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Arbeit und Soziales
Die neuen Unterschichten in der Soziologie deutscher Professoren
„Krieg dem Pöbel“ Teil 1/3
Von Hans Otto Rößer

„Krieg dem Pöbel" nannte es die taz am 13. März. Gemeint ist die Arbeit eines Genre von Soziologen, die die „Unterschicht" entdeckt haben. Sie muss – vorher gedemütigt, verarmt und ausgegrenzt – nun überwacht, bestraft, „resozialisiert" und zur Armut erzogen werden – verfolgt von Medien wie z.B. „BILD". Ziel solcher „Modernisierer" in der Soziologie ist aber auch die Unterwerfung der Mittelschicht, der Angst gemacht wird, mit hinabgestoßen zu werden. Ein bemerkenswerter Aufsatz von Otto Rößer in drei Folgen. Die Redaktion.

Das Konstrukt der „neuen Unterschicht(en)“

Die Entdeckung der „neuen Unterschicht(en)“ zu Beginn des neuen Jahrtausends ist kein soziologisches, kein wissenschaftliches Datum, sondern das Produkt einer der politischen Propaganda dienenden „öffentlichen Soziologie“ [1] (Bude 2008, S. 7), in der einige Wissenschaftler (v. a. Nolte 2004, Bude 2008) als professorale Autoritäten, aber auch als aktiver Teil einer publizistischen Welle fungieren. Diese hat in Deutschland nicht zufällig im Jahr 2004 einen Höhepunkt erreicht: Sie begleitete und legitimierte die Einführung von „Hartz IV“: die Abkehr vom bis dahin dominierenden sozialstaatliche Ziel der Statussicherung hin zum Ziel der Existenzsicherung. Die Lagen von Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gleichen sich auf dem Niveau der Sozialhilfe an. Diese Beschränkung der Transferein­kommen soll, verbunden mit weiteren Sanktionsmöglichkeiten (härtere Zumutbarkeitsklau­seln, Leistungsentzug, Kontrollen usw.), die Betroffenen zur „Eigenverantwortung“ „aktivie­ren“ (vgl. Bescherer, Dörre, Röbenack, Schierhorn 2008, S.17; zur medialen Zurichtung des Themas vgl. Kessl 2005).

Dem „Paradigma“ des „aktivierenden Sozialstaates“ liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Verfestigung von aus dem Produktionsprozess Ausgeschlossenen zu relativ stabilen Armutsgruppen „neuer Unterschichten“ im Wesentlichen nicht auf Veränderungen des kapitalistischen Produktionsprozesses und einer sie befördernden Wirtschaftspolitik zurückzuführen sei, sondern auf zu hohe sozialstaatliche Transferleistungen. Diese begünstigten die Herausbildung eines „Sozialhilfeadels“, dessen „Unterschichtenkultur“ zunehmend auf Distanz zur Norm einer auf eigener Arbeit beruhenden individuellen Reproduktion gehe.

Kessl schreibt den Begriff des „Sozialhilfeadels“ dem Mitinitiator des Bundesprogramms zur Stadtentwicklung „Soziale Stadt“, Rolf-Peter Löhr, zu, der im November 2002 innerhalb eines 12-seitigen Artikels im Stern mit der „Beobachtung“ zitiert wird, diese Menschen wüssten „gar nicht mehr, wie das ist, morgens aufstehen, sich rasieren, vernünftig anziehen und zur Arbeit fahren“. Wieder einmal wird eine Unterscheidung zwischen „anständiger“ und „verwerflicher“ Armut getroffen. Das Bild der „verwerflichen“ Armut stützt sich in der Regel nicht auf (eigene) empirische Forschung, sondern auf ein Medienbild. Die „öffentlichen Soziologen“ und die Medien, insbesondere BILD und das „Unterschichtenfernsehen“, bilden einen Kreislauf der wechselseitigen Beglaubigung und Legitimierung, wobei den Medien die Doppelrolle des Beweises und Symptoms zukommt (vgl. Winkler 2007, S. 107 f.; Heite u.a. 2007, S. 59-65).


Die Schaffung der neuen Unterschicht durch...

Angesichts dieses Kontextes verwundert es nicht, dass man in diesen Texten und auch in denen der „wissenschaftlichen“ Stichwortgeber nichts über die Entstehungsbedingungen dieser „neuen Unterschicht(en)“ erfährt. Lediglich bei Heinz Bude findet man hierzu ein paar knappe Hinweise: „Die Gruppe der Ausgeschlossenen wächst im Gefolge einer funktionalen Arbeitsteilung, die die wissensbasierte und dienstleistungsorientierte Facharbeit zum Normalmodell einer industriellen Hochproduktivitätsökonomie werden lässt. […] Selbst die Lagerarbeit ist keine einfache Tätigkeit mehr, die man im Pack-an- und Hau-weg-Stil bewältigen könnte, sondern verlangt aufgrund der informationellen Darstellung der betrieblichen Abläufe gewisse systemanalytische Kompetenzen.“ (Bude 2008, S. 22) Budes „Stück öffentlicher Soziologie“ hat allerdings den Nachteil, zu einem Zeitpunkt zu intervenieren, als die neoliberale Jagd auf die Unterschichten-Gespenster ihre erste publizistische Welle schon hinter sich hat, sie hat jedoch auch den Vorteil, schon aus Gründen der Distinktion, klüger sein zu müssen als etwa Nolte oder andere Ghostbusters.

Zynischer Realismus

Mit diesen teilt er aber die „Einsicht“ oder besser den zynischen Realismus, dass die „neuen Unterschichten“ gekommen sind, um zu bleiben. „Es ist nicht zu erkennen, wie sie aus der Welt zu schaffen wären […].“ (Ebd., S. 20) Bereits Nolte polemisiert gegen die „Illusion“, „die Armut abschaffen, die Unterschicht kollektiv zu einer bürgerlichen Mittelklasse machen oder soziale Ungleichheit überhaupt aufheben zu können“ (Nolte 2004, S. 44)

Dieses Bekenntnis zu Klassen, Klassenunterschieden und Ungleichheit, das Plädoyer für Klassenbewusstsein „als ein Projekt bürgerlicher Aufklärung“ (ebd., S. 45) mag in einer Gesellschaft, der eingeredet wurde, die „soziale Marktwirtschaft“ sei etwas anderes als Kapita­lismus und Klassengesellschaft, einen gewissen Sensationswert haben, in England oder in den USA oder sonst wo auf der Welt ist dieser deutsche Professorenmut ein alter Hut, so wie man zu dem Bekenntnis zu Klassen und Ungleichheit bei gleichzeitiger vehementer Ablehnung des Klassenkampfes (ebd., S. 44 und S. 55) bereits Einschlägiges in der „öffentlichen Soziologie“ von „Mein Kampf“ finden kann.

Wenn in diesem „Projekt bürgerlicher Aufklärung“ wie bei seinen Vorläufern die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft und ihr Geheimnis weitgehend unerhellt bleiben und über Ge­nese und Struktur der „neuen Unterschichten“ kein Wort verloren wird, drängt sich die Frage auf, worauf sich der Befund eines „Neuen“ überhaupt bezieht.

Gemäß des interessierten Tunnelblicks einer „kulturalistischen Klassentheorie“ (so Kessl über Nolte) kann dieses „Neue“ nur in Verhaltensdispositionen liegen: Es gibt „die neuen Formen einer Alltagskultur der Unterschichten, die nicht mehr durchweg einer Assimilation an die bürgerlichen Mittelschichten folgt, sondern sich durch äußere Abgrenzung zu behaupten sucht […], sich damit aber zugleich auch verfestigt und einkapselt.“ (Nolte 2006, S.96) Bude se­kundiert ihm: „So zeigt sich die Unterschicht als eine Kultur eigener Art […].“ (2008, S. 126)

Zum Beleg dieser zentralen These der gesamten „Unterschichtendebatte“ werden ganze Szenarien der „Barbarei“ entworfen: Tattoos und Piercings, dicke Kinder, Bewegungsmangel und Fehlernährung, Videotheken, Gameboy und Premiere-Abonnement, Tabak, Alkohol und Lottospiel, ungezügelte Vermehrung bei Unfähigkeit zur Erziehung („Armut macht Kinder“), Unterschichtenfernsehen [2]. Das Schlimmste: Sonntags gehen diese Leute nicht mehr in guten Anzügen, sondern in Jogginganzügen auf die Straße (Nolte 2004, S. 56). Man sieht jetzt, woher der Ex-Grüne Oswald Metzger, der inzwischen mit hilfe der CDU Kälber sucht, die ihn wählen, seine Erkenntnis bezieht, Sozialhilfeempfänger sähen „ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen“ (siehe Eintrag bei Wikipedia mit weiterer Quellenangabe). Da es bei diesen Schreckgebilden um Erklärungshaltigkeit am wenigsten ankommt, bekommen im Vorüberschrei/b/t/en gleich auch noch die „68er“ und die DDR eine Mitschuld daran zugemessen, dass das „Leitbild der Verbürgerlichung in den unteren Schichten“ als Norm und kulturelle Praxis zerbröckelt sei (ebd., S. 67); Eva Herrmann lässt grüßen.

Heinz Bude, beim Versuch, aus publizistischen Standortnachteilen Distinktionsgewinne zu schlagen, mokiert sich über den „Auftritt neuer unbezähmbarer Gesellschaftstiere“ (Bude 2008, S. 116) und diagnostiziert: „Für die Perspektive der Mitte ist es typisch, dass sie den Abstand übertreibt und die Differenz dämonisiert.“ (Ebd., S. 120) Aber auch er sieht in den Augen männlicher Heranwachsender der Unterschichten eine Energie blitzen, „die zu allem fähig scheint“ (ebd., S. 10), und entdeckt an „Orten des städtischen Exils“ einen „Kult der spektakulären Lebensführung, an dem alle zivilisatorischen Sekundärtugenden wie Pünktlich­keit, Korrektheit und Ordentlichkeit verblassen“ (ebd., S. 65). Das eint ihn mit seinem nie genannten, daher geheimen Konkurrenten um die Deutungshoheit über die „Unterschicht“ Nolte, der das unzivilisierte Verhalten der „Unterschicht“ mit dem „universalistischen Anspruch“ der bürgerlichen Werte „wie Leistung und Disziplin, Bildung und Beneh­men, Höflichkeit und Toleranz“ konfrontiert (Nolte 2004, S. 66).

Erziehung des Armen zur Armut

Der pragmatische Sinn dieser Szenarien besteht darin, den Abbau des Sozialstaates zu legitimieren. Bude beklagt, dass „individuell zuerkannte und verabreichte Zahlungen […] zur Züchtung einer Kultur der Abhängigkeit“ geführt hätten (Bude 2008, S. 16); die Einschränkung oder Streichung dieser Leistungen kann dann als Befreiung von Abhängigkeit verkauft werden. Transfereinkommen befördern die Faulheit, das Sich-bequem-Machen in der „sozialen Hängematte“. Sie führen zu einer „fürsorglichen Vernachlässigung“, und zwar „in sozialer und kultureller Hinsicht“ (Nolte 2004, S. 68 f.). Das Geld des Sozialstaates dürfe nicht für die konsumtiven Ausgaben des „Sozialhilfeadels“ vergeudet werden, sondern müsse „besser angelegt“ werden. Es müsse „in soziale Infrastrukturen investiert“ werden, „die kulturelle Grenzen aufweichen, Bildungsschranken durchbrechen, Verhaltensprobleme lösen können“ (Nolte 2006, S. 101). Noch rabiater formuliert Nolte 2004: Man müsse in die „Kulturen der Armut“ intervenieren, sie herausfordern und aufbrechen, mit diesen Interventionen schon frühzeitig beginnen, nicht erst in der Grundschule, sondern schon im Kindergarten, und diese Intervention mit „spürbaren Zumutungen für die Klienten“ bis hin zu „zero tolerance“ bewehren (S. 68-70).


...Fördern und Fordern.
Kollage: Arbeiterfotografie.com


Man kann diese Gewalt- und Bestrafungsphantasien eines deutschen Beamten in die Tradition einer Erziehung „des Armen zur Armut“ stellen, wie dies Kessl u. a. mit vergleichenden Hinweisen auf Pestalozzi tut (Kessl 2005 und 2007). Aber das ist nur ein geistesgeschichtlicher Befund. Im Epochenumbruch vom Feudalismus zum Kapitalismus konnte das Bürgertum noch die Illusion haben, dass die Armut mit Antritt seiner Herrschaft und der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse verschwinde. Heute kann jeder wissen, dass solche Erziehungsprogramme daran scheitern, dass die Versprechungen, die sie ihren ‚Klienten’ machen, nicht gehalten werden können.

Heinz Bude ist auch hier einmal wieder immer schon da: „Das Programm der Aktivierung und Mobilisierung erzeugt unweigerlich eine Restkategorie von Menschen, die sich trotz aller Angebote und Anreize nicht aktivieren und mobilisieren lassen.“ (Bude 2008, S. 28) Dieser Realismus ist exemplarisch für Bude und den Qualitätsunterschied zwischen seiner und Noltes „öffentlicher Soziologie“. Bude kündigt die zitierte Einsicht mit einem Hinweis auf einen „perversen Effekt“ des „aktivierenden Sozialstaates“ an. Die Ausformulierung dieser Einsicht indes zeigt, dass die Wirkungslosigkeit der Aktivie­rungsmaßnahmen letztlich auf die Verweigerung der zu Beglückenden zurückgeführt wird. Damit gewährt sie einen Einblick in die ideologische Funktion dieser Phantasien einer kulturellen Erziehung der „Unterschichten“: Sie subjektiviert Armut zu einem selbstgewählten Los. Wer arm bleibt, ist selber schuld.

Die letzte Konsequenz dieser „Moralisierung“ von Armut und sozialer Ungleichheit (Chassé 2007, S. 20, 22) wird trotz allem Zynismus nur angedeutet, aber nicht ausgesprochen: Wenn der herkömmliche Sozialstaat beseitigt werden muss, weil er angeblich die Armut und die sie verfestigende Kultur der Armut erst erzeugt, der durch ökonomischen Druck „aktivierende“ Staat aber nur begrenzt wirken kann, stellt sich doch die Frage, was mit denen gesehen soll, bei denen die menschenbeglückende Repression nicht verfängt. Logisch wäre die Antwort: Sie sind sich selber zu überlassen. So wie die Diagnose der „neuen Unterschichten“ alles andere als neu ist, sondern eine weitere Variante der Sinnverkehrungsthese darstellt, die zum eisernen Bestand einer Rhetorik der Reaktion gegenüber den Zivilisie­rungsschüben seit der Französischen Revolution gehört: „Erdacht, den Elenden zu helfen, wurden die Armengesetze zur Grundursache des Elends“ (Edward Bulwer-Lytton 1837, zitiert bei Hirschman 1995, S. 37; weitere Hinweise und Quellen bei Lindner 2008, S. 9-17) [3], so landet die ihr implizite Handlungsanleitung letztlich im Sozialdarwinismus: Wer sich nicht ‚aktivieren’ lässt, ist es nicht wert, aufgepäppelt zu werden, sondern verdient es, zugrunde zu gehen (vgl. kritisch Winkler 2007, S. 111 f.).

Bei Nolte versteckt sich dieser zynische Realismus hinter dem Selbstwiderspruch, kulturelle Aufstiegsversprechen zu machen und gleichzeitig der Armut eine unveränderbare Stabilität zu attestieren. Die „Bewegungsform“, die sich dieser Widerspruch sucht, besteht darin, dass dem Erziehungsprogramm mehr oder weniger stillschweigend ein Programm des Abschottens, Sich-selbst-Überlassens und der Repression unterlegt ist. Da das Sich-selbst-Einkapseln der Unterschichten ökonomisch auf Alimentierungen durch die Mittelschichten beruht, die sich damit aber nicht erkaufen können, dass die „Unterschichten“ aus ihrem Alltag verschwinden, anstatt ihre Wohn- und Einkaufswege zu kreuzen, sie zu belästigen, zu ängstigen und zu ge­fährden, müssen sie durch die Staatsapparate und gegebenenfalls durch Sicherheitsdienste und Bürgerwehren „eingekapselt“ werden. Die Tragweite dieser Phantasie einer modernen „Einhegung“ wird bei Nolte da deutlich, wo er sich zu den „politischen Perspektiven“ einer „riskanten Moderne“ äußert. Noltes „kulturalistische Klassentheorie“ hebt an mit der Verabschiedung des „Traums von der sozialen Harmonie“ (2006, S. 89), unter den er nicht nur Sozialis­mus und Kommunismus und den Faschismus subsumiert, sondern auch das Projekt des Wohlfahrtsstaates im Golden Age des Kapitalismus zwischen 1948 und 1973.

Noltes „kulturalistische Klassentheorie“, die wie die von ihm kritisierte „homogene Volksgemeinschaft“ des europäischen Faschismus und deutschen NS Klassen befürwortet, aber den Klassenkampf verteufelt, endet mit der Absage an die „Utopie einer vollständigen Demokratisierung aller Lebensbereiche“. An ihrer Stelle komme es darauf an, den „Kern der Demokratie zu konsolidieren“ (ebd., S. 285). Wenn den „Unterschichten“ nur noch eine Perspektive „jenseits des Konsums“ angeboten werden kann, da die „Expansion des Wohlstandes […] kein Naturgesetz“ sei (ebd., S. 291 ff., S. 92), wenn es für sie nur die Perspektive einer imaginären, nicht einer realen Integration gibt, weil Armut und Ungleichheit nicht zu beseitigen sind, muss ihnen jede Einflussnahme auf den politischen Prozess verwehrt werden. 33 Jahre vor Nolte nannte die FAZ das, was bei ihm „Kern der Demokratie“ heißt, die „Essenz der Verfassung“. (HDH)

Das Anreißerbild stammt von Gerd Altmann, pixelio

Online-Flyer Nr. 170  vom 29.10.2008

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