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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Globales
Über die Arbeit von „Machsom Watch“ an den Checkpoints im Westjordanland
„Wir sind in Israel die Ausgestoßenen“
Von Philipp Holtmann

Dient die Enteignung, Unterteilung, Besiedlung und Abschottung des Westjordanlandes, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Menschenrechte der Palästinenser der Sicherheit Israels? Oder hauptsächlich dem Schutz von mehr als 250.000 jüdischen Siedlern in dem seit 1967 besetzten Gebiet? Ist es gar eine gezielte Politik der Schikane, die es zweieinhalb Millionen Palästinensern unmöglich machen soll, in ihrer Heimat zu leben?

Im politischen und militärischen Diskurs des Staates Israel dominiert der Konsens, dass alle Bewegungseinschränkungen der Palästinenser sicherheitsrelevant sind. Diese Ansicht teilt auch die Mehrheit der israelischen Bürger.

Die Mauer bei Abu Dis Foto: Bright Tal
„Sicherheitsrelevante Bewegungseinschränkung“?! – die Mauer bei Abu Dis
Foto: Bright Tal

Die Frauenorganisation Machsom Watch, auf Deutsch „Kontrollposten-Wache“, gehört zum harten Kern der israelischen Menschenrechtsbewegungen, die sich dem breiten Konsens widersetzt. Ihre Arbeit: Frauen beobachten das Verhalten israelischer Soldaten gegenüber den passierenden Palästinensern. Ihre These: Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die Israel den Palästinensern mit den Checkpoints auferlegt, dienen nicht der Sicherheit. Sie sind ein elementares Instrument der Besatzung, deren Ende nicht in Sicht ist. Zu groß seien Israels politische, wirtschaftliche und strategische Interessen am Westjordanland. Am 1. September wurde Machsom Watch der Aachener Friedenspreis verliehen.

Das hebräische Wort „Machsom“ bedeutet auf Deutsch „Barriere“, „Hindernis“ und „Maulkorb“. Die häufigste Verwendung im Hebräischen ist „Kontrollposten“. „Machsom „ gehört zum alltäglichen Sprachgebrauch in Israel und den besetzten Gebieten. Machsom Watch wurde im Februar 2001 gegründet. Nach einem Vortrag der israelischen Journalistin Amira Hass über hochschwangere palästinensische Frauen, die an Checkpoints entbinden mussten, machten sich fünf israelische Frauen eines Morgens auf den Weg zum Kontrollposten Nummer 300 in der Nähe von Bethlehem. Den verdutzten israelischen Wachsoldaten erklärten sie, sie wollten den Sonnenaufgang auf „der anderen Seite“, der palästinensischen, betrachten.


Checkpoint bei Beit Iba Foto: michaelramallah
Checkpoint bei Beit Iba | Foto: michaelramallah

Bald nach der „Sonnenaufgangsexpedition“ wuchs die Zahl der Mitglieder von fünf auf dreißig, seit 2005 zählt Machsom Watch bereits etwa 300 Frauen. Es sind meist ältere Frauen, Mütter und Großmütter. Sie beobachten das Verhalten der Soldaten an den Kontrollposten und schreiten notfalls ein, wenn Palästinensern Gewalt angetan wird. Es gibt drei Hauptgruppen, je eine ist für das südliche, zentrale und nördliche Westjordanland zuständig. Gemäß ihren Wohnorten nehmen die Frauen aus Tel Aviv, zum Beispiel, an Schichten im nördlichen Westjordanland teil, während diejenigen aus Jerusalem in das zentrale und südliche Westjordanland fahren. Jeder Tag ist zwei Schichten pro Gruppe eingeteilt, eine morgens und eine abends statt. Die Organisation ist nicht hierarchisch aufgebaut, alle Grundsatzentscheidungen werden gemeinsam getroffen. Etwa 70 Prozent der Frauen arbeiten vor Ort, während der Rest organisatorische Aufgaben erledigt.

No independence Foto: Bright Tal
Graffiti in Israel: „Solange die Besetzung
andauert, habe ich keine Unabhängigkeit!"     
Foto: Bright Tal
Die Präsenz der Frauen soll deeskalierend wirken. Regelmäßig werden aber die Machsom- Watch-Frauen selbst Opfer von Gewalt durch radikale jüdische Siedler und rechtsextreme Organisationen wie „Kachol-Lavan“, „Blau-Weiß“, die aus dem Raum Haifa kommen. Tami Cohen, 78, aus Tel Aviv, die noch in der Zeit des Jischuw, der vorstaatlichen jüdischen Besiedlung Palästinas, in der jüdischen Spezialeinheit der „Palmach“ für Israels Unabhängigkeit kämpfte, wurde bereits zweimal bei solchen Attacken durch Radikale verletzt. „Die Gruppe Kachol-Lavan ist sehr gewalttätig“, sagt Cohen. „Und wenn die Polizei bei solchen Attacken auch uns verhaftet, werden die Opfer den Tätern gleichgestellt!“

Die Frauen von Machsom Watch sind alles andere als „jüdische Selbsthasserinnen“, oder „irrationale Linke“, die ihren Staat und die Gesellschaft anschwärzen. Im Gegenteil, sie bezeichnen sich als Patriotinnen. Viele der Frauen kommen aus den Gründerfamilien, die dem zionistischen Ideal tief verbunden sind. Die meisten sind mittel- und osteuropäisch-jüdischer Herkunft, sie stammen aus Familien, die direkt vom Holocaust betroffen waren. In den letzten Jahren, im Zuge des Beitritts hunderter neuer Mitglieder, kam es aber auch innerhalb von Machsom Watch zu ideologischen Differenzen. Ein größerer, rein humanitär-israelisch orientierter Flügel und ein kleinerer, politisch links orientierter Flügel, darunter die Gründerinnen der Organisation, bildeten sich heraus.


Ghetto Wall around Palestine Foto: Bright Tal
Graffiti am „anti-palästinensischem Schutzwall" bei Abu-Dis | Foto: Bright Tal

Während der humanitär orientierte Teil der Frauen der eigenen Gesellschaft gegenüber politisch gemäßigt gegenübersteht, übt das linke Spektrum von Machsom Watch scharfe Kritik am israelischen Narrativ hinter der Besatzung. Sie sagen, dass die Besatzung schwere Auswirkungen auf die israelische Zivilgesellschaft hat, in der Gewalt, Rassismus, Sexismus und Militarismus jüdisch-humanistische Ideale zu verdrängen drohen. Den Frauen geht es um grundlegende ideologische Probleme in der israelischen Gesellschaft. Schließlich sehen sie sich als Mütter, die Kinder gebären und erziehen und somit immer wieder aufs Neue die Gesellschaft erschaffen.

Beide Flügel haben jedoch eins gemeinsam: Sie sind gegen die Besatzungspolitik und das Unrecht, das den Palästinensern im Westjordanland angetan wird. Jedem Beobachtungseinsatz an den Checkpoints folgt ein Bericht, der im Internet veröffentlicht wird. Einige der Frauen hoffen, dass ihre ausführliche Dokumentation eines Tages dazu beitragen wird, den Staat Israel vor einem internationalen Gerichtshof wegen Kriegsverbrechen an der palästinensischen Zivilbevölkerung zur Verantwortung zu ziehen.

Dafna Banai Quelle: womenspeacepower.org
Dafna Banai in Verhandlung am Checkpoint   
Quelle: womenspeacepower.org
Dafna Banai aus Tel Aviv wollte im Sommer 2002 im Rahmen einer humanitären Aktion gemeinsam mit Bekannten Insulin in ein palästinensisches Dorf nördlich von Nablus bringen. An einer Straßenkreuzung wurde sie von einem jüdischen Siedler bedroht. Er hielt Banai seine Pistole an den Kopf und drohte, sie umzubringen. Banai fiel danach geschockt in Ohnmacht. Kurz darauf schloss sie sich Machsom Watch an, in der sie eine geeignete Plattform sah, um ihre eigene Form von israelischem Patriotismus zu praktizieren.


 
„Man kann nicht gegen Antisemitismus kämpfen und gleichzeitig ein anderes Volk unterdrücken (Roni Hammermann, Machsom Watch)“

 „Wir sind Ausgestoßene in der israelischen Gesellschaft“, sagt die 59-jährige Banai im Gespräch mit der „Jüdischen Zeitung“. Banai sitzt in einem Berliner Café unweit des Geburtshauses ihrer Großmutter in der Rodenbergstraße, die von hier aus als 13-Jährige vor den Nazis floh. „Mit unserer Arbeit rütteln wir an den Grundpfeilern der Armee“, erklärt sie. „Die Armee kommt in Israel gleich nach Gott. Wir versuchen jedoch die Botschaft zu übermitteln, dass wir Unterdrücker sind, dass unsere Söhne die Arbeit von Unterdrückern verrichten. Sie werden einer Gehirnwäsche unterzogen. Wenn sie dann am Checkpoint stehen, hassen sie die palästinensische Bevölkerung und können in ihr nichts anderes mehr sehen als Terroristen.“

Bereits Kinder würden laut Banai dazu erzogen, den Armeedienst zu glorifizieren. Als ihr Sohn einmal im Kindergarten durch unruhiges Verhalten auffiel, fragte die Kindergärtnerin Banai bestürzt, ob aus ihm jemals ein guter Soldat werden würde. „Die jüdische Gesellschaft ist schlimmer militarisiert als die palästinensische“, meint Banai. Durch das wichtigste gesellschaftliche Übergangsritual, den für Frauen zwei und für Männer drei Jahre währenden Militärdienst, würden vielen jungen Israelis restliche Vorbehalte gegenüber Aggression und Gewalt zerstört. Viele Israelis wollen deshalb in eine imaginär heile Welt fliehen, der Realität könnten sie nicht mehr ins Auge schauen. Als Banai vor Mitgliedern der gemäßigten Meretz-Partei einen Vortrag von Machsom Watch mit Bildern aus dem besetzten Westjordanland hielt, musste dieser abgebrochen werden, weil die Zuschauer es nicht mehr aushielten. „So sieht es nun einmal aus – ein Apartheidsystem, das jeden Aspekt des täglichen Lebens der Palästinenser in der Westbank betrifft“, meint Banai lakonisch.

Checkpoint Beit Iba Foto: michaelramallah
Alltägliche Apartheid am Checkpoint Beit Iba | Foto: michaelramallah

Daniela Yoel, 65, orthodoxe Jüdin aus Jerusalem und eine der Gründerinnen von Machsom Watch, bestätigt Banais Erfahrungen. Sie lebt ein schizophrenes Leben: Auf der einen Seite ist sie orthodoxe Jüdin, auf der anderen politische Aktivistin. Sie ist eine Zabarit, eine in Israel Geborene, und stammt aus einer national-religiösen Familie. In den Augen vieler Bekannter, auch ihrer Familie, passten ihre Herkunft und die Tätigkeit bei Machsom Watch nicht zusammen. Sie fänden es angenehmer, wenn Yoel „schweigen würde“, anstatt zu berichten. Doch schweigen wollte Yoel nie.

„Sicherheit“ sei der neue Gott der israelischen Gesellschaft, sagt sie. Dies produziere eine Gesellschaft, die blind dem Militär folge und keine eigenständigen Meinungen mehr vertrete. Somit gehe die jüdische Tradition des skeptischen Hinterfragens vollständig verloren. „Doch gerade solch eine Kultur brauchen wir, denn die Besatzung schafft auf systematische Art und Weise Gesetze der Diskriminierung. Dabei sind die Rabbiner, welche der Besatzung indifferent gegenüberstehen, die größten Verbrecher!“, meint die Orthodoxe.

Auch Gott sieht Yoel nicht als den richtigen Adressaten. Hier müssten Staat und Gesellschaft einwirken. Im Gespräch über ihre Erfahrungen bei Machsom Watch schildert Yoel eine Situation, die bei ihr ein Trauma hinterlassen hat: Eine hochschwangere palästinensische Frau wurde an einem Checkpoint nicht durchgelassen und gebar Zwillinge, die beide noch vor Ort verstarben. Kurze Zeit darauf brachte auch Yoels Tochter Zwillinge zur Welt. Jedes Mal, wenn Yoel nun ihre beiden Enkel sieht, muss sie an den schrecklichen Vorfall am Checkpoint denken, dessen Zeugin sie wurde. Dies erzeuge in ihr ein Gefühl „kognitiver Dissonanz“, symbolisch für die jetzige Gesamtsituation, sagt sie. (CH)


Lesen Sie in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Philipp Holtmanns Artikel, der im Original in der „Jüdischen Zeitung“ erschien.
Hier zur Webseite von „Machsom Watch






Online-Flyer Nr. 166  vom 01.10.2008

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