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Lokales
Allerweltshaus: Als Griechen und Türken getrennt wurden
„Vertrieben für Frieden“
Von Elke Kochann

„Vertrieben für Frieden – als Griechen und Türken getrennt wurden“ ist der Titel eines Films von Simone Sitte und Osman Okkan, der zu Beginn der jüngsten Veranstaltung im Allerweltshaus Köln in der Reihe „Geschichte und Geschichten“ gezeigt wurde. Okkan ist WDR-Redakteur, Dokumentarfilmer und Vorstandssprecher des Kulturforums Türkei-Deutschland.
Mehmet und Ferhat auf dem Weg nach Lesbos auf der Fähre
Mehmet Erkalmis und Ferhat Eris nach 80 Jahren auf dem Weg nach Lesbos
Quelle: „Vertrieben für Frieden“


Die Moderation des Abends, Sophia Georgallidis, war selbst als Übersetzerin griechischer Interviews an dem Film beteiligt. Das von ihr vorgestellte Buch aus der Raphel-Lemkin-Bibliothek von Dogan Akhanli ist der dritte Teil der Trilogie „Die verschwundenen Meere“ und thematisiert vor allem den Völkermord an den Armeniern.
 
Vertrag von Lausanne
 
„Vertrieben für Frieden“ beschreibt die die Folgen des Vertrags von Lausanne, in dem 1923  zwischen Griechenland und der Türkei der so genannte „Bevölkerungsaustausch“ vereinbart worden war. Außenpolitisch als Erfolg gefeiert, führte er aber zu grausamer Vertreibung, Flüchtlingselend und Verarmung. Die „erste staatlich sanktionierte‚ethnische Säuberung des 20. Jahrhunderts“ diente zudem als Vorbild für vergleichbare Aktionen nach dem 2. Weltkrieg und auf dem Balkan. Etwa 1,5 Millionen Griechen wurden aus Kleinasien und eine halbe Million 500.000 Türken aus Griechenland vertrieben.

Zwei der Biographien, die der Film vorstellt, sind die von Mehmet Erkalmis (91) und Ferhat Eris (90). Die beiden alten Herren leben in der Türkei, sind aber auf der griechischen Insel Lesbos geboren. Auf einem Schiff segeln sie in ihre alte Heimat. Erinnerungen kommen hoch.  

Die Griechin Matrona Pateraki (97) singt ein Lied. Auf die Frage, was sie sagen würde, wenn sie heute einen Türken sähe, antwortet sie: „Du Dreckshund! Bist du hierhin gekommen, damit ich dich sehe? Du hast meinen Vater und meine Verwandten getötet. Verschwinde, du Dreckshund!“ Und weiter: „Sollte ich ihn etwa mögen? Das verdient er nicht.“ Auch Mikis Theodorakis berichtet über Kindheitserinnerungen, von seinen Eltern und Verwandten, die durch die Vertreibung geprägt wurden.
 
Erinnerungen an 1923
 
Auf Lesbos angekommen erzählt Ferhat Eris, dass er hier türkische und die griechische Schulen besucht hat und als Kind ganz normal am Leben Bis zum 15. Oktober 1923, als er plötzlich seine Heimat verlassen musste und nach Ayvalik gebracht wurde. Mehmet Erkalmis berichtet über die Hintergründe: Als die Türken siegreich aus dem Befreiungskrieg gegen Griechenlang hervorgingen, wurden viele geflohene griechische Soldaten nach Lesbos gebracht. Nach ihrer Ankunft auf der Insel begannen Unruhen und Übergriffe und plötzlich, so Erkalmis, hieß es, dass „die Türken“ die Insel verlassen müssten. Auf Schiffen wurden sie Richtung Ayvalik transportiert.
 
Die Griechen hatten sich 1821 von der osmanischen Herrschaft befreit, und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sah es für sie so aus, als könnten sie dies dem „kranken Mann am Bosporus“ nun heimzahlen. Da Griechen schon in der der Antike die Küsten Kleinasiens und Teile Anatoliens beherrscht hatten, träumten nationalistische Politiker von einem neuen griechischen Großreich. Von England dazu ermutigt ergriffen sie die Chance und besetzten Anatolien. Mustafa Kemal, später Atatürk, vom Sultan eigentlich beauftragt die osmanische Armee aufzulösen, formierte stattdessen den Widerstand. Im September 1922 schlug er die griechischen Truppen bei Smyrna, dem heutigen İzmir und viele Soldaten flohen zunächst nach Lesbos.
 
„Die Ausgetauschten“
 
Als Mehmet Erkalmis und Ferhat Eris nach 80 Jahren ihren Geburtsort wieder sehen, erinnert  sich Ferhat, dass sich die Griechen zum Abschied versammelt und ihnen nachgeweint haben. Für die so Vertriebenen schuf man im Türkischen das Wort „die Ausgetauschten“. Ganze Landstriche wurden in beiden Ländern durch diesen „Austausch“ entvölkert und ein wesentlicher Teil des Kulturerbes vernichtet.
 
Auch der heute 85jährige Schriftsteller Yaşar Kemal (siehe auch den Artikel über ihn in dieser Ausgabe) beschreibt im Film wie in seinen Büchern das Schicksal von Vertriebenen - so in „Die Ameiseninsel“, das in dem Film eine Rolle spielt. Nicht immer waren Flüchtlinge in ihrer neuen Heimat willkommen, so Vasilis Kallatzis (91). Da sie aus Kleinasien kamen, wollte man sie auf Lesbos nicht haben und es kam in den ersten Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen mit den „Einheimischen“.
 
Vertreibung aus Istanbul
 
In Istanbul durften die Griechen zunächst noch bleiben, bis es im September 1955 nach blutigen Auseinandersetzungen auf Zypern zu einer Pogromnacht in Istanbul kam. Griechische Kirchen, Geschäfte und Häuser wurden geplündert und zerstört. Heute leben noch etwa 2.500 Griechen in Istanbul, vor 80 Jahren waren es 300.000. In den einst kulturell vielfältigen Vierteln der Stadt leben heute Landflüchtige aus Anatolien.
 
1986, so erzählt Mikis Theodorakis, wurde unter anderem von ihm und seinem türkischen Freund und Komponisten Zülfü Livaneli die erste Freundschaftsinitiative der beiden Völker gegründet. Ein Engagement, das für Theodorakis nicht ungefährlich war: Nach seiner Rückkehr nach Griechenland bezeichneten ihn viele als Verräter, manche wollten ihn hinrichten. Erst seit dem EU-Beitritt Griechenlands ist eine Veränderung spürbar,  vergleichbares gilt für die Türkei, die ja auch der EU beitreten will. Kulturelle Identität soll wieder respektiert werden, der Weg dorthin ist jedoch lang. Denn, so heißt es im Film: „Die Vertriebenen wird man kaum heim holen können.“
 
So können auch Mehmet Erkalmis und Ferhat Eris auf Lesbos zwar Spuren ihrer Kindheit und ihrer Familie suchen, aber sie müssen wieder aufbrechen. „80 Jahre nicht zu dem Ort gehen zu können, an dem du geboren wurdest, ist zu lang“, sagen sie. Der Besuch der beiden wurde durch die Unterstützung einer Stiftung aus Istanbul ermöglicht, die vor kurzem von ehemaligen Flüchtlingen und ihren Nachfahren gegründet wurde.
 
Die Musikerin Maria Farandouri sagt, dass Künstler sich nicht mit politischen Einzelheiten auseinandersetzen können. Doch mit Theater, Gedichten, Literatur, Liedern und Musik könnten sie Einfluss ausüben. Sie ist gemeinsam mit Mikis Theodorakis und Zülfü Livaneli diesen Weg gegangen. Nach ihrer Einschätzung gab es in den letzten 20 Jahren einige wunderbare Kooperationen. „Unser Volk ist dem türkischen viel zu sehr verwandt“, so Farandouri, „als dass wir Feinde sein sollten. Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen uns. Die Art wie wir uns freuen, wie wir singen, wie wir uns ausdrücken, die Art wie wir essen, sogar unsere Speisen sind gleich. Letztendlich schwimmen wir alle gemeinsam im Leben.“
 
Sophia und Osman Okkan
Regisseur Osman Okkan und Moderatorin
Sophia Georgallidis | Foto: Adnan Keskin
Nach dem Film erklärte Osman Okkan dem Publikum seine Beweggründe für diesen Film. Er seiin Istanbul zu einer Zeit und in einer Gegend groß geworden sei, in der mehr Juden, Griechen, Armenier als Türken dort gewohnt haben. Dass dies später nicht mehr so war, musste er feststellen, als er nach vielen Jahren aus Deutschland zurückkehrte und das Viertel völlig verändert vorfand. Die „fremden“ Kulturen waren vertrieben und er wollte dem auf den Grund gehen. Anlässlich des 80sten Jahrestages des Lausanner Vertrages 2003 zeigte sich Arte interessiert und die Arbeiten an dem Film konnten beginnen. Seiner Ansicht nach könnten im Umgang mit Vergangenheitsbewältigung Griechen, Türken, aber auch andere viel von den Deutschen lernen, gerade die Türken, die Jahrhunderte lang andere Völker unterjocht haben.
 
Kontrovers wurde eine Frage im Zusammengang mit der Intellektuellenszene in Istanbul diskutiert: Warum sind die Intellektuellen nicht gegen die Vertreibungen vorgegangen. Es sei wichtig die Möglichkeiten abzuschätzen; noch wichtiger sei aber der gegenwärtige Umgang mit „den Anderen“. Und, so ergänzte Okkan, man solle nicht vergessen, dass autoritäre Systeme andere Interpretationen natürlich nicht zulassen.
 
In beiden Ländern nicht im Fernsehen
 
Auf die Frage, wie der Film in Griechenland und der Türkei aufgenommen wurde, fiel die Antwort ernüchternd aus. In beiden Ländern ist der Film trotz vieler Versuche nicht im Fernsehen gezeigt worden. Das Interesse und die Bemühungen waren in Griechenland wohl noch größer, aber bis auf einige kleine Veranstaltungen wurde er auch dort nicht gezeigt. Widerspruch kam vor allem aus der Türkei.
 
Die Frage nach einer Neuschreibung der Geschichtsbücher in beiden Ländern wurde ebenfalls negativ beantwortet. In Griechenland sei man schon fast so weit gewesen, musste nach politischem Widerstand die geplanten Bücher aber wieder zurücknehmen. Laut Osman Okkan ist dadurch ein erster Schritt in Richtung Frieden zwischen den beiden Staaten vertan worden. (PK)

Online-Flyer Nr. 177  vom 17.12.2008

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