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Lokales
Lange Vorgeschichte
„Neue“ Mitmachzeitung im Netz
Von Birgit Netschert und Hans-Dieter Hey

Linke fanden sie zu populistisch und theorielos, Bürgerliche als zu platt und stümperhaft. Es gab Begeisterte, dies sie für eine der originellsten und wichtigsten Publikationen in Deutschland hielten, die Mitmachzeitung "kumm erus". Die Zeitung, die Menschen „von unten" Ausdrucksmöglichkeiten bot. Es gibt sie nicht mehr. Besser: Es gab sie nicht mehr, aber es gibt sie wieder, im Internet als „www.mitmachzeitung.de".

Der Genrebegriff „Mitmachzeitung" war immer ernst gemeint. „kumm erus" sollte eine Zeitung der sich selbst organisierenden Betroffenen sein. Die „von unten" eben, und so hieß die Zeitung auch früher: „vun unge". Es ging ihr um die im Kapitalismus Ausgegrenzten, die Ausrangierten eines rabiaten Systems, die nicht mehr mithalten konnten, die sozial Benachteiligten und die Opfer von bürokratischer Ungerechtigkeit und staatlicher Gewalt. All denen wollte die Zeitung Ausdrucksmöglichkeit bieten.


„Kumm erus" früher zu Fuß unterwegs und heute...

Rückblickend war es über all die Jahre sehr schwierig, die Mitmachzeitung aufrecht zu erhalten. Im gewünschten Maß und Verbreitungsgrad kam sie nie zustande. Vor allem in den letzten Jahren fehlte es an für die Infrastruktur der Zeitung notwendigen Aktiven, besonders im selbstorganisierten Vertrieb. Es fehlte an Interesse für eine bessere Verbreitung der Zeitung, was wiederum vielleicht auch mehr AutorInnen hätte anlocken können.
 
Raus aus der Nische!

Seine Wurzeln hat das Projekt in den demokratischen Bewegungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. „Wir machen unsere Öffentlichkeit selbst", hieß es damals. Einer der Sponti-Sprüche war: „Wir sagen Nein zu Knast und Heim!". Konkrete Vorerfahrungen brachten die InitiatorInnen durch verschiedene Anti-Knast-Publikatíonen und das damalige „Kölner Volksblatt" ein, einem Zusammenschluss lokaler Initiativen für gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit. In diesem Projekt waren sie als „Autonomes Knastprojekt" und „Gefangeneninitiative Köln" vertreten und zuständig für die „Knastseite".


„Modern" als Internetzeitung                             
Später, als die Initiativen zerbröckelten, im „Kölner Volksblatt" keine klaren Grenzen mehr zur parlamentarischen Politik gezogen wurden, als sie sich mit ihren Versuchen nicht durchsetzen konnten, auf populärere Formen der Vermittlung und auf Themen der zunehmenden Verarmung zuzugreifen, trennten sich die Anti-Knast-Gruppen Anfang 1992 vom Bündnis. Als 1992 Prozesse gegen die der Knastrevolte der „Rheinbacher Dachbesteiger" begannen, kam die Mitmachzeitung „von unge" heraus. Sie sollte einerseits ein Medium für selbstorganisierte Aktivitäten der Knastinsassen sein, um Widerstand gegen die Zustände dort zu organisieren. Andererseits richtete sich das Mitmachangebot an Initiativen, an Einzelne und an alle, „die nicht nach oben buckeln und nach unten treten" wollten.

Gerade angesichts des Rückgangs der Initiativen rechneten die Initiatoren immer noch auf empörungsfähige Einzelne aus den unteren „Klassen", die eventuell Ausgangspunkte für neue Initiativen und konsequentere Rebellion sein könnten. Man war davon überzeugt, dass bei zunehmender Polarisierung der Gesellschaft die abhängig Beschäftigten, die Erwerbslosen, die Diskriminierten und Beiseite-Geschobenen Bestätigung, Ermutigung zu eigener Aktivität und vor allem ein eigenes Sprachrohr brauchten. Der Rest sozialer Bewegungen und Bürgerinitiativen wurde weitgehend als von bürgerlichen Kräften dominiert eingeschätzt.


Birgit Netschert: Seit 40 Jahren politisch aktiv
Fotos: gesichter zei(ch/g)en

Da es bei sozial ausgestoßenen Menschen oft an Selbstbewusstsein mangelt, herrschten dort selbst wiederum Abgrenzungen und Vorurteile untereinander. Diese Spaltung zu überwinden war von Anfang an Ziel von „von unge". Idealvorstellung war die persönliche Stärkung durch eine „selbstgestrickte" Öffentlichkeitsarbeit, die es nicht bei einer Zeitungsproduktion bewenden lassen wollte.
 
Der Initiator der „Kölner Klagemauer für Frieden" – Walter Herrmann – stieg mit in den Vertrieb ein und installierte die „von unge" auf seiner Klagemauer. Dieses Verfahren war als Vertriebsform für Obdachlosenzeitungen aus angelsächsischen Ländern bekannt. Durch viele VerkäuferInnen in den Straßen der Innenstadt ergab sich eine schnelle Auflagensteigerung auf 20.000, sogar bis zu 35.000 Zeitungen monatlich. „von unge" war nie eine reine Obdachlosenzeitung, trotzdem war dieser Zusammenhang nicht aus den Köpfen zu bekommen.

Neuer Beginn mit „kumm erus"

Das war der Hauptgrund, „vun unge" aufzugeben und 1997 mit einem neuen Namen, mit „kumm erus" zu versehen. Das Vertriebsprinzip war, sich nicht bettlerisch anzubieten, keine aufdringlichen Drückermethoden anzuwenden und nicht als Obdachlosenzeitung aufzutreten. In dieser Umbruchphase wurde die Zeitung „Querkopf" gegründet, zu der fast alle VerkäuferInnen von der „kumm erus" überliefen. Es waren schließlich zu wenige Aktive, deren Ziel nicht Verdienst, sondern bewusstes Handeln in einer Berwegung von unten war. Dies hat sich in den 10 folgenden Jahren der Existenz der Zeitung kaum geändert.

Ende 2007 hieß die Schlagzeile der letzten Ausgabe: „So geht's nicht weiter". Es war ein letzter Appell, sich zu engagieren, und es war die Ankündigung des traurigen Endes der Zeitung auf Papier. Angekündigt wurde in dieser letzten Ausgabe, die politische Arbeit, die mit „von unge" und „kumm erus" versucht worden war, auf die eine oder andere Weise weiter entwickeln zu wollen: Öffentlichkeitsarbeit im sogenannten „Bürgerfunk" oder im Internet, wieder verstärkte Hinwendung zum Ausgangspunkt „Anti-Knast"-Engagement und die Teilnahme an und Verstärkung von Initiativen unterprivilegierter Menschen.

Nach einer nichtöffentlichen Testphase ist seit Juli ein Zwischenergebnis der versprochenen Weiterarbeit für Internetnutzer greifbar: Klicken Sie mal auf die Online-Mitmachzeitung! Oder besser: Machen Sie mit! Wer will, kann sich als Autor/in registrieren und vom heimischen Computer, aus dem Internetcafé oder auch am PC des herausgebenden Vereins „zosamme" in der Kölner Elsaßstraße 34 Artikel beisteuern. Eingeladen sind in der alten Tradition Menschen „die nicht nach oben buckeln und nach unten treten". Und viele wollen weitermachen, weil es viele Gründe zum Weitermachen gibt. (PK)

Birgit Netschert war Lehrerin und hatte eine politisch bewegte Zeit. Von Beginn ihres bewussten Lebens an war sie in verschiedenen Basisgruppen „Ford von außen", „Nippeser Baggerwehr", Betriebsarbeit, Frauenarbeit, „Kölner Volksblatt“ oder bei Hausbesetzungen wie der im Stollwerk aktiv. 1992 gehörte sie zu den GründerInnen von „von unge", später „kumm erus". Wer mehr über „Bix" Birgit Netschert wissen will, kann sie neben anderen bis zum 19. Oktober in dem Fotoprojekt „68er Köpfe" der Arbeiterfotografie erfahren.


Online-Flyer Nr. 169  vom 22.10.2008

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