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Literatur
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ – Folge 44
Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben
Von Wolfgang Bittner

Der Protagonist Erich Wegner arbeitet nach Abschluss der Schule im Tiefbau, aber in ihm reift allmählich der Entschluss, seine Situation zu verändern. Er holt das Abitur nach, beginnt Jura zu studieren und absolviert erfolgreich eine akademische Laufbahn. Eine verheißungsvolle Zukunft scheint vor ihm zu liegen, doch seine Hoffnungen und Erwartungen erfüllen sich nicht; sie werden durchkreuzt von seinen Vorstellungen von einem humanen und selbstbestimmten Leben in einer sozialen Gesellschaft. Er überlegt, fortzugehen, neu anzufangen. Es bleibt die Frage, ob Wegner jemals eine echte Chance hatte.

der aufsteiger wolfgang bittner horlemann-verlag cover
                                                   
Außer bequem als Buch im Horlemann-Verlag können Sie exklusiv in der NRhZ die überarbeitete Neuausgabe von Wolfgang Bittners 1978 erstmals erschienenen Roman „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“ lesen – eine Rezension des Werks finden sie in der NRhZ 139: „Ein Roman über einen ‚Helden’ von unten, aus der Sicht von unten und deshalb wichtig für alle – und sogar mit nicht allzu viel Fantasie lässt sich auch der Roman auf heutige Verhältnisse übertragen.“, schreibt Rezensent und Buchhändler Uli Klinger über „Der Aufsteiger“.



16) Wieder in Salstädt (Fortsetzung)

nkeberg war in der Zwischenzeit noch fetter geworden. Seinen klobigen Schädel zierte nur noch ein spärlicher Haarkranz.
Wer ihn nicht kannte, konnte ihn für einen ausgedienten Freistilringer halten, allerdings mit sehr viel mehr Selbstbewusstsein.

Das kam daher, dass er mit Sicherheit mehrfacher Millionär war, nachdem er jetzt Niederlassungen in Hannover, Hamburg und Bremen hatte und ihm allein in Salstädt mehrere Wohnblocks und Geschäftshäuser gehörten.

Trotz seiner Körperfülle kam er behände hinter dem Schreibtisch hervor. „Was kann ich für Sie tun, mein Lieber?“, fragte er jovial, beinahe herzlich. Dann, ohne eine Antwort abzuwarten, raunzte er seiner Sekretärin noch die bei Leuten seiner Güteklasse anscheinend obligate Anweisung zu: „Ich bin in der nächsten halben Stunde für niemanden zu sprechen.“ Erst anschließend ging die Begrüßungszeremonie weiter. Beim Händeschütteln legte er die linke Hand obenauf, als wolle er ein Bündnis besiegeln.

Sie nahmen Platz in den bequemen Sesseln, wo schon eine Karaffe mit Kognak bereitstand, aus der Mönkeberg einschenkte und seinem Gast zuprostete: „Man hat ja so viel von Ihnen gehört, nur Gutes natürlich. Von Ihren wissenschaftlichen Erfolgen und dass Sie inzwischen doktoriert sind.“ Er war anscheinend bestens unterrichtet, sowohl durch einen Neffen, der ebenfalls Jura studierte, als auch durch die Salstädter Gerüchteküche. In seiner Stimme schwang eine nur mühsam beherrschte Begeisterung mit, als er sagte: „Für uns sind Sie das typische Beispiel dafür, wie weit man es in unserer heutigen Gesellschaft aus eigener Kraft bringen kann, wenn man nur will.“

Mönkeberg war nicht mehr zu bremsen und kam vom Hundertsten ins Tausendste. Dabei war sein Ton fast familiär, zumindest freundschaftlich. Man plane jetzt den Bau eines Hallenbades und eines neuen Kreishauses in Salstädt, erzählte er. Dadurch werde die Lebensqualität der Bevölkerung bedeutend verbessert, wofür er sich in den vergangenen Jahren im Stadtrat ständig eingesetzt habe, wie auch mehrere andere Ratsherren seiner Partei, zum Beispiel sein Freund Aschbrenner und der alte Lehmann von der Maschinenfabrik. Überhaupt habe sich in den vergangenen Jahren viel getan; eine Umgehungsstraße sei gebaut worden, ein Gymnasium, eine Stadthalle, und in der Neustadt sei praktisch eine zweite kleine Stadt entstanden, die sogar eine eigene Grundschule erhalten habe.


Erich Wegner hatte Mühe, zum eigentlichen Zweck seines Besuches zu kommen. Erst als sich sein Gegenüber eine Zigarre anzündete, war es ihm möglich, dessen Redeschwall zu unterbrechen und dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. Er wolle einige Zeit in Salstädt bleiben und sich einen Job suchen, erklärte er. Die Arbeit solle möglichst geistig anspruchslos sein. Ob denn in dem alten Bautrupp noch eine Stelle für ihn als Hilfsarbeiter frei sei.

Daraufhin wollte Mönkeberg sich ausschütten vor Lachen. Er brüllte regelrecht los und schlug sich mit beiden Händen auf die Schenkel. „Köstlich“, schnaufte er, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Bauhilfsarbeiter! Herr Doktor Wegner als Bauhilfsarbeiter!“ Und er brach erneut in ein schallendes Gelächter aus. „Entschuldigen Sie“, keuchte er, „aber ich hab mich lange nicht mehr so amüsiert. Muss ich gleich heute Abend beim Stammtisch erzählen. Die werden sich totlachen.“ Erich Wegner merkte, wie Trotz in ihm hochkam und eine emotionale Mischung aus Groll und Empörung, eine Erbitterung, die sich zur Wut steigerte. Eine Aufsässigkeit, die er schon lange nicht mehr gespürt und eigentlich auch nicht mehr nötig hatte. Er musste an sich halten, um nicht aus der Rolle zu fallen.

Es sei ihm vollkommen ernst, sagte er so ruhig wie möglich, und da wurde Mönkeberg plötzlich ganz nüchtern. „Also als Hilfsarbeiter wollen Sie eingestellt werden? Wirklich, tatsächlich als Hilfsarbeiter? Sie machen wirklich keinen Witz?“ „Nein, nein“, erwiderte er, „ich mache wirklich keinen Witz.
Das ist mein voller Ernst.“ „Ja, sagen Sie mal, warum wollen Sie denn als Bauhilfsarbeiter gehen? Bei Ihrer Ausbildung. Bei Ihrer bisherigen Karriere.

Mein Neffe sagte mir, dass sie hervorragende wissenschaftliche Abhandlungen geschrieben hätten.“ Er zog an seiner Zigarre, die ihm ausgegangen war. „Das ist ja wohl ein Spleen, der hoffentlich bald vorübergeht?“ Als er ihm erklärte, dass er aus persönlichen Gründen, die nichts zur Sache täten, nicht als Jurist arbeiten wolle, jedenfalls momentan nicht, blickte Mönkeberg ihn misstrauisch an. So, als stünde der Verfassungsschutz schon hinter dem Sessel. Wer weiß, was in seinem Schädel vor sich ging. „Also als Syndikus, da hätte ich etwas“, meinte er zögernd. „Zwar nicht bei mir, aber ein Geschäftsfreund von mir sucht händeringend einen guten Juristen.

Bei angemessener Bezahlung, versteht sich. Aber als Bauhilfsarbeiter – das schlagen Sie sich mal aus dem Kopf. Da mache ich nicht mit.“ „Ist das Ihr letztes Wort?“, fragte Wegner und erhob sich.

„Mein letztes“, sagte Mönkeberg eisig. „Ich habe nicht die Absicht, mich zum Gespött der Leute zu machen. Mit einem ausgewachsenen promovierten Volljuristen als Bauhilfsarbeiter!“ Er schüttelte den Kopf und zuckte nervös mit den Augen, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Dann brachte er seinen Besucher zur Polstertür, immer noch kopfschüttelnd, die Welt nicht mehr begreifend.

Als Erich Wegner auf der Straße stand, war es bereits halb sechs.
Was hatte er nun erreicht? Was hatte es ihm genutzt, Mönkeberg zu schockieren? Hätte er sich nicht vorher darüber klar werden müssen, was er wollte? Gut, du suchst einen Job, sagte er sich.

Aber hätte man das nicht intelligenter anstellen können? Gut, du fühltest dich irgendwie provoziert, da gab es noch Rückstände, unterbewusste Defekte. Aber war das eine Entschuldigung für ein derart ungeschicktes Verhalten? Hätte er sich nicht auch anders entlasten können? Hätte man Mönkeberg nicht ganz anders kommen müssen, um ihm zu zeigen, dass er ein korruptes Schwein ist, ein gerissener Halunke, der auf Kosten anderer gut lebt und auf den er, Erich Wegner, nicht angewiesen ist? Er ärgerte sich, dass er nicht planvoller vorgegangen war. In Salstädt, das stand fest, würde ihn, noch dazu bei dem augenblicklichen Rückgang der Konjunktur, so schnell niemand mehr einstellen. Dazu besaß Mönkeberg zu gute Beziehungen.

Allmählich beruhigte er sich wieder, schlenderte über den Marktplatz hinüber zur Sparkasse. In einem der Schaukästen hingen die Ankündigungen der Landesbühne, die immer noch vierteljährliche Gastspiele gab, allerdings nicht mehr im alten Schützenhaus, sondern in der neuen Stadthalle. Auch die Sparkasse residierte inzwischen in einem repräsentativen Neubau, errichtet natürlich von der Firma Mönkeberg, die kein anderes Bauunternehmen hochkommen ließ.

Er bummelte noch ein bisschen durch die Innenstadt, sah sich die Schaufenster an, machte sich aber bald wieder auf den Weg ins Hotel. Jetzt, kurz vor Geschäftsschluss, war noch Betrieb in der Innenstadt, und die vielen bekannten Gesichter, die er sah, verwirrten ihn. Andauernd kam jemand auf ihn zu, der sich von früher an ihn erinnerte, sagte ein paar Worte und zwang ihn zu fadenscheinigen Erklärungen. Im „Bahnhof“ hatte er wenigstens seine Ruhe.

Unterwegs überlegte er sich, dass es doch nicht so verkehrt gewesen war, mit Mönkeberg zu reden. Wahrscheinlich war dieses Gespräch sogar sehr wichtig gewesen. Bei dem Gedanken daran, dass er vor diesem Mann einmal so etwas wie Furcht verspürt hatte, bekam er direkt wieder gute Laune. Er fühlte sich frei.

An einem Kiosk aß er eine Bratwurst mit Kartoffelsalat. In den nächsten Tagen würde er in einen der Nachbarorte fahren, wo ihn niemand kannte, um sich dort nach Arbeit umzusehen. Es wurde Zeit, dass er wieder etwas Geld in die Finger bekam. Außerdem musste er zusehen, dass er sich das Reisegeld verdiente.
Vier, fünf Monate würden genügen, um den Flug oder die Schiffspassage und noch etwas darüber hinaus zusammenzubekommen.

Die Gaststätte „Zum Bahnhof“ lag zwischen der Altstadt und der Neustadt am Rande eines Grünstreifens, der noch nicht von der Bebauung erfasst war. Er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als das Lokal eine Goldgrube war und das Hotel mit dem „Hamburger Hof“ in der Innenstadt konkurrieren konnte.

Außerdem hatte ein Kino dazugehört, das ebenfalls gut lief.
Aber dann war der alte Gröbler, Hannelores Vater, gestorben, die Kleinbahnlinie war dem Individualverkehr zum Opfer gefallen und das Kino dem Fernsehen. Seit dieser Zeit war es ständig bergab gegangen. Offensichtlich hatte Hannelores ehemaliger Mann, ein versoffener Gernegroß, nicht zu knapp dazu beigetragen.

Lesen Sie in der kommenden Ausgabe  die Fortsetzung Wolfgang Bittners Romans und das letzte Kapitel „Wieder in Salstädt“ .
(CH)

© 2008 Horlemann
Alle Rechte vorbehalten
Überarbeitete Neuausgabe – Erstveröffentlichung 1978
Büchergilde Gutenberg, Satz und Umschlaggestaltung Verlag.
Bitte fordern Sie das Verlagsverzeichnis an, unter:
Horlemann Verlag, Postfach 1307, 53583 Bad Honnef,
Telefax 02224 5429, E-Mail: info (at) horlemann-verlag.de
www.horlemann.info


 
Wolfgang Bittner Foto: Andreas Neumann arbeiterfotografie
Foto: Andreas Neumann              
Wolfgang Bittner, Jahrgang 1941, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Der promovierte Jurist schreibt für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Er erhielt mehrere Literaturpreise, ist Mitglied im PEN und Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Er hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht, u.a. die Romane „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“, „Niemandsland“ und „Flucht nach Kanada “, den Erzählband „Das andere Leben“ sowie das Sachbuch „Beruf: Schriftsteller“.

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Online-Flyer Nr. 183  vom 04.02.2009

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