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Aktueller Online-Flyer vom 19. Mai 2024  

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Lokales
Zwischenbericht über Kriegsgegner, die Opfer der NS-Militärjustiz wurden
Denkmal für Kölner Deserteure – Teil II
Von Malle Bensch-Humbach

Wie jedes Jahr findet auch am kommenden 27. Januar in der Antoniterkirche eine Gedenkveranstaltung statt: Kölner Bürger gedenken der Opfer des NS-Regimes. Diese Veranstaltung geht ursprünglich auf die Initiative einzelner Bürger zurück, wird aber heute von einem breiten Bündnis zahlreicher Gruppen, Parteien und Organisationen getragen, die sich trotz unterschiedlichster politischer und weltanschaulicher Ansichten im Gedenken an die NS-Opfer einig sind und nächstes Jahr ein Deserteur-Denkmal vor dem EL-DE-Haus aufstellen wollen. Dafür wird jetzt um Spenden geworben.

Kölner Deserteur Eberhart Tresselt im NRhZ-Interview (siehe Ausgabe 118)
Foto: gesichter zeich(ch/g)en


Rund 60 Prozent der Deserteure, die bisher bei den Recherchen über die Kölner Region verifiziert werden konnten, verschwanden an der Front. Dabei entstand für die NS-Justiz das Problem, die aktiv Fahnenflüchtigen von den gefangen genommenen oder getöteten Soldaten abzugrenzen. Und selbst bei gefangenen Soldaten ist oft unklar: wurde der deutsche Soldat von den Gegnern überrascht und überwältigt oder hatte er sich freiwillig in Gefangenschaft begeben, um nicht weiter kämpfen und töten zu müssen?
 
Durch langwierige Ermittlungen, Verhöre von Mitsoldaten, Beweisaufnahmen in Stellungen, mit Skizzen des Vorfalls, mittels Landkarten, militärischen Lageberichten und Leumundszeugnissen versuchte man zu rekonstruieren, was vorgefallen sein könnte. In Einzelfällen konnten sich diese Recherchen über Monate, ja länger als ein Jahr hinziehen. Die NS-Militär-Justiz schien bemüht, den Anschein einer fairen und objektiven Aufklärung zu wahren. Offenbar wollte man auch die Stimmung in der „Truppe“ nicht trüben, indem man grundlos gefangene oder gar getötete Soldaten als Vaterlandsverräter bezichtigte, ihren Familien die finanzielle Unterstützung entzog.
 
Neben der Fahnenflucht aus der vordersten Linie, aus Kampfstellungen oder beim Wachestehen boten Fahrten eine Chance zur Desertion. Soldaten setzten sich auf der Fahrt in den Urlaub ab, verschwanden auf der Rückkehr zur Front, wenn sie ins Lazarett, zum Arzt gebracht wurden, bei der Verlegung ihrer Einheiten. Auf den Transporten konnten sie sich der Kontrolle entziehen, sich Chaos und zusammenbrechende Strukturen zunutze machen. Ihre Flucht blieb zunächst häufig unbemerkt, die Fahndung wurde verspätet eingeleitet. In einigen Fällen verschwanden mit den Soldaten gemeinsam ZivilistInnen aus den besetzen Ländern. Die verfügten über Orts- und Sprachkenntnisse, unterstützten die untergetauchten Freunde.
 
Eine etwas kleinere Gruppe der bisher bekannten Fälle von Deserteuren aus der Kölner Region bilden diejenigen, die zu Hause untertauchten. Rund 40 Prozent der Soldaten versuchten, sich in vertrauter Umgebung zu verstecken, ihnen dienten Keller und Trümmer als Unterkunft. Je weiter der Krieg fortschritt und je aussichtsloser die Lage war, desto mehr Soldaten verschwanden zuhause, kehrten aus dem Urlaub einfach nicht mehr zurück.
 
Zeitpunkt der Desertion
 
Am Diktum, aus einer siegreichen Armee desertiere niemand, scheint etwas Wahres dran zu sein.  Jedenfalls waren in den ersten Kriegsmonaten Desertionen selten. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass in den besetzten Gebieten die Gefahr bestand, von der vorrückenden Wehrmacht überrannt und gefangen genommen zu werden. Dagegen ergab sich beim Rückzug die Möglichkeit, indem man nicht mit abzog, sich den Gegnern in die Hände zu geben. Zudem konnten die Deserteure gegen Kriegsende auf die allgemeine Konfusion, den Zusammenbruch von Verwaltungs- und Verfolgungsstrukturen hoffen.
 
Annäherung an die Gründe

Bei der weiteren Interpretation der Akten und Briefe, des Verhaltens der Deserteure, werden einige Motive deutlicher sichtbar. Ein zentraler Grund ist: einfach lebenzu wollen. Und romantische Geschichten zeigen, daß Liebe die Lebensgeister weckte. Wer sich im besetzten Land Hals über Kopf verliebte, eine Freundin fand, enge Beziehungen einging, der mochte sich offenkundig nicht mehr so gern töten oder verletzen lassen.
 
Der verlorene Krieg, die aussichtslos gewordene militärische Lage lieferten weitere gewichtige Argumente. Nicht mehr in letzter Minute sterben wollen, bildete den Refrain im Winter 1944 und den Frühlingsmonaten des Jahres 1945. Oder wie Gefreiter Wilhelm B. angesichts der amerikanischen Invasion bemerkt haben soll: „Ich wäre ja schön dumm, wenn ich mich zusammenschießen lassen würde, lieber gehe ich gleich zum Tommy oder stiften.“
 
Neben der privaten Kosten-Nutzenanalyse stranden die brutalen Kriegserlebnisse. Die Soldaten hielten es einfach nicht mehr aus. Und sagten es auch so. „Halte es nicht mehr aus“, „Ohne mich“ oder „ Die Herrschaften müssen alle gehenkt werden, da hat man es in Gefangenschaft besser“. Aus den - noch schemenhaften - Bildern der Deserteure erscheint die Desertion als eine Rebellion des Lebens gegen den Krieg. Im Zentrum steht der menschlich-persönliche Akt, nicht das politische Fanal.
 
Die Urteilspraxis
 
Im Folgenden schildern wir die Urteilspraxis und versuchen, an Hand einiger Fälle die Besonderheiten vor allem der Todesurteile herauszuarbeiten. Vielleicht zuerst ein Hinweis auf die Gerichte und die Orte, an denen in Köln Todesurteile ausgesprochen und vollstreckt wurden. Es handelt sich dabei um das Gericht der Division 156, das dann abgelöst wurde vom Gericht der Division 526. Für beide Gerichte haben wir als Adresse sowohl Spichernstraße 30 wie auch Belfortstraße 9 gefunden. Die Angeklagten saßen entweder im Gefängnis Klingelpütz oder im Wehrmachtsgefängnis Mülheim in der Grünstraße. Die Hinrichtungen mit dem Fallbeil fanden im Klingelpütz statt, die Erschießungen auf dem Schießplatz in Köln-Dünnwald, einige auch in Frechen-Bachem.

Kölnansicht Klingelpütz
Kölner Gefängnis Klingelpütz vor dem Abriss in den 1960er Jahren
Foto: NS-Dok


Es wurde schon drauf hingewiesen: Urteile sind Täterakten. Das springt besonders ins Auge, wenn man sich etwa die Sprache der Beurteilungen und Personalblätter, die man in den Untersuchungsakten findet, ansieht, erst recht die Sprache der Urteile oder der Rechtsgutachten, die für die Bestätigung oder die Zurückweisung der Urteile angefertigt wurden. Hier einige Beispiele für militärische Beurteilungen: Feldwebel Gerhard H.: „Undurchsichtig, unangemessenes Selbstbewusstsein, leicht reizbar, Hang zur Weiblichkeit.“ Pionier Kurt K.: „mürrischer, unsteter Mensch, verschlossen und undurchsichtig, nachlässig; Führung: mangelhaft, dienstliche Kenntnisse und Leistungen: mangelhaft.“ Schütze Franz B.: „verschlossener Charakter, hinterhältig und Drückeberger. Führung mangelhaft.“ Schütze Karl S.: „undurchsichtiger Charakter, ohne inneren Halt.“
 
In einem Rechtsgutachten über einen Fahnenflüchtigen, der sich mit Betrügereien am Leben gehalten hatte, konnte das dann so klingen: „Der Angeklagte ist seiner ganzen Persönlichkeit nach wehrunfreudig und war ohne ständige, strenge Aufsicht als Soldat nicht brauchbar. ... Er ist überdies ein unverbesserlicher, asozialer Mensch. ... Im Übrigen ist nochmals zu prüfen, ob der Angeklagte nicht auch als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher der Todesstrafe verfallen ist ... Auch als Volksschädling hat er nach gesundem Volksempfinden die Todesstrafe verdient.“ Diese Formulierungen finden sich wortgleich im anschließend gefällten Urteil.
 
Dieses Zitat ist vielleicht ein Extrembeispiel, aber es verdeutlicht in besonderer Weise die Rechtsprechung - allerdings nicht nur der militärischen Strafjustiz: im Vordergrund stand weniger die Schwere des Delikts als vielmehr die Täterpersönlichkeit, die nicht dem nationalsozialistischen Menschenbild entsprach.
 

Ab Herbst 2009 soll hier zwischen Gericht und EL-DE-Haus anstelle der Reklamesäule das Denkmal für Kölner Deserteure stehen. | Foto: NS Dok

 
Eine Rolle bei der Einschätzung der Täterpersönlichkeit konnten auch die Aussagen der Kameraden des Angeklagten spielen. Etwa im zuletzt zitierten Fall zum Beispiel äußerten sich mehrere Soldaten wenig positiv: „Er fiel eben öfter auf und gab dadurch Anlass zu Ermahnungen und Bestrafungen. ... Überhaupt stand er außerhalb der Kameradengemeinschaft. ... wegen seiner ständigen kleineren oder größeren dienstlichen Versäumnisse (waren wir) auf ihn nicht gut zu sprechen.“ „Im übrigen war er auch in der Kompanie schon etwas bekannt und dies nicht im günstigen Sinne. ... (Er) war eben ein nachlässiger Soldat.“ Und ein Unteroffizier ergänzte: “Er gab ständig Anlass zu erzieherischen Maßnahmen.“
 
Negative wie positive Einwirkungen von außen gab es auch von Seiten der zivilen Umgebung der Fahnenflüchtigen. Es gab Beispiele von Denunziation, laut einem Urteil sogar die Drohung der Ehefrau eines Soldaten, „selbst zu seinem Truppenteil zu gehen, um ihn dort anzuzeigen“. Vielleicht wollte sie aber auch verhindern, dass aus einer „unerlaubten Entfernung“ tatsächlich eine Fahnenflucht wurde. Schließlich wurde der Mann, wie es im Urteil heißt, „aufgrund einer Anzeige ... aufgegriffen und festgenommen“.
 
In einem andern Beispiel schrieb eine Ehefrau an den Vorgesetzten ihres in Norwegen stationierten Mannes, dessen Flucht sie geahnt haben musste: „Seine letzten Briefe waren aber nicht mehr alle klar abgefasst, gerade so als wenn er ein wenig geistesgestört gewesen sei“ - offenkundig ein Versuch, ihn vor einer eventuellen Bestrafung zu bewahren.
 
In andern Fällen halfen die Familien versteckten Soldaten, so im Fall eines Kölners, der nach der Entfernung von der Truppe im Keller eines fliegerbeschädigten Hauses gewohnt habe, wie es im Urteil heißt. Und weiter: „Für die Verpflegung sorgten die Ehefrau, die Eltern und sonstige Angehörige des Angeklagten.“
 
In den Akten findet sich wohl kein einziges Beispiel, wo die Eltern, Ehefrauen oder Verlobten der zum Tode Verurteilten nicht mit Gnadengesuchen versuchten, das Leben des Verurteilten zu retten - in den Fällen, die wir untersuchen konnten, übrigens nur ein einziges Mal mit Erfolg. Aus der Vielzahl von Gnadengesuchen nur das folgende in Auszügen: „An den Herrn Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, Berlin. Gnadengesuch meines Sohnes ..., der am 18.11.42 ... zu Tode verurteilt wurde. Möchte Sie als Mutter herzlich bitten, vom Todesurteil Abstand zu nehmen, und ihm lieber eine ordentliche höhere Zuchthausstrafe zu geben. Mein Sohn ist sich der Tragweite des Geschehenen nicht bewußt. Er ist noch solch ein junger Mensch, der sich bestimmt noch bessert. ... Bitte lassen Sie noch einmal Milde walten, und nehmen mir nicht meinen Sohn, der mein ganzes Leben bedeutet. Bitte fassen Sie den Brief so auf, wie ihn nur eine Mutter schreiben kann, die um das Leben ihres einzigen Sohnes kämpft.“
 
Nicht selten waren unerlaubte Entfernung oder Fahnenflucht mit andern Delikten verbunden, die Voraussetzung für das Entkommen oder Folge einer Desertion waren. So griff ein Grenadier, der wegen unerlaubter Entfernung bereits inhaftiert war, im Februar 1944 einen Unteroffizier in der Absicht an, ihn zu fesseln und dann zu entfliehen. Das Vorhaben misslang, der Grenadier wurde dennoch zum Tode verurteilt. Am häufigsten waren Urkundenfälschungen, z. B. von Urlaubsscheinen oder Personalpapieren, Diebstähle und Betrügereien, mittels derer sich Fahnenflüchtige Geld oder Lebensmittel verschafften oder sich unter fremdem Namen und ohne Miete zu zahlen, eine Unterkunft verschafften. In der Regel beeinflussten solche Folgedelikte nicht nur das Strafmaß, sondern wohl auch das Begnadigungsverfahren.
 
Allerdings finden sich auch Fälle, in denen sich Delikte, die im Zusammenhang mit Fahnenflucht oder Zersetzung der Wehrkraft begangen wurden, nur schwer beurteilen lassen. Ist das bei einer Vergewaltigung während der Flucht oder bei Kapitalverbrechen, die nicht aus Notwehr begangen wurden, noch möglich, so scheint dies etwa bei Bestechungsdelikten und Urkundenfälschungen in Wehrmachtsämtern doch recht schwierig. Meistens ging es dabei um Versuche, durch gefälschte Wehrpässe oder Tauglichkeitsbescheinigungen der Einberufung zu entgehen, was offensichtlich mit dem Andauern des Krieges und dem ansteigenden Bedarf an Soldaten zunahm. Unter den Todesurteilen des Kölner Divisionsgerichts 156 im Winter 41/42 finden sich gleich zwei Fälle mit diesem Hintergrund. So wurde ein ehemaliger Polizist, der eher aus Gefälligkeit zweimal einen Tauglichkeitsgrad manipuliert und dafür lächerlich geringe Geld- und Sachgeschenke angenommen hatte, hauptsächlich aus Gründen der Abschreckung verurteilt. In dem andern Fall handelt es sich dagegen um einen Mann, der bereits vor seiner Tätigkeit beim Wehrbezirkskommando Köln Urkundenfälschungen begangen hatte und bei dem wohl die Bereicherungsabsicht im Vordergrund stand. Aber dieser Beamte bewahrte sechs junge Männer zumindest eine Zeitlang vor dem Kriegsdienst. Wie würden wir dieses Verhalten heute bewerten?
 
Spielräume bei Prozessen
 
Wie in vielen andern Bereichen des Alltags im Nationalsozialismus gab es auch bei Kriegsgerichtsprozessen Spielräume. Die Todesstrafe musste nicht unausweichlich am Ende eines Verfahrens wegen Fahnenflucht oder Wehrkraftzersetzung stehen. Bei der Abgrenzung zwischen „unerlaubter Entfernung“ und Fahnenflucht musste das Gericht entscheiden, ob der Angeklagte die Absicht hatte, sich der Wehrmacht auf Dauer zu entziehen, oder ob er vorhatte, zurückzukehren oder sich zu stellen. Das heißt, es ging in erster Linie um die Bewertung der Glaubwürdigkeit des Angeklagten, die jedem Gericht einen gewissen Spielraum ließ. Eine besondere Rolle spielten hier, wie auch im Begnadigungsverfahren, die Gerichtsherren, meist Divisikonsgeneräle, und der Oberbefehlshaber, beim Ersatzheer also Generaloberst Fromm, ein späterer Verschwörer des 20. Juli.
 
So wurde in Aachen ein Angeklagter wegen des angeblichen Versuchs, sich der Einberufung zu entziehen, zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Dem zuständigen Gerichtsherrn, Generalleutnant Baltzer, erschien dieses Urteil jedoch nicht hoch genug, und statt es zu bestätigen, schickte er es „mit dem Ersuchen um erneute Aburteilung“ an das Gericht zurück, das dann ein Todesurteil aussprach. Ähnlich verlief das Bestätigungsverfahren in einem Kölner Fall, wo der Gutachter beim Oberkommando des Heeres ebenfalls die Todesstrafe anstelle einer Zuchthausstrafe beantragte. Generaloberst Fromm schloss sich dieser Urteilsverschärfung an, das Gericht gehorchte.
 
Wenig genaues lässt sich über die Begnadigungspraxis und vor allem über die Begnadigungsgründe sagen. Von den 30.000 Todesurteilen wurden 10.000 nicht vollstreckt, sondern in Zuchthausstrafen umgewandelt, und in vielen Fällen wurden aus Zuchthausstrafen auf dem Gnadenweg Gefängnisstrafen. In einem Fall, den wir untersuchen konnten, bei dem drei Soldaten aus der Arrestanstalt Elsenborn geflohen und die alle drei zum Tode verurteilt waren, wurde einer von Generaloberst Fromm „auf Grund der mir erteilten Ermächtigung“, wie es in der Urkunde heißt, zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren begnadigt, obwohl der Aachener Gerichtsherr und der Berliner Oberkriegsgerichtsrat die Todesstrafe befürwortet hatten. Im Gegensatz zu den beiden anderen Verurteilten war der Begnadigte nicht vorbestraft, hatte nur wenige Disziplinarstrafen und hatte auch keine Folgedelikte begangen - das dürfte der Grund für die Begnadigung gewesen sein. Aber mit Gewissheit lässt sich das nicht sagen. Spielraum und Willkür liegen eben dicht beieinander.

Alltagsleben an der Front und zuhause


Das Studium der Akten lässt auch das Leben an der Front deutlich werden. Die Akten zeugen von körperlicher und psychischer Überbeanspruchung, zum Beispiel bei nächtelangen Märschen durch Matsch und Schnee bis zur völligen Erschöpfung. Sie zeugen von völlig übermüdeten Soldaten, die bei der Wache erschöpft einschliefen, um später wegen Wachvergehens mehrere Monate Gefängnis zu erhalten. Sie berichten von bis zur Besinnungslosigkeit betrunkenen Männern, die im Rausch keine militärischen Ehrenbezeugungen bei Vorgesetzten leisteten und dafür schwere Gefängnisstrafen erhielten. Es ist die Rede von Auflösungserscheinungen an der Front, die besondere Härte bei Bestrafungen nach sich zogen, um die sogenannte Manneszucht aufrechtzuerhalten. Sie machen deutlich, dass die Männer an der Front unter mangelnder Verpflegung und Hygiene litten, was oft in Diebstahlsdelikte mündete, wo sie Nahrungsmittel oder Seife stahlen. Dieses schlägt sich dann in den Akten als kriminelles Delikt Diebstahl nieder, in Kombination mit einer unerlaubten Entfernung oft auch Grund für eine mehrjährige Zuchthausstrafe.

Offene Fragen 

 
Doch lassen die Akten auch viele Fragen offen. Zunächst ganz praktisch die, wie ein Fall, der nicht mit einem Urteil abgeschlossen wurde, weitergegangen sein mag. Sind die aus dem Heimaturlaub nicht Zurückgekehrten wirklich desertiert, oder vielleicht auf dem Weg zur Front umgekommen?

Wann kann man von politischen Motiven der Fahnenflucht sprechen? Ist dazu ein Überlaufen zum Feind oder zu den Partisanen notwendig? Ist es nicht schon politisch genug, das zu erkennen, was militärische Vorgesetzte und Militärrichter in ihrem Fanatismus nicht erkannten, nämlich dass der Krieg verloren war und jedes weitere Opfer zuviel?
 
Das Bild des Deserteurs nimmt beim Studium der Akten immer mehr Konturen an, Es zeigt einen Menschen, der sich nicht mehr instrumentalisieren lassen will, der leben statt sterben will, der alles andere als feige ist, sondern begriffen hat, dass ihm nicht das Vaterland, für das er sterben soll, nahe steht, sondern die Menschen, die er liebt. Es zeigt einen Menschen, der in der Bevölkerung des Feindeslandes sich selbst erkennt, ein Mensch, der seinen ganzen Mut und seine Fähigkeiten dafür einsetzt, um zu überleben. (PK)

 
Die Mitglieder der Projektgruppe, die diese Recherchen machten, sind Malle Bensch-Humbach, Elvira Högemann, Jochen Kaufmann, Gregor Lawatsch und Anne Schulz
 
Spendenaufruf für das Deserteur-Denkmal
Kölner Opfer der NS-Militärjustiz
 
Liebe Freundinnen und Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,
es ist nie zu spät: Der Deutsche Bundestag hat erst 2002 die NS-Urteile gegen so genannte Wehrkraftzersetzer und Deserteure der Deutschen Wehrmacht aufgehoben. Zwar sind die wegen „Kriegsverrats“ Verurteilten noch immer nicht rehabilitiert, aber ein Anfang ist gemacht – nach beinahe 65 Jahren!
 
Der Rat der Stadt Köln hat beschlossen, den Opfern der NS-Wehrmachtsjustiz am Appellhofplatz, zwischen Gericht, EL-DE-Haus und Stadtmuseum, ein Denkmal zu setzen. Den Anstoß gab die zentrale Gedenkveranstaltung zum 27. Januar 2006, die den Deserteuren gewidmet war. Seitdem haben engagierte Bürgerinnen und Bürger die Umsetzung der Denkmalsidee vorangetrieben und inhaltlich begleitet.
 
Für die Realisierung des Denkmals wird ein Wettbewerb ausgelobt. Unser Ziel ist es, mit 10.000 € Spenden zur Finanzierung des Denkmals beizutragen. Wenn z.B. 100 Kölnerinnen und Kölner einen ‚Baustein’ für je 100 € erwerben, hätten wir unser Ziel schon erreicht. Selbstverständlich sind auch kleinere oder größere Spenden willkommen! Wenn genügend Kölner/innen rechtzeitig ihren Beitrag leisten, kann ein würdiges Denkmal am 1. September 2009, dem 70. Jahrestag des Überfalls Nazi-Deutschlands auf Polen, eingeweiht werden. Wir appellieren an Ihren Bürgersinn, einen Beitrag zur Realisierung des Denkmals zu leisten. Geben Sie unseren Spendenaufruf weiter in Ihrem Freundeskreis, an Verwandte, im Kollegenkreis, bei Geschäftsfreunden. Den Spenderinnen und Spendern, die 100 € (oder mehr) geben, versprechen wir ein „grafisches Dankeschön“, das ihnen bei der Einweihung des Denkmals überreicht wird.
 
Spenden Sie bitte bald an die unten aufgeführten Vereinskonten. Beide Vereine sind gemeinnützig anerkannt. Ihre Spenden sind steuerabzugsfähig. Bitte geben Sie bei der Überweisung das Stichwort „Denkmal“ und Ihre Adresse an.

Herzlichen Dank schon jetzt für Ihr Engagement!
 
Für Rückfragen stehen Elvira Högemann (koelner-friedensforum@web.de) und Malle Bensch-Humbach (ELDE-Haus@web.de) von der Projektgruppe „Kölner Opfer der NS-Militärjustiz“ zur Verfügung. Informationen über die Arbeit der Projektgruppe sowie Hintergrundinformationen zum Thema finden Sie auch im Internet unter www.nsdok.de.

Mit freundlichen Grüßen
Peter Liebermann
Verein EL-DE-Haus e.V.
Rolf Noack 
Förderverein Kölner Friedensforum e.V.:
Sparda-Bank West, BLZ 370 605 90, Kto. 415 72 30
Verein EL-DE-Haus e.V.:
Postbank Köln, BLZ 370 100 50, Kto. 290 669 501

Online-Flyer Nr. 176  vom 10.12.2008

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