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Aktueller Online-Flyer vom 08. Mai 2024  

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Literatur
Kurzgeschichte
„Selma Braun“
Von Katja Kutsch

Selma Braun wirft ein Stück Würfelzucker in ihren Kaffee, nur eins, weil ihr Diät-Plan nicht mehr als zehn Kalorien zulässt. Der kleine quadratische Luxus, den Selma sich gönnt, um der Fadheit eines verregneten Morgens etwas Süße zu verleihen, hinterlässt hässliche braune Spritzer auf dem Unterteller. Selma wischt sofort mit dem Zeigefinger über das Porzellan.

kaffeetasse Würfelzucker  Foto: Tim Boyd sassi pixelio.de
Spritzige Kalorien: sind das schon mehr als   
zehn?! | Fotos: Tim Boyd/sassi, pixelio.de
Aus dem Wohnzimmer lärmt die Stimme des Moderators vom Frühstücksfernsehen; irgendetwas über Brustvergrößerungen. Selma hört nicht hin, weil sie mit der Größe ihrer Brüste zufrieden ist, und wirft stattdessen einen prüfenden Blick auf die Rosen der Nachbarin, an denen sie nicht ohne Genugtuung welke Köpfe entdeckt. Ihre Augen wandern weiter über den Gartenzaun von gegenüber, an den Fliederbüschen entlang, über den BMW von Herrn Soundso hinweg und bleiben an dem Schild mit dem Straßennamen darauf hängen. Fliederweg. Hier wohnt die Idylle, gefangen zwischen Rhododendron und Azaleen. Fliederweg, hier wohnen auch der Bürgermeister, der Chefarzt, der Stadtdirektor und Selma, seine Frau, die mit dem Namen ihrer Großmutter auch ihr wohlbehütetes Leben geerbt zu haben scheint.

Selma stellt ihre Tasse in die Spülmaschine und schiebt den Stuhl an den Tisch. Wenn sie das Altpapier jetzt zum Container fährt, ist sie zur nächsten Talkshow wieder da. Ein guter Plan, weil sie auf dem Rückweg an der Drogerie halten und sich einen Nagellack kaufen könnte, gleich nebenan im Supermarkt würde sie einen Salatkopf aussuchen, könnte sich während des Mittagsmagazins die Nägel lackieren und nach der letzten Gerichtsshow das Abendessen vorbereiten.

Selma steigt in den Wagen und wirft einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, der schonungslos Sicht auf die Falten um ihre Augen freigibt. Dass sie mit vierzig immer noch eine attraktive Frau ist, steht außer Frage; man möchte sie sich vorstellen, wie sie früher den Jungs den Kopf verdreht hat, wie sie fröhlich mit ihnen zusammen ein nächtliches Picknick am See veranstaltet und mit dem Bewusstsein über ihren besonderen Charme nur demjenigen die Lippen zum Kuss gespitzt zuwendet, der es schafft, sie gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen zu bringen. Aber das ist lange her.

Die Wolken sind weiter gezogen. Es regnet jetzt woanders, und Selma ist froh darüber, weil sie nicht möchte, dass der Regen ihre Frisur ruiniert. Als sie ein paar Kreuzungen weiter ihren Wagen neben dem Altpapiercontainer parkt und aussteigt, tritt ihr Fuß auf einen Gegenstand, der durch den Regen glitschig geworden ist. Wie auf einer Eisbahn verliert Selma den Halt, fällt hin und landet auf dem Hintern.

Salinger, "Der Fänger im Roggen" Graphik: Heinrici
         Graphik: Christian Heinrici
Nachdem sie den ersten Schreck überwunden hat, kniet Selma sich hin, schimpft leise über die Unachtsamkeit anderer Leute und greift nach dem Gegenstand. Die Stolperfalle entpuppt sich als ein dünnes Taschenbuch, das in einer Folie, einem Frühstücksbeutel oder einer Gefriertüte, verpackt ist. „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger steht auf dem schlichten grünen Cover. Selma zieht das Buch aus der Folie und schlägt die erste Seite auf: Impressum, Auflage, Autor, Übersetzer. Und dann steht da noch: Andreas Mey, Philipstr. 24, bitte bringen Sie es zurück, es ist lebenswichtig! Die Handschrift ist krakelig wie die eines Kindes. Sie schlägt das Buch wieder zu. Lebenswichtig schallt es in ihrem Kopf, das Wort fühlt sich fremd an. Was ist lebenswichtig an einem Buch? 

Selma lenkt den Wagen in den Teil der Stadt, der sie immer schon geängstigt hat; die Straßen sind uneben, die Häuser alt und hässlich wie graugesichtige Mumien; es scheint nie richtig hell zu werden. Deshalb gibt es hier auch keine Rosen und keine Buchsbäume. In der Zeitung berichten sie manchmal von Gangs, die hier mit Drogen handeln. Oder schlimmer noch, mit Waffen.

Selma parkt den Wagen vor der Nummer 24, steigt aus und schließt ab. Weil sie sich unbehaglich fühlt, zögert sie einen Moment, entschließt sich aber schließlich doch dazu, das Buch zurückzubringen. Lebenswichtig muss eine Bedeutung haben.

Als sie im zweiten Stock vor der Tür steht, auf der ein selbst beschriebener Aufkleber den Namen Mey preisgibt, denkt Selma kurz daran, das Buch einfach auf die Hausmatte zu legen und zu verschwinden, aber als sich die Türe schließlich öffnet, kann sie nicht anders, als zu blieben. Vor ihr steht ein Rollstuhl, ein Junge, vielleicht siebzehn oder achtzehn, sitzt darin. Er sieht angespannt aus, die Hände umklammern die Räder, und seine Augen starren ins Leere.

„Kommen sie bitte rein, wer immer sie auch sind. Sie sind eine Frau nicht wahr? Eine teure Frau. Chanel No. 5, hab ich Recht?“
Die Stimme, die aus dem schmächtigen Brustkorb tönt, ist sanft und freundlich. Der leere Blick aber hindert Selma am Antworten.
„Sie brauchen kein Mitleid zu haben. Bin ja selbst Schuld an meinem Zustand. Probieren sie niemals Bungeejumping aus. Aber jetzt kommen sie doch bitte rein!“

Selma schweigt immer noch und folgt dem Jungen, der sich trotz des Stuhls wendig wie eine Katze durch den schmalen und mit vielen Kommoden voll gestellten Flur bewegt, während er leise flüsternd die Umdrehungen seiner Räder mitzählt, bis sie in das für Selmas Geschmack abscheulich eingerichtete Wohnzimmer gelangen. Der Junge, der sich als Andreas vorstellt, weist ihr einen Platz auf einem Sofa aus rotem Plastikleder zu.

„Hätte nicht gedacht, dass es so lange dauert. Hab es letzte Woche, als meine Mutter sich mal erbarmt hat, mich spazieren zu fahren, einfach irgendwo fallen gelassen“, fährt er fort. Seine Stimme klingt beinahe unbekümmert. Dann rollt er vorsichtig näher und bittet Selma, sie berühren zu dürfen, um sich ein Bild von ihr machen zu können, wie er selbst sagt. Selma nickt ganz automatisch, ärgert sich aber sofort über ihre Ignoranz und ruft laut und deutlich „Ja.“

Andreas tastet über ihr Gesicht; ganz sachte befühlen die Fingerkuppen ihre Wangen, streichen über die Nase, die Oberlippe, kreisen über das Kinn. Selma schließt ohne darüber nachzudenken die Augen und umklammert das Buch, das sie immer noch in ihren Händen hält.

„Liest du es mir vor?“ fragt der Junge.
Er ist blind, denkt Selma, es wäre eine nette Geste. Dann denkt sie an ihren Plan, an die Gerichtsshows, an den Salatkopf und an den Nagellack.
„Bitte!“ fleht Andreas, und Selma hört auf zu denken, schlägt das Buch auf und fängt an zu lesen.

Sie liest die erste Seite, ohne zu stocken, dann die zweite, die dritte und auch die vierte, während sie versucht, sich diesen Holden Caulfield vorzustellen. Er ist so ungestüm, denkt sie, stellt so vieles in Frage. Ab und zu wirft sie einen Blick auf Andreas, der zufrieden lächelt, ein Lächeln, das sich eingräbt. Selma liest weiter, bis sie die letzte Seite aufschlägt und sie ganz vergessen hat, wie sie eigentlich hergekommen ist.

Der nächste Morgen trägt das gleiche Gesicht wie der vorangegangene. Es regnet wie aus Eimern. Ihre Nachbarin sitzt auf dem Küchenstuhl und schnattert wie eine verrückt gewordene Gans, schimpft über die Politiker, die es ihrem Mann wieder mal nicht recht machen und er sie deshalb mit seiner schlechten Laune ansteckt. Es wäre ja alles so schrecklich. Das Geld würde auch immer weniger wert. Die Preise für Immobilien wären gestiegen.

Selma hört nicht hin. Sie denkt an das Buch, das sie gelesen hat, wie es sie aus ihrer Welt reißt und den Nagellack vergessen lässt. Dann denkt sie an das Lächeln, wie es ihren Verstand flutet und die Buchsbäume, die ihr wichtig schienen, ertränkt. Ihre Nachbarin schnattert weiter. Holden, denkt Selma, hätte längst die Flucht ergriffen. Und Andreas auch, wenn er könnte.

„Dein Gemecker deprimiert mich“, sagt Selma zu ihrer verdutzten Nachbarin, steht auf und macht sich auf den Weg in die Philipstraße.

Lesen aufgeschlagenes Buch Foto: Lotree pixelio.de
Foto: Lotree, pixelio.de                                         
Sie lesen. Eigentlich liest nur Selma und Andreas hört zu, aber die Welten, die sie sehen, sind dieselben. Sie trauern um das tapfere Pferd auf der „Farm der Tiere“, sie streifen mit Robinson und Freitag über eine entlegene Insel und verstecken mit Guy zusammen Bücher, um sie vor dem Feuer in „Fahrenheit 451“ zu retten. Sie reisen, ohne die Koffer zu packen, und wenn sie keine Lust mehr haben, schiebt Selma Andreas hinaus auf die Straße und beschreibt ihm die Umgebung. Mit der Zeit werden ihre Erzählungen immer farbiger, sie findet Worte, die sie selbst nicht in ihrem Kopf vermutet hat, völlig planlos, wild und frei. Häuser und Autos, Menschen und streunende Katzen, Pfützen in Asphaltlöchern und umgeworfene Mülltonnen werden zu Schlössern und Kutschen, Helden und Monstern, Seen und Schatztruhen.

Manchmal nimmt Selma auch Platz auf seinen toten Beinen, und sie rollen die leicht abschüssige Straße entlang. Selma gibt die Richtung vor, und Andreas ist der Motor, der die Räder bewegt. Sie werden immer schneller, und Selma ist begeistert, weil es ihr so verrückt vorkommt, dass sie glaubt, zwei Menschen hätten auf dieser Welt noch nie etwas Verrückteres getan.

An einem Nachmittag, an dem die Sonne es kaum mehr schafft, sich über die herbstlichen Baumkronen zu schieben und der Wind die letzten Blätter durch die Straßen jagt, um Platz für den Winter zu machen, steht Selma wie fast an jedem Nachmittag voller Vorfreude vor der verkratzten Tür. Drei Monate ist es her, dass sie das Buch gefunden hat. Selma läutet und denkt darüber nach, die Buchsbäume vor ihrem eigenen Haus in Form von Tierköpfen zu beschneiden, weil ihr die Symmetrie so entsetzlich öde vorkommt. Vielleicht Pferdeköpfe oder eine Gans, denkt sie lächelnd und nimmt sich vor, Andreas zu fragen, was er davon halte.

Die Türe öffnet sich gleich in dem Moment, als Selma die letzte Treppenstufe nimmt. Andreas sitzt in seinem Rollstuhl, den Kopf gesenkt, damit sie nicht sieht, dass er geweint hat.
„Wir ziehen weg“, flüstert er, „Mamas Typ muss wegen des Jobs in eine andere Stadt. Sie will unbedingt, dass wir mitgehen. Sie kann ohne ihn nicht leben, sagt sie.“

Selma nimmt Andreas in den Arm und streichelt ihm über den Kopf. Sie ist wütend auf diese Frau, die sie nicht kennt, die rote Plastiksofas kauft und nie zu Hause ist. Warum kümmert sich eine Mutter nicht darum, dass es ihrem Sohn gut geht?

„Scheiße!“ flucht Andreas, „immer läuft alles scheiße. Weißt Du, dass damals nach dem Sprung alle meinten, ich hätte einen Schutzengel gehabt? Ein Scheiß-Schutzengel ist das. Eine verlogene Ratte. Wenn ich den jemals erwische, reiß ich ihm seine Scheißflügel aus.“

Sie ist fertig. Selma hat aus einem der Buchsbäume einen Engel geschnitten, ein wenig windschief, aber für den Anfang nicht übel. Sie beschreibt Andreas die Form seiner mächtigen Flügel, während sie ihre Hände mit nach Rosen duftender Creme einreibt. Selma Braun ist unglaublich stolz auf sich. Dass sie einen großen Sack Zement herbeigebracht und ohne fremde Hilfe den Hauseingang mit einer Rampe versehen hat, hätte ihr niemand zugetraut. Ihr eigener Mann meinte, dass er sie kaum wiedererkennen würde, aber ihre plötzliche Leidenschaft, ihr unbändiger Wille und ihr Tatendrang beeindruckten ihn, weshalb er stumm seine Zustimmung gab, als sie sagte, ihr Haus hätte zu viele leere Räume für nur zwei Personen. Jeglicher Widerstand wäre ohnehin zwecklos gewesen. Weder ihr Ehemann, noch die Frau, die rote Plastiksofas kauft und ohne ihren Freund nicht leben kann, hätten Selma von ihrem Ziel abbringen können.

Obendrein hatte sie einen perfiden Entführungsplan ausgeheckt. Natürlich hat Selma sich für einen offiziellen und legalen Weg entschieden, aber allein der Gedanke an solch ein Abenteuer hat ihr zwei Tage lang große Freude bereitet. Andreas muss immer noch lachen, wenn sie wieder und wieder erzählt, wie sie im Tarnanzug durch die Philipstraße schleicht.

„Ich wusste ja gar nicht, dass du solch eine kriminelle Ader besitzt“, sagt er, die Hände auf dem Küchentisch ruhend, der ganze Berge von Büchern auf sich trägt. „Das wusste ich selbst nicht. Das und so vieles andere auch nicht“, antwortet Selma und schlägt ein neues Kapitel auf.

"schützenfest" erzählugen von Katja Kutsch Landpresse
                                                        




Katja Kutschs Erzählung
„Selma Braun“
erschien in dem Band
„Schützenfest“, Erzählungen
Verlag Landpresse


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(CH)



Katja Kutsch
Foto: privat                     
                       
Katja Kutsch, geboren 1976, lebt und arbeitet in Hürth bei Köln. Seit 1987 veröffentlichte sie in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien. Die Autorin erhielt Preise für ihre Literatur, erreichte den 3. Platz beim Holzhäuser Heckethaler 2004 für „Schützenfest“ und den 1. Platz beim DeLiA-Kurzgeschichtenwettbewerb 2006 für ihre Erzählung „Luftschloss“.

Eigene Publikation: „Schützenfest“, Erzählungen
(Verlag Landpresse, 80 Seiten, ISBN: 3-935221-75-4)


Online-Flyer Nr. 176  vom 10.12.2008

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