Saturn und Galeria Kaufhof gehören zur Metro-Gruppe, deren Eigentümer die Familien Haniel (7,2 Mrd. Euro), Schmidt-Ruthenbeck (4,6 Mrd. Euro) und Otto Beisheim (4,9 Mrd. Euro) sind. Lidl und Kaufland gehören Dieter Schwarz (11 Mrd. Euro). Schlecker gehört der gleichnamigen Familie (2,6 Mrd. Euro). Karstadt, KaDeWe und Wertheim gehören zum Imperium der Madeleine Schickedanz (3,9 Mrd. Euro). Das Who is Who der deutschen Milliardärsszene ist im Bereich Einzelhandel vertreten, dem Sektor, der wie kaum ein anderer von Niedriglöhnen und Einschränkungen bei Arbeitnehmerrechten gekennzeichnet ist. Diese illustre Runde hat den Gewerkschaften den Krieg erklärt. Union-Busting für den Profit Barbara E. ist ein weiteres Opfer in diesem Krieg. (HDH)

spiegelfechter 

Der Artikel erschien im Original auf Spiegelfechter.

Jens Berger betreibt den beliebten Blog, auf dem Sie zuweilen ernste, kritische, zuweilen witzig hintergründige Kommentare über die Welt und das Mediengeschehen lesen können.



Online-Flyer Nr. 187  vom 04.03.2009

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