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Aktueller Online-Flyer vom 27. April 2024  

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Kultur und Wissen
Die Dokumentation: Fragen und Antworten Teil 4
„68er Köpfe“
Von der Arbeiterfotografie und Christian Heinrici

Bis vor kurzem war sie noch in der Alten Feuerwache in Köln zu sehen, die Ausstellung der Arbeiterfotografie „68er Köpfe“: Menschen die sich vor vierzig Jahren an Schulen, Unis oder in den Betrieben politisiert haben und die nicht aufgehört haben zu kämpfen. In großformatigen Portraits zeigte die Ausstellung Vertreter der Generation in ihrem heutigen Umfeld: Im vierten und letzten Teil unserer Dokumentation Menschen der Aktion.

Mit ihrer Ausstellung legt die Arbeiterfotografie ein eindrucksvolles Dokument der Rebellion vor – damals wie heute. In dem hier veröffentlichten Fragenkatalog geben die Portraitierten Auskunft über ihre Motivationen, Aktivitäten, Ereignisse, die sie besonders geprägt haben, Ziele, Wirkung und Rezeption der 68er Jahre. Denn allen dieses Jahr von vielen Mainstream-Medien hervorgequakten Unkenrufen zum Trotz, diese Generation hat etwas vorzuweisen: Einen wichtigen Schritt zu mehr Emanzipation, Demokratisierung, Offenheit und Transparenz auf breiter gesellschaftlicher Ebene.

68er Köpfe eine ausstellung der arbeiterfotografie
Hängung der dokumentierten Portraits in der Ausstellungshalle der Alten Feuerwache in Köln | Foto: Arbeiterfotografie

„68er Köpfe“ hat ohne Zweifel zeitdokumentarischen Wert, doch die Fragen und die Antworten der Exponenten weisen in die Gegenwart und in die Zukunft, die es noch zu gestalten gilt. Die Ausstellung mit Fotografien von Anneliese Fikentscher, Senne Glanschneider, Hans-Dieter Hey, Andreas Neumann, Karin Richert und Gabriele Senft, hat auch der Kinder- und Enkelgeneration etwas zu sagen und wird hoffentlich noch in anderen Zusammenhängen zu sehen sein.

Die NRhZ zeigte in den vorangegangenen Ausgaben weitere Fotografien aus „68er Köpfe“ und auch in diesem letzten Teil wieder einige Antworten auf den Fragenkatalog der Fotografen. Lesen Sie dazu auch die Biographien der Portraitierten in Fotogalerie aus der NRhZ 167.

Kurt Holl
„Als Verliebtsein und Rebellieren eins waren“

Kurt Holl „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Fikentscher
Kurt Holl | Foto: Anneliese Fikentscher

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, dein Umfeld und deine Hauptaktivität?

Als Theologiestudent zunehmende Ekelgefühle gegenüber den Kirchen, die mit den Nazis kollaboriert hatten und nach 1945 im Adenauerstaat dummdreist-moralische Zensurherrschaft ausübten. Ab 1958 aktive Solidaritätsarbeit für die algerische Befreiungsbewegung. Bruch mit der westlichen Freiheitsideologie angesichts des Völkermordes in Algerien und dann in Vietnam; Abrechnung mit den Alt-Nazis im BRD Establishment.

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?

Meine Verlobung platzte 1968. Wir waren einander herzlich zugetan, hatten zusammen studiert, Examen gemacht. Sie hatte Pläne: Heiraten, Staatsdienst, Kinderkriegen, ein Haus im Grünen. Ich nicht. An Ostern 1968 sollte ich bei einem großen Empfang sein: meine Schwiegermutter feierte ihren 60. Geburtstag. Das hatte ich ganz vergessen. Ich war wieder mal woanders eingeladen und schleppte in Essen Balken aus einer Baustelle, um Springerautos zu blockieren. Das war eine Demo zuviel. „I was more at ease with my enemies, than I was ever holding your hand!”

3. Was war damals das Wichtigste, das es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Basisdemokratie an der Uni, in Schulen, in Medien und Betrieben, in Parteien und im Staat. Überall auf der Welt den Kampf gegen den US-Imperialismus aktiv zu unterstützen – hasta la victoria siempre!

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

Sie hat für viele Jahre Mut gemacht, sich zusammen mit anderen gegen die Sauereien hier und sonst auf der Welt militant zu wehren und nicht darauf zu warten, dass Gewerkschaften, Parteien, Parlamente, Priester, Intellektuelle und andere Stellvertreter das für uns tun.

Kurt Holl „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Fikentscher
Im Bild: SDS-Zentrum Köln in der Palanterstraße 5b, 1968
Foto: Anneliese Fikentscher

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Die BRD unterstützt heute nicht mehr nur den US-Imperialismus, sie beteiligt sich militärisch an völkerrechtswidrigen Kriegen. Die Grundrechte werden radikaler ausgehöhlt als es die Notstandsgesetze von ’68 je vorsahen. Die Mitbestimmung an Uni und in Betrieben ist entweder abgeschafft oder ausgehöhlt. Warum ist das so gekommen? Die herrschenden Eliten haben es geschafft, das Protestpotential zu kanalisieren, zuerst in die Brandt-SPD, dann in die grüne Partei: Nach dem letzten Aufbäumen in Friedensbewegung, Anti-AKW- und Häuserkampf sorgen Macht- und Karrieregeilheit beim ehemals linken Führungspersonal, Illusionen über den Parlamentarismus sowie Indifferenz, Feigheit und Opportunismus an der Basis dafür, dass der 68er-Geist erlahmt.

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Kriminalisierung, Berufsverbote, Gewerkschaftsausschlüsse, Terrorismusverdacht grenzten Militante aus, schüchterten andere ein. Zeitweise verloren geglaubte Söhne und Töchter aus bürgerlichem Hause durften sich wieder integrieren und sich weiter um ihr Fortkommen kümmern.

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Die ganze Scheiße, die der Kapitalismus täglich produziert, wird den 68ern angelastet: Auflösung von Ehen und Familien, gestörte Kinder, aggressive Jugendliche, Pornowelle, Drogen, egoistischer Individualismus, Werteverlust, Konkurrenzdenken, Konsum- und Shoppingfetischismus. Während die staatliche Gewalt bis hin zu Kriegen immer offener gerechtfertigt wird, wird das 68er-Erbe, das Recht auf Rebellion, immer stärker kriminalisiert.

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Den Kriegstreibern in den Arm fallen, Befehlsverweigerer und Deserteure unterstützen, Aktionen gegen alle, die der „dritten Welt“ die Ressourcen rauben, zum Beispiel gegen Fangflotten, die die Meere leerfischen; Monsanto und seinen Gendreck – weg! AKWs blockieren! Unterstützung für alle, die den Überwachungsstaat sabotieren usw. Es gibt nichts Gutes – außer man tut es!

Kurt Holl „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Fikentscher
Selbst gebauter „Segelflieger“ | Foto: Anneliese Fikentscher

9. Was gibt es sonst noch, das dir wichtig ist, zum Ausdruck zu bringen?

Wo ist die antiklerikale Wut der 68er geblieben? Stattdessen weiter Frömmelei in Schulen, Politik und Medien; Kniefälle vor frauen- und schwulenfeindlichen Greisen; Kruzifixe in Schulen und öffentlichen Gebäuden, die Andersgläubige belästigen; Kirchensteuer, Konkordatslehrstühle, Segnung von Soldaten und Rechtfertigung von Kriegen. Die aktive Kooperation der Kirchen mit allen europäischen und lateinamerikanischen Mörderregimen ist längst vergessen...



Birgit Netschert
„Gegen alle Formen der Macht“

Birgit Netschert „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Hans-Dieter Hey
Birgit Netschert | Foto: Hans-Dieter Hey

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, dein Umfeld und deine Hauptaktivität?

Ich habe einige Tage des Pariser Mai erlebt und Aktionen im Bereich der Kölner Universität, die mich ermutigt haben, an die Möglichkeit und Notwendigkeit gemeinsamer Gegenwehr zu glauben. Jahre vorher war ich eine resignierte 17jährige gewesen. Ab 1966 hatte ich erfreut Strömungen kollektiver Nichtanpassung bemerkt und mich über Besuche im „Republikanischen Club“ der APO gedanklich immer mehr angenähert. Ab 1968 gab es in der Kölner Universität Handlungsmöglichkeiten: Go-Ins, Besetzung des Theaterwissenschaftlichen Instituts, aktiver Streik, „Basisgruppe Germanistik“ – alles zur Einflussnahme auf Inhalte und Methoden der Fächer und der Organisation der Universität. Konsequenz: Bruch mit der Perspektive, im bürgerlichen Kulturbetrieb zu arbeiten. Stattdessen Fabrikarbeit in einem „Frauenbetrieb“ (1971-73), danach Mitbegründung eines Frauenzentrums in einem Arbeiter/innen-Stadtteil.

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?

Die Zeit der antiautoritären Bewegungen hatte tausende von Aspekten. Ich habe keine Anekdoten parat.

3. Was war damals das Wichtigste, das es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

’68 war zunächst ein Lern- und Orientierungsprozess für mich. Innerhalb desselben haben sich die Ziele verändert und weiter entwickelt. Wichtig war, in allen Etappen zu lernen, Widerstand zu leisten gegen die strukturelle Gewalt des Systems und solchen Widerstand auszuweiten.

Birgit Netschert „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Hans-Dieter Hey
Unbequeme Nachrichten (agita-Teil der „kumm erus“): weil SPD und PDS regierten, nicht in die Knäste gelassen
| Foto: Hans-Dieter Hey

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

’68 war weltweit einiges in Bewegung. Ich muss das jetzt auf Westdeutschland (einschließlich Westberlin) beschränken. Die gesellschaftskritischen Auseinandersetzungen hier haben – zumindest im bürgerlichen Raum – erst mal zu mehr Demokratisierung geführt; zu Entdemokratisierung als eine der Reaktionen der Herrschenden aber auch!

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Die Bewegungen hatten keine einheitlichen Ziele. Dass die grundsätzlich antikapitalistischen Ziele eines großen Teils der Bewegungen bisher nicht erfolgreich waren, muss ich niemandem verraten. Wie es dazu kam? Sie waren völlig unrealistisch beziehungsweise größenwahnsinnig. Wie sollte denn eine Bewegung, die überwiegend aus Student/inn/en- und Intellektuellen bestand, mit wenigen Ausläufern ins „Proletariat“ und „Subproletariat“, den Sturz des Kapitalismus bewirken können?

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Zuckerbrot und Peitsche: Repressionen und Kriminalisierungen, Amnestie und die Angebote zu bürgerlichen mehr oder weniger privilegierten Positionen. Und neben der öffentlichen Hetze auch das Zulassen einiger „Spielwiesen“. Das Aufgreifen mancher Aspekte der Bewegungen machte das herrschende System beweglicher und konnte die meisten auffangen. (Eigentlich konnten die Verteidiger der herrschenden Ordnung abwarten und Tee trinken...)

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Was sind denn DIE Auswirkungen? Die, die Macht und herrschende Strukturen verteidigen wollen, greifen wie eh und je zu den Mitteln der Repression und der Integration – in den jeweils zeitgemäß und erfolgsversprechend erscheinenden Formen.

Birgit Netschert „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Hans-Dieter Hey
Arbeitsplatz, an dem die Mitmachzeitung „kumm erus“ entsteht

Foto: Hans-Dieter Hey

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Ähnliche Bewegung? Oh je! Nein! Massenhaften Widerstand gegen den verschärften Kapitalismus aber sehr wohl! Massenhaft! Mit Initiative und Gestaltungskraft bei den besonders Benachteiligten! Starke Bewegungen aus nicht privilegierten Kreisen. Und viel nicht-hierarchische Selbstorganisation. Erproben, was möglich ist! Und durchhalten für weiter gesteckte emanzipatorische Ziele! Pauschal habe ich der heute jungen Generation nichts zu vermitteln. Die, die zu Revolte fähig sind, werden den Anstoß aus eigenem Erleben bekommen.

9. Was gibt es sonst noch, das dir wichtig ist, zum Ausdruck zu bringen?

Wege zu grundsätzlicher Veränderung und Befreiung führen meines Erachtens über Alltagserfahrung von Selbstorganisation und Widerstand in weiten Teilen der Gesellschaft(en) ohne neue oder alte Hierarchien, über Langfristigkeit, Vermischung der Erfahrung verschiedener Generationen in tragfähigen revolutionären Basis-Traditionen. Auch wenn wir uns sehr weit von solchen Zielen entfernt befinden, viele Fehler machen und die Illusionen mancher 68er auf schnellen Umsturz verflogen sind: an solchen Wegen beteiligt zu sein, macht den Sinn meines Lebens.



Walter Herrmann
„Nicht den Weg des geringsten Widerstands gehen“

Walter Herrmann „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Fikentscher
Walter Herrmann | Foto: Anneliese Fikentscher

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, dein Umfeld und deine Hauptaktivität?

Vietnam-Kongress in Berlin; Rektoratsbesetzung in Köln; Aufbau der Basisgruppe Psychiatrie; Kontaktzentrum Kerpener Straße. (Anlaufstelle für entwichene Heimjugendliche); Beteiligung an Aktionen der Sozialistischen Selbsthilfe Köln (SSK)

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?
           
Erfahrungen mit Go-ins und Teach-ins

3. Was war damals das Wichtigste, das es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Beendigung des Vietnamkriegs, Erkämpfen von Freiräumen für alternative, selbstverwaltete Projekte, Weichenstellungen für eine sozialistische, basisdemokratisch funktionierende Gesellschaft

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?
         
Vermittlung der Wirklichkeit des Vietnam-Kriegs und der Rolle der USA in diesem Krieg, ein breites Spektrum alternativer, selbstverwalteter Projekte, Umorientierung in der pädagogischen und sozialarbeiterischen Praxis: weg von repressiver Anpassung an die bestehenden Verhältnisse hin zur Unterstützung emanzipatorischer Prozesse, politisch engagierte Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit

Walter Herrmann „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Fikentscher
Klagemauer mit Friedenskranich zum Gedenken an die Opfer von Hiroshima/Nagasaki | Foto: Anneliese Fikentscher

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Der „Gang durch die Institutionen“ funktionierte nicht: basisdemokratische Ansätze, wie das imperative Mandat, wurden schon bald gekippt; eine Partei, die aus der Friedensbewegung („Frieden schaffen ohne Waffen“) hervorging, stimmte für eine Beteiligung am Afghanistan-Krieg an der Seite der USA; die Kapitalismus-Kritik der 68er-Bewegung blieb folgenlos: Gegen die Privatisierungswelle nach Auflösung der DDR gab es keinen nennenswerten Widerstand, die kommunalen Wohnungsbestände werden zum Schnäppchenpreis an auswärtige Finanzinvestoren (Heuschrecken) veräußert – zu Lasten der Mieter und Wohnungssuchenden. Folge: allgemeiner Trend zum Rückzug ins Private, politische Apathie vieler Zeitgenossen, unzureichende Präsens im öffentlichen Raum

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Hetze der Springer-Presse: Darstellung der 68er-Aktivisten als gewaltbereite Chaoten und Störer; Diffamierung kritischer Intellektueller wie Heinrich Böll und Professor Brückner (Uni Hannover) als RAF-Sympathisanten; brutale Polizei-Einsätze gegen die autonome Szene

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Entscheidungsfindung in den Parteien und anderen gesellschaftlichen Institutionen ohne Einbeziehung der Basis, Machtzuwachs der Spitzenfunktionäre; im Fall der Hausbesetzungen sofortige polizeiliche Räumung, um der alternativen Szene die Möglichkeit zu nehmen, Projekte in Selbstverwaltung zu entwickeln

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Der Umstand, dass eine relativ kleine Personengruppe jeweils die politische Agenda bestimmt, weist auf ein Demokratiedefizit hin, das auf Dauer nicht hingenommen werden kann. In diesem Rahmen werden „Reformen“ durchgesetzt, die soziale Errungenschaften wieder in Frage stellen: siehe Hartz IV und „Rente mit 67“. Andererseits werden Finanzinvestoren im Zuge von Privatisierungen wichtige kommunale Ressourcen zugespielt. Auch die Entscheidung für die Beteiligung am Afghanistan-Krieg an der Seite der USA ist nicht demokratisch legitimiert. So ist die Zeit reif für eine neue außerparlamentarische Opposition!

Walter Herrmann „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Fikentscher
Klagemauer für Frieden und Völkerverständigung vor dem Kölner Dom
Foto: Anneliese Fikentscher

9. Was gibt es sonst noch, was dir wichtig ist, zum Ausdruck zu bringen?

Mit der gezielten Vermarktung der attraktiven städtischen Plätze verschlechtern sich die Rahmenbedingungen für politische Aktionen im öffentlichen Raum. Für „prominente“ Plätze werden Nutzungssatzungen verabschiedet, die politische Infostände ausgrenzen. Für einen „politischen Infostand“ benötigt man eine städtische Sondererlaubnis. Für die Domplatte gibt es die nicht. Das ist der Hintergrund für die jahrelange Auseinandersetzung um das Projekt der Klagemauer auf der Domplatte.

Nun hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit Beschluss vom 22.8.2007 dem Projekt Klagemauer den Versammlungsstatus zugesprochen und entsprechend das Versammlungsrecht modifiziert. Eine Versammlung im Sinne des Artikels 8 Grundgesetz braucht keine Genehmigung; sie ist nur bei der Polizei anzumelden. Es wäre zu wünschen, dass auch andere Gruppen in der Tradition der 68er Bewegung sich das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zunutze machen.



Lothar Gothe
„1968: notwendige Revolte – unvollendet“
 
Lothar Gothe „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Anneliese Fikentscher
Lothar Gothe | Foto: Anneliese Fikentscher

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, dein Umfeld und deine Hauptaktivität?

Wut auf (Kolonial)kriege, Scham für sprachlose Elternnazigeneration, Ekel vor dem aufkommenden konsumistischen American Way of Life, Verachtung für hohle Autoritäten, Sehnsucht nach gerechter Gemeinschaft von freien Menschen, zusammengehalten durch Solidarität und universelle Liebe. Umfeld: Uni, in den Semesterferien Fabrik.

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?

Das Lächerlichmachen der Mächtigen durch ironisieren und subversive Aktionen, zum Beispiel ein rechter Professor reißt unser (unerlaubt aufgehängtes) Plakat ab. Wir nehmen es ihm ab und belehren ihn wie ein ungezogenes Kind: Das ist unser Plakat. Wenn du auch eins haben willst, musst du dir schon selbst eins malen!

3. Was war damals das Wichtigste, das es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Politisch die Umkehr auf dem Weg in den Monopolkapitalismus hin zu einem echten demokratischen Sozialismus. Gesellschaftlich: Die Abkehr von der anwachsenden konsumistischen Habgier.

Lothar Gothe „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Anneliese Fikentscher
Am Steuer seines Traktors – Baujahr 1968 – der auch bei zahlreichen Protesten zum Einsatz kommt
| Foto: Anneliese Fikentscher

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

Erreicht wurde das Aufbrechen des adenauerschen autoritären Staatswesens und eine Liberalisierung der muffigen Gesellschaft. Freiheiten wurden durchgesetzt, der wirklichen politischen Freiheit sind wir indes kaum näher gekommen, der Konsumismus ist zum Exzess geworden.

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Der moderne Kapitalismus hat viele unserer Forderungen aufgenommen, integriert und teilweise Geschäfte daraus gemacht (sexuelle Befreiung/Pornogeschäft). Die ökonomischen Mächte wurden nicht angetastet. Im Zuge der neoliberalen Globalisierung sind sie heute so stark wie nie zuvor: 500 Konzerne regieren die Welt.

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Durch Zuckerbrot und Peitsche: Einerseits wurden die Genossen auf dem „Marsch durch (in) die Institutionen“ in gut bezahlte sichere Jobs gebracht, andererseits wurden auch friedliche Proteste als Gewalt kriminalisiert und die Protestbewegungen in den Medien diskriminiert („Ökospinner“).

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Einerseits wurden durch uns erzwungene Veränderungen vereinnahmt und für die Wirtschaft nutzbar gemacht, andererseits wird eine Verleumdungskampagne gefahren, in welcher Auswüchse als Normalität der 68er Bewegung hingestellt werden (wie beispielsweise antiautoritäre Erziehung = Chaos).

Lothar Gothe „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Anneliese Fikentscher
Häckselmaschine
| Foto: Anneliese Fikentscher

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Als Nation sind wir leider auch Nutznießer der globalen Ausbeutung. Die extreme Armut und die „Arbeitssklaven“ haben wir in die „3. Welt outgesourct“. Die Folgen des Klimawandels werden die Armen und die „Unterschichten“ überall auf der Welt mit größter Brutalität treffen. Nur ein weltweiter Aufstand gegen die globalen Wirtschaftsmächte und eine Verweigerung des konsumistischen Lebensstils werden den weiteren Absturz aufhalten können.

Die sogenannten Globalisierungsgegner sind deshalb eine Hoffnung. Sie sind fast überall auf der Welt aktiv, vor allem aber in den armen Ländern (Zapatisten), leider noch viel zu wenig jedoch in unseren „satten“ Gesellschaften. An vielen Orten erproben sie neue dezentrale und sozial orientierte Wirtschafts- und Politikmodelle. Für die jungen Generationen: Es gilt immer noch: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.



Gisela Kochs
„Kapitalismus ist überall – und überall muss Widerstand geleistet werden“

Gisela Kochs „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Senne Glanschneider
Gisela Kochs | Foto: Senne Glanschneider

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, dein Umfeld und deine Hauptaktivität?

Das Soziologie-Studium brachte Kontakte nach Frankreich zu Abbé Pièrre und Taizé und Erfahrung in Randgruppenarbeit. Meine Hauptaktivität sah ich in der „Sanierung“, das heißt nicht in der Vertreibung der Armen, sondern in der Veränderung der Gesellschaft (Arbeitsplätze, Lebensqualität, Kontakte, Solidarität, neue Kultur...)

Gisela Kochs „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Senne Glanschneider
Vision einer Stadtteilsanierung mit Bürgerzentrum im Norden Köln-Mülheims

Foto: Senne Glanschneider

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?

Das intensive Kennenlernen und die täglichen Kontakte und persönlichen Erfahrungen in den Kölner Obdachlosensiedlungen hinter den Bahndämmen und in miserabelsten Löchern und menschenverachtenden „Sozialhäusern“. Das alles vertiefte und übertraf noch das theoretische Studium. Ein alter Obdachloser, der bei einer öffentlichen Diskussion diese Lage schilderte, wurde als „unsachlich“ abgetan und reagierte: „Was heißt hier unsachlich? Dat is unsere Sache!“

3. Was war damals das Wichtigste, das es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Die Realisierung des 1. Artikels der Menschenrechte und unserer Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Dieses durchzusetzten, speziell bei den Getretenen, Missachteten, Ärmsten und das zusammen mit den Betroffenen und zwar hier bei uns, wo wir leben.

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

Ich denke, es waren spürbare, sichtbare, erfahrbare Anstöße von Protest gegen menschenverachtende Zustände hier im Lande, die bis dahin öffentlich nicht so wahrgenommen und artikuliert waren; eine Sensibilisierung für Verletzungen von Menschenrechten, für Strukturen, an denen bisher keiner gerüttelt hatte, und Versuche alternativer Lebensformen in den Bereichen: Fürsorge, Erziehung, Obdachlosenarbeit, alternative Wohnformen etc.: Demokratie und Menschlichkeit auf kleinen konkreten Feldern – außerdem eine wachsende grüne Bewegung und Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden.

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Demokratie, Menschenrechte, Solidarität, Gewaltfreiheit, Achtsamkeit allem Leben gegenüber, Liebe, Frieden... Aber es genügt eben nicht, Verhältnisse zu ändern, wenn die Menschen sich nicht ändern. Macht und Geld, Käuflichkeit, Konkurrenz, Konflikte... zerstören immer wieder menschliches Zusammenleben im Großen wie im Kleinen und eben auch in den Gruppeninitiativen, die eigentlich etwas verändern wollen. „Marsch durch die Institutionen“ oder „autonome Gruppen“... ich denke, es braucht persönliche Standhaftigkeit, Mut, Ausdauer, Geduld – wo immer wir stehen.

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Auf der einen Seite durch Diffamierung und Gewalt, was wiederum Gegengewalt produziert. So ist der Teufelskreis im Gange; zum anderen mit Geld, über „Kauf“ – das ist die „feinere“ Tour, aber wirkt auch; zum dritten über „Bürokratie“, immer neue Gesetze, Auflagen, Vorschriften. Das erstickt auf Dauer alle Bewegung und Freiheit und frisst die Energie, die sonst positive Veränderungen wie Bewegung, Kreativität, Solidarität durch Eigeninitiative schaffen könnte.

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Ebenfalls durch Diffamierungen...

Gisela Kochs „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Senne Glanschneider
Musik überwindet Grenzen
| Foto: Senne Glanschneider

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Wesentlich ist die Frage: Wie kann das weltweit rasende, gefräßige Ungeheuer „Kapitalismus“ gestoppt werden? Es agiert im Großen wie im Kleinsten, potentiell in jeder Ecke und jedem Lebensbereich: Hunger, Kriege, Vergiftung von Luft, Wasser, Erde, Migration, Wohnungsnot, Menschlichkeitsnotstand (zum Beispiel Pflegenotstand), Arbeits- und Obdachlosigkeit und allgemeines Gehetztsein, Abkauf der Zeit (siehe „Momo“), die für Denken und Kultur notwendig ist. Betroffen sind letztendlich alle. Was braucht es: Mut, Wut, Kraft, Durchhaltevermögen, Solidarität und Visionen. Motivation: Abbé Pierre: „selber leiden oder lieben“. Nötig: Gewaltlosigkeit... Universal (global) denken, beten – lokal handeln, dort, wo wir leben, stehen.

9. Was gibt es sonst noch, was dir wichtig ist, zum Ausdruck zu bringen?

Der Weg ist natürlicherweise auch mit viel Scheitern, Misserfolgen, vielen Konflikten verbunden. Deshalb sind tiefe Quellen nötig.



Rainer Kippe
„1968: Die erste Revolution, die nicht gescheitert ist“

Rainer Kippe „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Anneliese Fikentscher
Rainer Kippe | Foto: Anneliese Fikentscher

1. Was war damals (um 1968) persönlicher Auslöser, dein Umfeld und deine Hauptaktivität?

Ein persönlicher Auslöser war die „Euskirchen-Studie“ von Prof. Erwin K. Scheuch über die Akzeptanz der Bundeswehr in der Zivilbevölkerung. Wir hatten mitbekommen, dass sie durchgeführt werden sollte. Die Planungen zu einer soziologischen Studie dürfen nicht öffentlich werden. Das bedeutet ihr Aus. Deshalb war es uns ein Vergnügen, sie öffentlich zu machen.

2. Was ist für dich ein für die 68er-Zeit besonders typisches persönliches Erlebnis?

Die persönliche Konfrontation mit sogenannten Autoritäten und sie zur Rede zu stellen.

3. Was war damals das Wichtigste, das es deiner Meinung nach zu erreichen galt?

Demokratie in den ganz alltäglichen Strukturen: Uni, Fabrik, Schule...

4. Was hat die 68er-Bewegung tatsächlich erreicht?

Wir haben die autoritären Gesellschaftsstruktur aufgeknackt. Von diesem Schlag hat sie sich nicht mehr erholt. Damit haben wir der Demokratie den Weg bereitet.

Rainer Kippe „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Anneliese Fikentscher
Foto: Anneliese Fikentscher

5. Welches sind wesentliche Ziele, bei denen du ein Scheitern der 68er-Bewegung siehst? Und wie kam es dazu?

Die Demokratisierung der Gesellschaft in allen Bereichen wurde gerade einmal angetippt. Leider wurde dieser gute Beginn abgebrochen, und die Genossen gründeten stattdessen ihre „Arbeiterparteien“, so dass der Fortgang sich in den 70ern in die verschiedenen alternativen Bewegungen verlagerte, die aber leider nicht die theoretische Konsistenz und Zielentschlossenheit des SDS hatten.

6. Womit ist damals versucht worden, die 68er-Bewegung zu Fall zu bringen?

Mit dem Vorwurf der Volksferne – Unfähigkeit, sich mit den „Volksmassen“ (mit den einfachen Leuten) zu verbünden. Wenn diese Verbindung geglückt wäre, wäre die Bewegung nicht zu stoppen gewesen.

Rainer Kippe „68er Köpfe“ eine Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln Foto: Anneliese Fikentscher
Foto: Anneliese Fikentscher

7. Womit wird heute im nachhinein versucht, die Auswirkungen der 68er-Bewegung kaputt zu machen?

Erstens Diffamierung der Demokraten als Utopisten, Spinner und gefährliche Gewalttäter und Fanatiker (Scheuch: „die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft“), zweitens sogenannte Reformen zur Verschlechterung der sozialen Bedingungen, drittens Reduzierung von ’68 auf einen Vater-Sohn-Konflikt (Protest gegen Nazi-Väter), als wenn es um psychologische Familienprobleme gegangen wäre – vor allem durch den „Spiegel“

8. Wo und wie siehst du für heute die Notwendigkeit einer ähnlichen Bewegung wie 1968? Was möchtest du der heute jungen Generation vermitteln?

Für mich ist die Bewegung nie zu Ende gegangen. Mit unseren Kampf-Beispielen müssen wir der jungen Generation ein Vorbild sein, ähnlich wie ’68 in Köln eine Reihe von Widerstandskämpfern aus der NS-Zeit für uns Vorbilder waren.

9. Was gibt es sonst noch, was dir wichtig ist, zum Ausdruck zu bringen?

Es ist schön, Leute zu treffen, für die das ebenfalls nicht vorbei ist, und die helfen, die Geschichte festzuhalten und die Deutungshoheit nicht Stefan Aust und Konsorten zu überlassen.



„68er Köpfe“
Portraits mit Statements zur 68er Bewegung
Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln
Hier zu allen Bildern und Dokumenten der Ausstellung

(CH)


Online-Flyer Nr. 171  vom 05.11.2008

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