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Arbeit und Soziales
„Bundessozialgericht“ bestätigt neue Verschlechterung für Erwerbslose
Ausgegrenzt und rechtlos
Von Hans-Dieter Hey

Manchmal will man nicht glauben, was man hört oder liest. In diesen Tagen – vor dem christlichen Weihnachtsfest – wird den Ausgegrenzten unter uns noch mal deutlich gemacht, dass die demokratische Gesellschaft gestern war. Erwerbslosen wurde durch CDU und SPD der Weg erschwert, sich Gerechtigkeit bei Gericht zu holen. Aber auch das Bundessozialgericht macht jetzt bei den Apartheid-Exzessen der Politik durch Verschärfung bei der verkappten Zwangsarbeit mit.

Am 16. Dezember hat das Bundessozialgericht erneut die moderne Zwangsarbeit legitimiert. Erwerbslose können zu einem Ein-Euro-Job gezwungen werden, auch wenn dieser 30 Stunden in der Woche dauert. Eine gesetzliche Grenze gäbe es nicht. Die Richter stellen nicht einmal die Frage, ob diese Regelung vielleicht einer Grenze bedarf. Ihr Urteil reiht sich in eine Folge von Skandalurteilen ein.

Skandalurteil provoziert Arbeitsplatzvernichtung


Justitia: Blind, blauäugig oder nach eigenem
Leitbild des BSG "unabhängig"?
Foto: SchneckeJ, pixelio
Ein erwerbsloser Ingenieur aus der Nähe von Augsburg wurde zur Zwangsarbeit in einem Ein-Euro-Job verdonnert, der mit dem beschönigenden Begriff „Integrationsjob“ bezeichnet wird. Neben Hartz-IV bekam der Erwerbslose eine Aufwandsentschädigung von 1,50 Euro je Stunde für die Tätigkeit in der Gemeinde. Er verweigerte diese Arbeit unter anderem mit der Begründung, wenn er 30 Stunden arbeiten würde, hätte er kaum noch Zeit für Bewerbungen. Daraufhin kürzte die Arbeitsagentur seine Existenzsicherung um 30 Prozent. Das Landessozialgericht hatte dem Kläger noch Recht gegeben, 30 Stunden seien nicht zumutbar, weil es sich fast um eine Vollzeittätigkeit handele. Vor dem Bundessozialgericht verlor der Ingenieur nun mit der Begründung, er hätte neben den 30 Stunden „Integration“ genügend für Bewerbungen. Wichtigeren Problemen zur Sache stellt sich das Bundessozialgericht nicht.

Der Frage zum Beispiel, in wieweit es sich mit seinem Urteil zum Büttel der gegenwärtigen Großen Koalition gemacht hat. Es verhilft nämlich dazu, dass die Löhne weiter unter Druck geraten, genau so wie dies politisch gewollt ist – vor allem in öffentlichen Einrichtungen, in Kirchen oder Hilfsorganisationen. Das Bundessozialgericht stellt zwar fest, dass die „Integrationsjobs“ keine Arbeitsverhältnisse begründen. Denn die kämen ja nach unseren Grundrechten nur unter freier Vertragsverhandlung über Tätigkeit, Vergütung, Zeit und Ort der Arbeit zustande. Das Urteil hilft aber dazu, solche Arbeitsverhältnisse – und nun vermehrt auch Vollzeitarbeitsplätze – weiter unter Druck zu setzten, damit sie letztlich ersetzt werden können. Verschiedene Untersuchungen, unter anderem des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), haben längst nachgewiesen, dass Ein-Euro-Jobs Arbeitsplätze vernichten. All das müsste dem Bundessozialgericht bekannt sein. Und daraus folgt, dass Ein-Euro-Jobs vielleicht doch irgendwie Arbeitsplätze sind, aber solche ohne Vertrag und bei vollem Lohnverzicht. Und mit dem entsprechenden Druck des Entzugs der Existenzsicherung sind Ein-Euro-Jobs auch irgendwie Zwangsarbeit.  

Gehirnwäsche angekommen   

Die neoliberale Gehirnwäsche scheint also bei Gericht angekommen zu sein. Auch in anderen Köpfen scheint sie gelungen. Wie sehr, zeigt, dass vor allem den Profiteuren moderner Zwangsarbeit die „Integrationsjobs mit Aufwandsentschädigung“ als „Lohn“ in die Köpfe eingedrungen sind, wie zum Beispiel den Kirchen. In der Online-Ausgabe vom 19. Dezember führte Frank Leth vom Evangelischen Pressedienst zum vorliegenden Fall aus: „Der ausgebildete Ingenieur weigerte sich, die Arbeitsgelegenheit mit 30 Wochenstunden und einem Stundenlohn von 1,50 Euro anzunehmen.“ Das spricht Bände. Und selbst Thomas Öchsner von der Süddeutschen Zeitung online am gleichen Tag, für den Ein-Euro-Jobs eigentlich verboten gehören, spricht davon, dass Erwerbslose ihre „Hartz-IV-Bezüge zumindest mit einem schmalen Entgelt aufbessern" könnten. Irgendwie ist also für viele die Entrechtung, Erniedrigung und Unterdrückung durch Ein-Euro-Jobs zum Normalfall geworden.

Ein weiteres Skandalurteil des Bundessozialgerichts war die Begrenzung zusätzlicher Fahrtkostenerstattung bei den Ein-Euro-Jobs auf 6 Euro pro Tag. In Frankfurt wurde ein Ein-Euro-Jobber verurteilt, 110 Euro für die Fahrt von Frankfurt nach Offenbach von seinem Regelsatz von 351 Euro nebst Aufwandsentschädigung von 1,50 Euro zu zahlen, so dass ihm im Monat von der Aufwandsentschädigung nur noch 40 Euro verblieben. Bei einer 30-Stunden-Woche wären dies 0,33 Euro die Stunde zusätzlich. Solche Urteile zeigen, dass auch das Bundessozialgericht sich bei Harz IV aktiv als „Hungerpeitsche zur Arbeit“ (Prof. Michael Wolf) beteiligt.

Rechtlos in der Postdemokratie

Zu Beginn des nächsten Jahres werden auch die Möglichkeiten für Erwerbslose verschlechtert, Gerechtigkeit über die Gerichte einzufordern. Seit 1981 gibt es das Beratungshilfegesetz, das Bedürftigen rechtliche Unterstützung gewährt. Der Staat musste im bestimmten Rahmen für die Rechtsuchenden die Kosten übernehmen. Dazu mussten dem Amtsgericht die Einkommens- und Vermögensverhältnisse offengelegt werden, damit es dann die Bewilligung ausstellte.



Eine Auswahl von Gerechtigkeit des BSG
Quelle: BSG, Kollage: gesichter zei(ch/g)en


Künftig sollen Mittellose oder Hartz-IV-Empfänger 30 Euro Gebühren zahlen, wenn der Anwalt neben der mündlichen Beratung auch noch einen Brief schreiben muss. Außerdem wird gefordert, dass die Bedürftigkeit der Erwerbslosen vor einem Antrag noch genauer geprüft wird. Man wolle verhindern, dass Erwerbslose „mutwillig“ klagen. Doch offenbar ist es der schwarz-roten Regierung nicht an Rechtsfindung gelegen, sondern daran, die Klagekosten zu senken. Aber die lagen nach internen Erhebungen einer Länderarbeitsgruppe im Jahr 2006 lediglich bei rund 85 Millionen Euro – ein kläglicher Betrag, wenn es um Rechtsfindung geht.

Immer noch zu viele Erfolge bei Klagen?

Das Beratungszentrum Tacheles e.V. aus Wuppertal wies darauf hin, dass die Bundesarbeitsagentur die Arbeitsagenturen in einer „Leitlinie“ aufgefordert habe, „die Erfolgsquoten von Klagen“ um 30 Prozent zu senken. Beispielsweise soll Druck auf Erwerbslose ausgeübt werden, um sie „zur Rücknahme des Widerspruchs zu bewegen“ und so erfolgversprechende Urteile zu vermeiden.

Der DGB wies kürzlich darauf hin, dass allein im ersten Halbjahr 2008 die Klagen gegen Hartz IV auf 61.970 gestiegen sind, das sind 36,2 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Dabei war die Erfolgsquote mit ungefähr 70 Prozent durchaus hoch. Offenbar will man Hartz-IV-Empfängern keinen Sieg gegen das grottenschlecht gemachte Hartz-IV-Gesetz mehr gönnen. Und das hört sich alles andere als rechtsstaatlich an. Und es ist nicht gerecht. Der Begriff der „Gerechtigkeit“ als umfassendes Prinzip sozialer Gesellschaftsgestaltung in Konflikten wird so auf den Kopf gestellt und öffnet schon heute einen düsteren Blick in die postdemokratische Gesellschaft von morgen. (HDH)

Unser Anreißerfoto stammt von geralt, pixelio

Online-Flyer Nr. 178  vom 24.12.2008

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