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Literatur
„Winterdämmerung“: Erasmus Schöfer vollendet seinen Romanzyklus
Sisyfos resigniert nicht
Von Ulla Lessmann

„Nun gibt es sie, die literarische Geschichte der anderen Republik“, schrieb Ulla Lessmann in ihrer Rezension in „Verdi-News“ über Erasmus Schöfers neuen Roman „Winterdämmerung“. Mit diesem vierten Band hat der Kölner Autor eine ebenso umfangreiche wie geistreiche Chronologie der linken Bewegung Westdeutschlands geschaffen, von den 60er Jahren bis zur „Wiedervereinnahmung“ 1989. Lesen Sie hier Ulla Lessmanns Rezension sowie Robert Jungk in einem Ausschnitt des Romans – die Redaktion.

Der Kölner Schriftsteller Erasmus Schöfer hat sein gewaltiges Lebenswerk, den Zyklus „Die Kinder des Sisyfos “, mit dem vierten Band „Winterdämmerung“ vollendet. Mit „Ein Frühling irrer Hoffnung“ begann 2001 sein im deutschen Sprachraum einzigartiges Werk, das dann mit „Sonnenflucht“ 2004 und „Zwielicht“ 2005 fortlaufend die Geschichte jener Menschen erzählt, die versucht haben, die bundesdeutsche Gesellschaft zum Besseren zu wenden, gegen Kriege und Atomkraftwerke kämpften, gegen die Abgabe der Menschenwürde am Fabriktor, die ein selbstbestimmtes Leben leben wollten.

„Winterdämmerung“ spielt in den 80er Jahren, schildert die Bewegungen gegen die Startbahn-West, für das Krupp-Stahlwerk in Rheinhausen, gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen – von der Geschichtsschreibung verächtlich behandelte, für viele Menschen lebensprägende Ereignisse. Schöfer gibt ihnen eine Stimme und ein Schicksal.

Erasmus Schoefer Foto: Andreas Neumann, Arbeiterfotografie
Der Autor | Foto: Andreas Neumann     
Arbeiterfotografie
Und er ist der einzige männliche Autor seiner Generation, der mit einer bewundernswert einfachen Sprache und sinnlichen Leichtigkeit über Sex und Erotik schreiben kann, vermutlich, weil er den Frauen nicht die Welt erklärt, sondern sie das Leben selbst entdecken lässt. Man verfolgt die spannende Emanzipation der Schöferschen Romanfrauen über vier Bände hinweg, denn wie seine männlichen Protagonisten werden sie so lebendig und vertraut, dass man wissen will, wie sie nach ’89 leben, zumal gerade die Frauen noch Kraft zu haben scheinen und Schöfer wohl der letzte ist, der in jenem Jahr das Ende der Geschichte sähe.

Der Zyklus darf nicht als eines von zahllosen abschwörenden Bekenntnissen eines „68er“ missverstanden werden. Auch wenn der lebenslang engagierte Gewerkschafter Schöfer immer Teil der sozialen Bewegungen der Republik war und in vielerlei Gestalt biografisch zu erkennen ist, auch wenn die historischen Ereignisse mit einer unglaublichen Detailfülle oft quasi dokumentarisch erzählt werden, geht es nicht um historische Wahrheit, sondern um literarische Wahrhaftigkeit.

Der vierte Band hat bei aller sprachlichen Experimentierlust, trotz oft rasanter, satzzeichenlos dahinhetzender Schilderung aufwühlender Ereignisse einen melancholischeren, poetischeren Grundton, ohne sentimentale Falschheit. Es gibt keinen altersweise gemilderten Rückblick. Wobei eine Weisheit im schönsten Sinne eine durch Lebenserfahrung gewonnene Erkenntnis ist: „Das Nichts ist die Erwartung der Welt. Ich schreibe auf das w eiße Papier. Solange bin ich.“ Zuletzt traf ich den 77jährigen im August in der Eifel während der Demonstration gegen die letzten Atomwaffen auf deutschem Boden: Sisyfos resigniert nicht. (CH)


Winterdämmerung Erasmus Schöfer
                                                              

Erasmus Schöfer
„Winterdämmerung“
Die Kinder des Sisyfos
Dittrich-Verlag, Berlin 2008,
621 S., 24,80 Euro

Ulla Lessmanns Rezension erschien im Original auf „Verdi-News
Doch, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, lesen Sie das Kapitel „Der Mutsucher“ aus Erasmus Schöfers neuem Roman, und begegnen Sie dabei Robert Jungk.


„Der Mutsucher“


Der schmale Buchhändler stand etwas steif, sichtlich unsicher, neben dem niedrigen Podest, auf dem saß ein alter Mann an dem quadratischen Tisch mit Wasserglas und Leselampe, der mal zu ihm, mal in das Publikum schaute, das die wenigen Stuhlreihen in der kleinen Buchhandlung lückenlos besetzt hatte. Aufmerksam, neugierig, hörte der Weißhaarige seiner Begrüßung zu, lächelnd, als ihm zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag und seiner dennoch rastlosen Tätigkeit für eine lebbare Zukunft gratuliert wurde. Auch dafür gedankt, dass ihm, der zum Beispiel auf der Bonner Hofgartenwiese gegen die Raketenrüstung gesprochen hatte – er selbst einer der Hunderttausende Zuhörer – ein Abend seines Lebens für dieses notwendig begrenzte Publikum des BiBaBuZe nicht zu schade sei.

Versichern konnte ihm der Buchhändler, dass dieser fast versteckte Ort für die Düsseldorfer Linken, durch die hier täglich geführten Gespräche und die bereit gehaltenen Bücher und Zeitschriften, eine jener Zukunftswerkstätten, jener ins Offene gerichteten DenkStätten sei, die einzurichten er seit Jahren empfehle, als basisdemokratische Medizin gegen die versteinerten Verhältnisse in der herrschenden Politik und Wissenschaft. Grade für sie im Rheinland komme sein eben erschienenes Buch mit dem Titel Projekt Ermutigung und dem Untertitel Streitschrift wider die Resignation wie gerufen, da alle hier noch unter dem Schockerlebnis der Niederlage in dem Kampf stünden, den die, es müsse erlaubt sein zu sagen: heldenhafte Belegschaft des Rheinhauser Kruppstahlwerks, unter aktiver Mitwirkung großer Teile des Proletariats im Ruhrgebiet, ein halbes Jahr lang um den Erhalt ihrer Hütte geführt hat. Darf ich Sie nun direkt fragen, Herr Jungk – gehören Sie zu jener selten gewordnen Sorte Menschen, die man Optimisten nennt?

Da schüttelte der so Angesprochne, leicht lächelnd, sein furchenreiches Haupt und erklärte mit einer warmen, sicheren Stimme: Nein nein, ich sehe, dass die Schangcen dafür, dass es immer schlimmer wird, viel größer sind als die Schangcen dafür, dass es besser wird. Ich bezeichne mich als einen hochgemuten Pessimisten. Das heißt, obwohl ich pessimistisch bin meine ich, dass es uns nicht hilft, wenn wir angesichts der großen Gefahren für den Bestand der zivilisierten Menschheit die Hände in den Schoß legen. Ich kann das nicht irgendwie ideologisch begründen. Es hat wohl viel mit Karakter zu tun. Ich habe das Glück gehabt, dass meine Eltern mich nie kaputt gemacht haben. Wenn man in so früher Zeit nicht gebrochen wird weiß man: Ich kann doch etwas durchsetzen.

Ich bin mit neunzehn Jahren aus dem Nest geworfen worden, hatte keinen Pfennig Geld, meine Eltern konnten mir nichts zahlen. Ich musste dreiunddreißig, direkt nach dem Reichstagsbrand, emigrieren, nach Paris, und ich habe mich trotzdem über Wasser gehalten und weiterleben können. Nach solchen Erlebnissen ist man nicht so unsicher wie viele Leute, die sagen: Wenn ich meinen Job verliere, wenn ich mal kein Geld habe und keine Versicherung und keinen Besitz, dann ist es aus mit mir. Aber ich will dieses Lebensvertrauen nicht nur mit meinem persönlichen Karakter erklären – es ist auch politisch, ich könnte auch sagen: geistesgeschichtlich begründet. Ich bin in meiner Jugend stark durch Martin Buber beeinflusst worden. Martin Buber war der geistige Vater der deutsch-jüdischen Jugendbewegung, in der ich Mitglied war.

Buber hat den Messianismus zur Leitidee des Judentums gemacht. Messianismus heißt: Wir müssen die Seligkeit nicht jenseits des Lebens erwarten, sondern wir müssen auf der Erde die Verhältnisse ändern. Wir haben uns sehr früh nach links entschieden, gründeten eine Gruppe, die hieß Rotes Fähnlein, und wir hatten mit den roten Pfadfindern Kontakt. Wir dachten immer an gesellschaftliche Veränderung. Und in diesem Sinne möchte ich den Gedanken anregen: Vielleicht hat doch auch der Kampf um das Stahlwerk in Rheinhausen – ich habe den in Wien sehr aufmerksam verfolgt! – positive Auswirkungen auf das Bewusstsein der Beteiligten, aller Beteiligten, für die Entwicklung des Ruhrgebiets? Darüber können wir vielleicht später noch diskutieren.

Robert Jungk
Robert Jungk                                       
Robert Jungk hielt inne, trank einen Schluck Wasser, wartete auf eine weitere Frage oder die Aufforderung, aus seinem neuen Buch zu lesen. Der Buchhändler war aber offenbar mehr an dem einmaligen Menschen intressiert, sein Buch konnte jeder kaufen und selber lesen. Er fragte: Wenn ich an Ihre frühen Bücher über die Gefahren der Atomenergie denke, Heller als tausend Sonnen, Die Zukunft hat schon begonnen – Sie waren ja mit Günter Anders einer der ersten, die davor gewarnt haben – dann denke ich, dass Sie sich als Wissenschaftler, besorgter Wissenschaftler verstehen?

Jungk wehrte das mit einer nachdrücklichen Handbewegung ab: Überhaupt nicht! Ich bin kein Wissenschaftler! Mir fehlt die Denkweise des Wissenschaftlers. Ich bin stolz darauf, dass ich als Jurnalist in alle Töpfe gucken kann. Das Zusammenführen der zerrissnen, atomisierten Wirklichkeit, das ist mein wichtigster Arbeitsschwerpunkt geworden. Wenn ich einen Beruf für diese Forschungstätigkeit erfinden sollte, hieße der vielleicht Überblicker. Ich bin an keine Institution gebunden, habe in meinem Leben nie Karriere machen müssen, habe keinen Lehrstuhl, keine Pension zu erwarten – das gibt einem große Unabhängigkeit. Ich kann sagen was ich will, kann frecher sein, unbedenklicher. Einen Unfehlbarkeitsanspruch wie der Papst habe ich dabei nie gehabt. Ich bin ein suchender und irrender Mensch, der versucht, den richtigen Weg zu finden. Auf die Gefahr hin, dabei abzustürzen. Wenn man weiß, dass man auch wieder aufstehen und weitermachen kann, hat man vor dem nächsten Absturz keine Angst mehr. Diese Angst macht die meisten Menschen so bedächtig, so konform, dass sie sich nicht mehr aufraffen, etwas Neues zu wagen.

Da rief von hinten aus der vorletzten Reihe der Mann mit dem vernarbten Gesicht und der dunklen Brille, Viktor Bliss, und viele Köpfe wandten sich nach ihm um: Wie haben Sie das gemacht, die Fehler und Niederlagen produktiv zu nutzen?

Nun ja, schaun Sie – Jungk suchte merklich nach einer hilfreichen Antwort – junge Menschen glauben oft, ein Misserfolg sei das Ende. Er ist aber nur eine Etappe auf dem Weg, eine Lernstufe. Nur ängstliche Leute haben keine Misserfolge, weil sie nie radikal gedacht und gelebt haben. Nur nichts wagen! nicht wahr. Ich sichere mich nicht ab. Ich sage manchmal etwas, das ganz überstiegen klingt, und ich erwarte, dass dann auch Gegenwind kommt, ein Korrektiv, das mein eignes Nachdenken aber nicht zurückwirft, sondern vertieft und vorwärtsbringt. Es ist schon so – auf meinen Entdeckungsreisen in das vielfältige, widerspruchsvolle Universum der sozialen Experimente bin ich häufig genug teilweisem oder völligem Scheitern begegnet.

Oft sind ökonomische Zwänge die Ursache, oft aber auch zermürbender Streit, Rechthaberei, Ehrgeiz, Konkurrenzdenken. Es ist schwer, gegen seine Zeit zu leben. Ich habe dafür keine Rezepte, nur meine Erfahrung, dass es möglich ist. Ein Ende der Alternativen ist nicht abzusehn – wie es hier von manchen Altachtunsechzigern verkündet wird, die ihren Frieden mit der Welt von gestern gemacht haben. Die neue Generation des Widerstands hat aus den Niederlagen der siebziger Jahre gelernt, dass nicht alle Versuche sofort gelingen, dass man auch Wagnisse eingehn muss ohne feste Erfolgsaussicht.

Aber euch hier muss ich wohl nicht in Erinnerung rufen, was alles von den Veränderungsimpulsen der geduldigen Stürmer von Achtunsechzig und ihren Nachfolgern verwirklicht wurde, was oft so selbstverständlich geworden ist, dass kaum noch jemand ihren Ursprung kennt – die selbstverwalteten Kinderläden und Frauenhäuser, die Handwerkerhöfe und stadtteilbezogenen Kulturzentren, die Instandbesetzer der leerstehenden Häuser, die ökologisch wirtschaftenden Bauernhöfe und Landkommunen, die Autoteiler und Fahrradkuriere, die Gleichstellungsbeauftragten in den Behörden und Gewerkschaften – ich habe nicht alles so spontan im Kopf, ihr könnt meine Aufzählung sicher fortsetzen. Die Ärzte natürlich, die kritischen Mediziner und Juristen.

Fest steht doch, dass noch jedes geplante technokratische Monster heute auf riesigen, für die Betreiber sehr kostspieligen! Widerstand der Bürger stößt und längst der gesellschaftliche Konsens zerbrochen ist, nach dem jede technische Neuerung ein humaner Fortschritt sei. Gut, Brockdorf ist gebaut worden, das war eine Niederlage, aber wo sind Wyhl und Wackersdorf und Kalkar? Vielleicht erinnern sich die Älteren unter euch noch, dass die durchgedrehten Atomschwärmer in den fünfziger Jahren dieses Land mit einem halben Hundert Atommeilern bepflastern wollten! Kann man zweifeln, dass dieser Wahnsinn durch die Widerstandsbewegung verhindert wurde, die ihren Ursprung bei den Bürgerinitiativen gegen das Akawe Wyhl hatte? Die wie ich weiß von verschiedenen Juristen, Wissenschaftlern und Künstlern unterstützt wurden, deren Herkunft aus dem politischen und sozialen Hintergrund von achtunsechzig unübersehbar war.

Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Friedensbewegung in der Bundesrepublik und in den USA einen wichtigen Einfluss auf Michael Gorbatschow hatte – also ihn zumindest bestärkt hat in der Einsicht, dass dieses atomare Wettrüsten der Supermächte zu ihrem gemeinsamen Untergang führen muss, und er deshalb den Weg zu den INF-Verträgen frei gemacht hat

Es bleiben noch genug Raketen für den Overkill übrig! rief vorn einer dazwischen, ziemlich rüde.

Ein andrer, eher vorsichtig, fragte, ob nicht die meisten der von Robert Jungk genannten sozialen Neuerungen zwar für Einzelne vielleicht Verbesserungen brächten, aber zugleich das kapitalistische System erträglicher machten, und zwar vor allem für die bürgerlichen Mittelschichten, aus denen vor allem die Ökologiebewegung und die Grünen stammen?
 
Aber natürlich! rief Jungk, das ist nur ein Anfang, die Verschrottung der SS 20 und der Pershings! Aber ein Anfang, der uns zeigt: es ist möglich die Denkblockaden zu durchbrechen, die Spirale von Furcht und Drohung umzudrehen in eine von Vertrauen und Hoffnung! Es ist heut noch typisch für das geringe Selbstbewusstsein der neuen sozialen Bewegungen, dass sie sich in Auseinandersetzungen mit dem System von vorn herein als die Schwächeren, die stets Unterlegenen sehen. Ja, gewiss, das sind sie, wenn man die bestehenden Machtverhältnisse betrachtet.

Aber! Vergleicht nur mal den Erkenntnisstand, die geistige Beweglichkeit, die Fähigkeit, neue Problemlösungen zu finden und, wie unvollkommen auch immer, zu erproben, dann seht ihr sofort, wie überlegen die systemkritischen Sucher denen sind, die noch die Macht besitzen. Also: Nicht die Alternativen müssen Angst vor der Integration ihrer Neuerungen durch die Technokraten haben, sondern umgekehrt, die Technikfrommen und ihre Konzepte werden infiziert durch unsre Ideen und Taten! Und natürlich werden wir die Ingenjöre und Menedscher nicht kritisieren, wenn sie nun Windräder und Abgasfilter bauen, nur weil sie dies in einem kapitalistischen Industriebetrieb tun.

Einige klatschen an dieser Stelle und Jungk, der sich in Feuer geredet hatte, erzählte begeistert: Als ich das Büro der Right Livelihood Foundation besuchte, die wie ihr wisst die Alternativen Nobelpreise vergibt, konnte ich die Unterlagen von Preisanwärtern aus allen fünf Erdteilen studieren, und ich versichere euch: Nie zuvor hatte ich einen so überzeugenden Eindruck von der weltweit geleisteten konstruktiven Arbeit zahlreicher Frauen und Männer, einen so starken, Zuversicht vermittelnden Überblick über die vielen Unternehmungen, sich den Schäden und Gefahren unsrer Welt entgegenzustemmen!

Damit die hier gesammelten Erfahrungen nicht vereinzelt bleiben, habe ich in Salzburg die Bibliothek für Zukunftsfragen gegründet, die als Sammelpunkt und Verteiler für antizipierendes Wissen arbeiten und als Vorbild für ähnliche Einrichtungen wirken soll. Eine große Rolle bei der Verbreitung und Vernetzung der zukunftswirksamen Initiativen wird aber das weltweite Internet spielen, das im übrigen ein Beispiel dafür ist, wie eine für rein militärische Bedürfnisse erfundene technische Neuerung in einer unerwarteten und ungeplanten Dialektik für die emanzipatorischen Zwecke der Systemgegner nutzbar wird.

Wird das die Revolution per Internet Herr Jungk? Mit der virtuellen Arbeiterklasse? fragte spitz eine junge stoppelhaarige Frau im schwarzen Lederwams und rief ein undefinierbares Murmeln hervor, was Robert Jungk aber nicht aus seinem Gleis warf.
 
Ach die Revolution – liebe junge Frau! Jungk lächelte freundlich nachsichtig. So wie wir sie uns vorgestellt haben, kommt sie bestimmt nicht. Dazu will ich euch jetzt am besten ein paar Abschnitte aus dem letzten Kapitel meines Buches vorlesen. Es trägt die Überschrift Die Revolution von 1989.

Er trank einen Schluck aus dem bis jetzt unberührten Wasserglas, klärte die Kehle, blätterte nach der gesuchten Seite.

Also: Die Revolution unsrer Tage wird nicht auf ein einziges dramatisches Ereignis fixiert sein. Sie muss viele Festungen zu Fall bringen und ihre Insassen befreien: ohne Pulverdampf und Triumfgeschrei, vielmehr durch den stetigen Gegendruck der Bedrückten, unterstützt von der Desertion des Herrschaftspersonals, vor allem aber durch geschickte Nutzung unvermeidlicher Krisen in den nicht mehr funktionierenden Systemen. Je geringer die Turbulenzerscheinungen sind, die solche Umwälzungen begleiten, desto größer werden ihre Erfolgsschangcen sein. Oft genug haben Revolutionäre ihre Zukunft schon von Anfang an verspielt, weil sie sich das gesamte „Establishment“ zum Todfeind machten, statt möglichst viele für ihre bessere Sache zu gewinnen.

Unentbehrliche Voraussetzung jedes demokratischen Veränderungsbemühens ist die nie aufhörende Information einer weiten Öffentlichkeit. Wir leben zweihundert Jahre nach Proklamation der Pressefreiheit immer noch und wieder in Unwissenheit über viele der entscheidenden Fakten, die unsere Zukunft bestimmen. In den Laboratorien und Versuchsstätten sind die dort Arbeitenden zur Geheimhaltung des von ihnen geschaffenen Herrschaftswissens verpflichtet... Um dieser Situation entgegenzuarbeiten, hat innerhalb der Widerstandsbewegung eine ‚neue Aufklärung’ begonnen. Kritische Wissenschaftler, Techniker, Jurnalisten und Videofilmer bemühen sich, geheimgehaltenes Wissen bekannt und im Fachjargon verschlüsselte Kenntnisse so verständlich zu machen, dass alle diejenigen, die erfahren wollen und erfahren müssen, was man mit der Umwelt und mit ihnen vorhat, sich auf eignes Handeln vorbereiten können.

Es ist eines der hoffnungsvollsten Fänomene unsrer Tage, dass die Zersplitterung, das Durcheinander der Erkenntnisse nicht länger hingenommen wird. Die Bemühungen, ‚systemisch’, ‚vernetzt’ und ‚zukunftsbezogen’ zu denken, haben zwar erst wenig praktische Wirkung gezeigt. Es ist aber zu erwarten, dass aus dieser anderen Einstellung ein grundverschiedenes Handeln erwächst, welches die kritischen Probleme der wissenschaftlich-technischen Zivilisation eher meistern könnte.

Die Kenntnisse, wie Sonne, Wind und pflanzliche Biomasse effizienter als bisher nutzbar gemacht werden können, sind seit der Krise der Atomenergie und dem absehbaren Ende der irdischen Ölvorräte entscheidend verbessert worden. Notwendig sind jetzt durch öffentliche Mittel gestützte Vorhaben, wie sie die Atomforschung Jahrzehnte hindurch erhalten hat. In ihnen sollten und könnten bevorzugt Menschen beschäftigt werden, die durch den Strukturwandel der Industrie ‚freigesetzt’ wurden. Befreit aus dem Status einer ‚Reservearmee der Industrie’ könnten sie Pioniere einer menschlichen und umweltfreundlichen Zivilisation werden. Aus den Arbeitslosen würden Andersarbeitende werden!

In diesem Sinne, sagte Jungk nun ohne Buch zu seinem Publikum, möchte ich den Männern und Frauen von Rheinhausen empfehlen, sich von ihrer Niederlage nicht in Resignation treiben zu lassen, sondern ihre Qualifikationen zum Ersinnen sanfterer technologischer Produkte und Herstellungsmetoden zu nutzen.


Brücke der Solidarität Foto: Raimond Spekking
Von den Rheinhausenern Krupp-Arbeitern 1988 im Streik besetzt erhielt sie den Namen „Brücke der Solidarität“ | Foto: Raimond Spekking

Selbst wenn zunächst nur ein kleiner Teil der revolutionären Umgestaltung geleistet werden könnte, käme solchen sozialen Experimenten außer ihren praktischen Resultaten sofort eine starke seelische Wirkung zu. Wir haben erlebt, wie schon die Vernichtung eines Bruchteils der Atomrüstung, wie sie in dem zwischen Gorbatschow und Reagan ausgehandelten INF-Vertrag vorgesehen ist, die Menschen aufatmen ließ. Jahrzehntelang wurden Tausende von Milliarden einer sogenannt glaubhaften Abschreckung geopfert – also einem letztlich psychischen Effekt.

Nun müssen beträchtliche öffentliche Mittel einer glaubhaften Ermutigung gewidmet werden: dem Entstehen einer neuen Stimmung, eines seelischen Klimas fortschreitender hoffnungsvoller Erwartung. Der Brundtland-Bericht, im vorigen Jahr vor die Weltöffentlichkeit gebracht, begann mit den Worten: „Mitten im 20. Jahrhundert sahen wir unsern Planeten zum ersten Mal aus dem Weltall, und wir sahen eine kleine zerbrechliche Kugel, die nicht von menschlichen Aktivitäten und Bauwerken geprägt war, sondern von einem Muster aus Wolken, Ozeanen, grünem Land und Böden.“

Think globally, act locally – das ist der Grundgedanke des planetarischen, biozentrischen Denkens, wie es der britische Forscher, mein Freund James Lovelock entwickelt hat. Unser Planet erscheint als ein komplexer, mit Sonnenenergie gespeister Körper, ein vernetztes Ganzes, ein sich selbst regulierendes System mit ungeheuer vielfältigen Wechselwirkungen, deren Teil wir sind und in das wir heute so störend eingreifen, dass die Selbstregulierung des irdischen Kosmos in unsrer Vernichtung bestehen kann. Deshalb benutze ich hier das mächtige Wort von der notwendigen Revolution.


Erasmus Schoefer mit Werk Foto: Andreas Neumann Arbeiterfotografie
Erasmus Schoefer mit „Kinder des Sisyfos“                
Foto: Andreas Neumann, Arbeiterfotografie






Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch
in dieser Ausgabe der NRhZ die Antworten auf den Fragekatalog aus der Ausstellung
„68er Köpfe“ der Arbeiterfotografie.




Online-Flyer Nr. 168  vom 15.10.2008

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