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Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

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Globales
Reportage über die diesjährigen Preisträger der Carl-von-Ossietzky-Medaille
„Wir brauchen den friedlichen Widerstand“
Von Philipp Holtmann

Wenige Themen im israelisch-palästinensischen Konflikt sind so umstritten wie die Frage nach der Legitimität und Art und Weise von „Widerstand“. Die Kernfrage dabei ist: Wo hört legitimer Protest auf, und wo beginnt Terrorismus? „Widerstand“ wird oft als Legitimation für Gewalt benutzt. Sicher, doch es gibt auch eine tief verwurzelte Tradition des friedlichen Widerstands in den Besetzten Palästinensischen Gebieten, die an Dorfgemeinschaften gebunden ist. Philipp Holtmann sprach noch in Israel mit den diesjährigen Preisträgern der „Ossietzky-Medaille“, die Redaktion.

Während der letzten fünf Jahre entwickelte sich in palästinensischen Dörfern entlang der einseitig von Israel gezogenen Grenze eine friedliche Protestbewegung. Ihr Ziel ist es, durch gemeinsame Demonstrationen mit israelischen Friedensaktivisten die unrechtmäßige Landenteignung zu stoppen, die durch den weit in die Palästinensischen Gebiete hereinreichenden Grenzstreifen vorangetrieben wird.

Uri Avnery
Uri Avnery
„Obwohl sie keine Basis in den israelischen und palästinensischen Gesellschaften haben, in denen die Mehrheit noch an Gewalt glaubt, ist dies für die Mitwirkenden Symbol der Zusammenarbeit und Frieden zugleich“, sagt Uri Avnery, langjähriger israelischer Friedensaktivist, über die gewaltlosen Proteste. Dies spiegelt sich auch in der Haltung palästinensischer Demonstranten wider. Viele sagen, dass sie zwar an gewaltlosen Widerstand glaubten, aber trotzdem bereit seien, zum bewaffneten Widerstand zurückzukehren.


Stellvertretend für die friedliche Widerstandsbewegung wird dem palästinensischen „Bürgerkomitee des Dorfes Bil'in“ und den israelischen Friedensaktivisten „Anarchisten gegen die Mauer“ Anfang Dezember in Berlin die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen. Die Internationale Liga für Menschenrechte (ILMR) vergab die traditionsreiche Auszeichnung damit zum 47. Mal seit 1962. Professor Fanny-Michaela Reisin, Präsidentin der Liga, begründete die Auszeichnung an die Organisationen: „Die Medaille wird stets für besondere Verdienste für die Verwirklichung der Menschenrechte und für Zivilcourage vergeben. Beide Gruppen beweisen dies, besonders in der Überwindung von Schranken in beiden Gesellschaften.“ Im Vorfeld der Medaillenverleihung, drei Tage vor dem 60-jährigen Jubiläum der Verkündung der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO-Generalversammlung, sprach Philipp Holtmann mit den ausgezeichneten Palästinensern und Israelis.

Treffen der Anarchisten gegen die Mauer Busbahnhof von Tel Aviv
  Treffen am Busbahnhof von Tel Aviv
Wir begleiten die israelischen Aktivisten auf ihrer Fahrt zur Demonstration nach Bil’in. Treffen ist um 10 Uhr morgens am Busbahnhof von Tel Aviv. Von hier aus geht die Fahrt in einem israelischen Sammeltaxi auf der Schnellstraße Nummer 446 vorbei an der israelischen Stadt Modiin, die nahe der „Grünen Linie“ liegt, der von der UNO 1967 bestätigten Teilungsgrenze zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten. Kurze Zeit später heißt es „aussteigen“, runter von der Schnellstraße und zu Fuß einige hundert Meter in östlicher Richtung auf einem Feldweg bis zum Ortsrand des palästinensischen Städtchens Saffa, das bereits in der Westbank liegt. Dort wartet ein Sammeltaxi, mit dem es weiter nach Bil'in geht.

„Das macht die Armee wahnsinnig...“

Oren, 23 Jahre aus Tel Aviv, und Mitglied der „Anarchisten“, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, erklärt die seltsame Art des „Grenzübertritts“: „Das Einschleichen ist ein wichtiges Element des gemeinsamen Widerstandskonzepts. Wir unterstützen den palästinensischen Widerstand von innen. Das macht die israelische Armee wahnsinnig! Denn es ist extrem schwierig, die Demonstranten auseinander zu halten. So muss sich die Armee viel vorsichtiger verhalten, als wenn nur Palästinenser da wären.“

Die „Anarchisten gegen die Mauer“, in Israel als radikale Außenseiter angesehen, gründeten sich 2003. Sie sind per Definition keine gewaltlose Gruppe, unter anderem, weil sie keine einheitliche Position zum Thema Gewalt beziehen. „Physisch üben wir zwar keine Gewalt aus, aber einige Mitglieder unterstützen es gedanklich, wenn Palästinenser als Antwort auf staatliche Gewalt Steine schmeißen“, sagt Sahar Vardi, 18 Jahre junge Aktivistin aus Jerusalem. „Der harte Kern der Bewegung besteht aus 100 Leuten“, berichtet Kobi Snitz, Sprecher der Gruppe. „In unserer Emailliste sind allerdings 400 Leute, jeder ist eingeladen, dazuzukommen. Wir vertreten keine politische Agenda, und uns geht es vorrangig um Widerstand gegen alle Formen der Besatzung. Pro Woche nehmen wir an drei bis vier Demonstrationen mit je 30 Leuten teil.“

Anarchisten gegen die Mauer am Zaun
Proteste israelischer und palästinensischer Aktivisten an Zaun und Mauer
Foto: Bürgerkomitee Bil'in

Oftmals schließen sich Friedens- und Menschenrechtler anderer israelischer Gruppen wie vom „Gusch Schalom“ („Friedensblock“), oder von der „Organisation zur Hilfe Politischer Gefangener“ den Aktionen der Anarchisten an. Die Demonstrationen starteten zeitgleich mit dem israelischen Baubeginn der Grenze, eines Sicherheitszaunes, der an einigen Stellen die Form einer bis zu acht Meter hohen Betonmauer annimmt, die Städte in der Westbank zu Gettos macht und vorrangig auf palästinensischem Gebiet, östlich von der 1967er Grenze, errichtet wurde. Laut „UNO-Büro für die Koordination humanitärer Angelegenheiten“ (OCHA) befinden sich mittlerweile 480 Quadratkilometer palästinensischen Landes, das sind 12,6 Prozent der Gesamtfläche der Westbank, westlich des Grenzverlaufs, also auf israelischer Seite. So wurden viele palästinensische Dörfer von ihrem Ackerland abgeschnitten.

Seit Gründung des Bürgerkomitees von Bil'in im Dezember 2005 und dem Beginn der Demonstrationen im Februar 2006 wurde das Dorf zum Zentrum der friedlichen Protestbewegung, dem sich auch die „Anarchisten gegen die Mauer“ anschlossen. Die Freitagsdemonstration in Bil'in ist in drei Jahren kein einziges Mal ausgefallen. Dies motivierte sowohl israelische Aktivisten zur Teilnahme als auch umliegende Dörfer zur Nachahmung. Die 1.800-Seelen-Gemeinde, 12 Kilometer westlich von Ramallah gelegen, wurde infolge des israelischen Sperrzauns von knapp 60 Prozent ihrer Olivenhaine und Felder abgeschnitten, die unverzichtbar für das wirtschaftliche Überleben des Dorfes sind.

Nachdem die israelische Armee im Sommer 2004 den Dorfrat über den Bau des Sperrzauns benachrichtigt hatte, riefen der Vorsitzende Ahmad 'Aysa Yasin und fünf andere Mitglieder des Rates, darunter Muhammad Abd al-Rahmah, alle Betriebe und Parteien des Dorfes zum Widerstand auf. Bei einem Treffen im September 2004 wurde die Gründung eines Bürgerkomitees vorgeschlagen, um sowohl rechtlich als auch durch Demonstrationen dem Bau des Sperrzaunes entgegenzuwirken. Das Dorf wählte für das Bürgerkomitee je einen Vertreter des Dorfrates, des Jugendclubs, der Fatah, der Volksfront, der „Nationalen Initiative“, der Hamas, des Frauenkomitees, sowie einige angesehene Persönlichkeiten. Dieser Prozess wiederholte sich in ähnlicher Form in anderen Dörfern wie Nil'in und Zawiyah.

Abdallah Abd al-Rahmah Bürgerkomitee Bil'in
Abdallah Abd al-Rahmah, der Koordinator des Bürgerkomitee Bil'in in Aktion
Foto: Philipp Holtmann

Ankunft in Bil'in


Koordinator des Bürgerkomitees Abdallah Abd al-Rahmah sitzt bei unserer Ankunft auf einem kleinen Stück englischen Rasen vor ihrem Zentrum, das an der Hauptstraße im Kern des malerischen Dorfes liegt. Ein kleiner Steinbrunnen, vervollkommnt das Bild. Doch das Idyll trügt. Der Brunnen ist trocken und steht symbolisch für den altertümlichen Namen des Dorfes „Bila 'Ayn“ – „Ohne Wasserquelle“. Nicht alles im Dorf läuft so perfekt, wie es aussieht. Auf Abdallahs Schoss liegt ein Laptop. Der 37-jährige mit Schnurrbart und in sportlichem Polohemd wirkt entspannt. Er bereitet den Pressebericht für die Freitagsdemonstration vor. Auf seiner Emailliste stehen hunderte Namen von Journalisten, Menschenrechtlern und Politikern. „Der Umgang mit den Medien ist entscheidend für uns, wir brauchen sie“, berichtet Abdallah. „Unsere Aktivitäten haben keinerlei Bedeutung, wenn niemand davon erfährt. Deshalb stehen wir in ständigem, engem Kontakt mit den Medien.“

Über die Entstehung des Bürgerkomitees in Bil'in erzählt Abdallah: „Zu Beginn des Volkswiderstands in Bil'in demonstrierten wir jeden Tag, denn auch die Bagger gruben jeden Tag. Unser Ziel war es, die Konstruktion der Grenzbarriere zu behindern und zu verzögern, was auch gelang. Nachdem die Barriere schließlich doch konstruiert worden war, wechselten wir zu wöchentlichen Demonstrationen.“ Die dänische Aktivistengruppe „Free Palestine“, die dem „International Solidarity Movement“ (ISM) nahesteht, bezeichnet al-Rahmah als „palästinensische Gandhis“. Der israelische Armeesprecher äußerte sich auf meine Anfrage nicht zu den israelisch-palästinensischen Demonstrationen. Die Armee hatte al-Rahmah schon dreimal verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, die Sperrstunde zu brechen, Steine zu schmeißen und Soldaten die Waffe zu entreißen. „Das ist eine Lüge!“, sagt er zu den Vorwürfen.

Bil’in war nicht der erste Ort, der friedliche Proteste gegen den Bau des Zaunes auf seinen Feldern und Olivenhainen initiierte. Abdallah erklärt: „Wir wurden von Widerstandsdörfern beeinflusst und hatten später mit unserer Initiative auch starken Einfluss auf benachbarte Dörfer wie Nil'in, Ma'sra, Um Salmunah und Khadar. Die Bewohner kamen zu uns und lernten von unserem Versuch, dann gingen wir zu ihnen, erklärten und übten auf Grundlage unseres Experiments, nahmen an den ersten Demonstrationen in ihren Dörfern teil, und bis jetzt kommen sie weiterhin zu uns oder wir zu ihnen. Leider halten sich Jugendliche nicht immer an die Regeln und schmeißen auch Steine, nach gemeinsamen friedlichen Demonstrationen.“

Abu Sa'id auf Demonstrationszug
Abu Sa'id auf dem Demonstrationszug             
Foto: Philipp Holtmann
Die Verlautbarungen des Bürgerkomitees sprechen die Sprache eines marxistisch-leninistischen Erbes und erinnern an die politische Denktradition palästinensischer Gruppen der 60er Jahre. Es wird vom „Volkswiderstand aller Schichten der Gesellschaft“ gesprochen. Doch in den letzten dreißig Jahren vollzog sich in der palästinensischen Gesellschaft eine starke Islamisierung und Spaltung in säkulare und religiöse Strömungen. Bis zum Wahlsieg der Hamas im Januar 2006, wurde das Bil’iner Bürgerkomitee durch ein Zentralkomitee aus Ramallah unterstützt, das der Fatah nahestand, was jedoch nach dem Wahlsieg aufhörte. Abu Sa'id, der aus einem anderen Dorf zu den Demonstrationen kommt, unterstützt die Jabhat al-Nidal, die „Palästinensische Volkskampffront“, die sich im Streit mit der Fatah befindet. Andere Mitdemonstranten unterstützen die Hamas. „Doch diese Unterschiede sind im Kontext der friedlichen Demonstrationen egal“, sagt Abu Sa'id. Um alle Dorfmitglieder und Unterstützer parteiübergreifend zur Freitagsdemonstration zu motivieren, beginnt diese immer erst nach dem Mittagsgebet.  

Das muslimische Freitagsgebet ist zu Ende. Vor dem Gemeindezentrum finden sich die Demonstranten zusammen. Bunte Flaggen, Winkel, Fahnen tanzen leicht im Wind. Sprechchöre skandieren, „Wahda, Wahda Wataniyyah“, „Nationale Geschlossenheit“, und der Demonstrationszug setzt sich langsam in Bewegung. Viele der Demonstranten kommen aus dem Umland, aus Nablus, Ramallah, Tulkarem, um ihre Solidarität mit den Menschen in Bil’in zu bekunden. Abu Tahrir, aus Ramallah und Mitglied der Fatah, ruft: „Das ist für Palästina! Wir laufen alle zusammen“

Das Prinzip des „Sumud“: standhalten


Bakir Sulayman, 56, aus Jericho, ist religiös, kommt mit Frau und Sohn zum Gebet, danach zur Demo: „Fürchtet euch nicht, vorwärts!“ brüllt er lachend und aus vollem Halse, als sich der Zug in Richtung Sperrzaun in Gang setzt. Der Demonstrationszug nähert sich über einen idyllischen Feldweg dem Zaun, hinter dem große Teile des Ackerlandes von Bil'in liegen. Blaue Schafswölkchen ziehen träge über den Himmel. Je näher die Demonstranten der Grenzbarriere kommen, desto näher rückt das Ende.

Tränengas-Angriff auf die Demonstranten
Tränengas-Angriff auf die Demonstranten | Foto: Philipp Holtmann

Plötzlich die ersten Tränengasgeschosse. Die Luft wird bitter, dann sehr scharf, das Gas brennt am ganzen Körper. Die meisten Demonstranten weichen vor dem beißenden Gas zurück. Jüngere bleiben und werfen Steine auf den Grenzzaun. Auch dieses Mal geht der Protestzug nicht friedlich zu Ende. Es ist immer der gleiche Ablauf: erst die Warnungen der Armee, dann zünden sie Tränengas, schließlich schmeißen junge Palästinenser Steine.
           
Steine wirft Rani Burnat aus dem Ort keine. Der 28-jährige hat das Prinzip des „Sumud“, des „Standhaltens“, auf schmerzliche Weise verinnerlicht. Burnat wurde am 30. September 2000, zu Beginn der zweiten Intifada, schwer verletzt, als eine Kugel sein Rückgrat zerschmetterte. Seitdem ist an den Rollstuhl gefesselt. In dem roten mit Elektromotor betriebenen Gefährt sitzt der frisch verheiratete Mann mit eisernem Gesicht inmitten der Tränengasschwaden, während andere mit schmerzverzerrtem Gesichtern an ihm vorbei hetzen. „Kugeln kennen keine Unterschiede zwischen Juden, Palästinensern und Fremden“, sagt Burnat lakonisch, als ich ihn frage, ob er keine Angst habe. Für Burnat gibt es keine Alternative zum friedlichen Protest: „Die zweite Generation der Intifada erkennt langsam, dass mit Kraft nichts läuft. Deshalb brauchen wir den friedlichen Widerstand.“

Rani Burnat Bil'in palästinensischer Rollstuhlfahrer 2. Intifada
Burnat hält auch später im Tränengasnebel stand | Foto: Philipp Holtmann
           
„Wir müssen einen sehr hohen Preis für Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit bezahlen“, sagt Hassan Moussa. Sein 11-jähriger Neffe wurde Ende Juli bei einer Demonstration in benachbarten Dorf Nil'in erschossen. Der Vater ist noch nicht zum Interview bereit. „Wir waren alle niedergeschmettert beim Tod meines Neffen, es war grauenhaft. Aber der friedliche Widerstand geht weiter“, meint Moussa. Achmed war das zwölfte Todesopfer seit Beginn der Demonstrationen im Jahre2003 in den „grenznahen“ Dörfern. Für Burnat steht fest: „Die friedlichen Demonstrationen funktionieren nur mit Unterstützung der israelischen und ausländischen Teilnehmer. Die Armee fürchtet, mit Echtmunition zu schießen, wenn Juden und Fremde anwesend sind!“
          
Ob das Prinzip des gewaltlosen Widerstands gegen kontrollierte staatliche Gewalt Israels und gegen gewaltbereite Kräfte in den besetzten palästinensischen Gebieten obsiegen kann, und ob diese Idee in den beiden Gesellschaften Früchte tragen kann, wird die Zukunft zeigen. Doch, wenn es dazu kommt, werden sowohl die Friedensaktivisten als auch die Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille ihren Beitrag dazu geleistet haben. (CH)


Die Reportage von Philipp Holtmann erschien im Original in der „Jüdischen Zeitung“.

 



Online-Flyer Nr. 176  vom 09.12.2008

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