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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Leben mit einer Dose Hundefutter am Tag
Irrsinn oder Planung?
Von Hans-Dieter Hey

In Deutschland reichen 132 EUR im Monat zum Leben aus. Das sollen Prof. Dr. Friedrich Thießen und Christian Fischer von der TU Chemnitz ausgerechnet haben, heißt es in diversen Medien – also eine Dose Hundefutter am Tag für Arbeitslose. Denn Arbeit und Anerkennung seien wichtiger als Geld, meinen die Herren. Das bedeutet aber: 351 Euro im Monat durch Hartz-IV sind eigentlich mehr als genug, wenn man beim Arbeiten Anerkennung gewinnt. Träumt da jemand in Chemnitz die Arbeitgeber-Vision „Hartz-XXL oder Billiglohn für alle"? Vorstöße dieser Art können durchaus als Warnung vor der nächsten Großen Koalition oder vor schwarz-gelb verstanden werden.

Hartz-IV-Regelsatz ist Produkt politischer Willkür

Offenbar ist dem Chemnitzer Professor und seinem Kollegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht geläufig, nach dem die Menschenwürde unantastbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat dargelegt, dass das Existenzminimum einerseits von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt und von dem, was unsere Kultur- und Wertegemeinschaft festlegt – einerseits. Doch – andererseits – können solche Festlegungen auch ziemlich willkürlich ausfallen, denn der Politik steht dabei ein recht großer Spielraum zu. Auch das sagt das Bundesverfassungsgericht. Beispielsweise müssen Asylbewerber mit 225 EUR im Monat auskommen, was eine Senkung auf diesen Betrag für alle theoretisch möglich macht. Inzwischen dürfte deshalb das Prinzip unseres sogenannten „Sozialstaats" einigen hierzulande in einem anderen Licht erscheinen.

Das Existenzminimum wird zwar alle fünf Jahre aus der Verbrauchsstatistik errechnet, aber an den einzelnen Artikeln des sogenannten „Warenkorbs" werden so lange Abschläge vorgenommen, bis der Regelsatz für die Politik „passend" gemacht ist. Dabei erfolgt die Festlegung des Regelsatzes nicht in Anlehnung an die Preiserhöhungen für den täglichen Lebensbedarf, sondern richtet sich nach der Anpassung der Renten – und die werden ebenso willkürlich und realitätsfremd festgelegt.


Gesetze und die Folge: Klagen über Klagen
Foto: arbeiterfotografie.com

Bestimmend für den Regelsatz ist auch das Lohnabstandsgebot. Danach müssen Sozialtransfers niedriger ausfallen, als die durchschnittlichen Einkommen der sogenannten unteren Lohngruppen. Doch wenn die Reallöhne – wie in den letzten Jahren – sinken, sinkt auch die Lohnbasis für die Festlegung des Regelsatzes. Wenn gleichzeitig noch die Preise steigen, hat das dann mit einer wirklichen Existenzsicherung kaum noch etwas zu tun. Merkwürdig erscheint auch folgendes: Inzwischen bekommen zwei Millionen Menschen zusätzlich zu ihrem Verdienst Hartz IV-Ausgleich. Hier findet das Lohnabstandsgebot merkwürdigerweise keine Berücksichtigung mehr, weil ja finanziell durchs Amt „draufgesattelt" wird. Insgesamt erhalten – darauf ist gegen alle Medienverlautbarungen hinzuweisen – zur Zeit ca. 7,3 Millionen Menschen Hartz IV.

Seit Jahren protestieren deshalb Wohlfahrtsverbände, Kirchen und seriöse Wissenschaftler, die nicht an der TU Chemnitz forschen, dagegen, dass der Regelsatz bei Hartz IV lebensfremd ist und durch die Regierung von SPD und Grünen unter Zugrundelegung speziell dafür zurechtgebogener statistischer Werte festgelegt wurde. Er ist heute rund 20 Prozent niedriger als die Sozialhilfe von 1998. Manche dürften sich an eine damals veröffentlichte Befragung unter Bundespolitikern erinnern, laut deren Ergebnis kaum einer von denen über die Hartz-Gesetze Bescheid wusste. Dieser politischen Ahnungs- und Verantwortungslosigkeit sind inzwischen Millionen BürgerInnen zum Opfer gefallen, weil sich offenbar niemand im Parlament dafür interessierte. Ohnehin wurden die Hartz-Gesetze wesentlich durch Wirtschafts- und Lobbyisten-Verbände wie der Bertelsmann-Stiftung beeinflusst und mit vorbereitet.

Sozialer Rechtsstaat ade


Inzwischen landen die so entstehenden Probleme mehr und mehr bei den Sozialgerichten, weil die Menschen Hartz-IV als willkürliche Verarmungspolitik empfinden und mit dem Regelsatz nicht auskommen. Doch Sozialgerichte heißen nicht unbedingt so, weil sie immer „sozial" entscheiden. Vor allem das Bundessozialgericht hat sich in der Frage der Existenzsicherung durch den Regelsatz nicht gerade mit Ruhm bekleckert und ihn für verfassungskonform erklärt. Allein das Hessische Landessozialgericht bewies kürzlich den Mut eine Studie zu verlangen, die feststellen soll, unter welchen Umständen der damalige Regelsatz von der Bundesregierung ermittelt wurde. Zweifel an der damaligen Berechnung sind nämlich durchaus angebracht. Erwerbslose, die gegen jeden neuen Bescheid von der Arbeitsagentur Widerspruch einlegen, könnten daher von einem positiven Ergebnis profitieren. Doch allein darauf kann man sich nicht verlassen. Notwendig wäre der politische Widerstand der Menschen.


So – oder welche Gesellschaft wollen die Bürgerinnen und Bürger?
Kollage: arbeiterfotografie.com

Laut Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 5. September wehren sich Thießen und Fischer inzwischen gegen Vorwürfe. Sie hätten keine Kürzung des Regelsatzes auf 132 EUR verlangt. Sie weisen allerdings darauf hin, dass sie ihre Berechnung entsprechend den politischen Zielen der Grundsicherung durchgeführt hätten. Danach – so die SZ – seien die 132 EUR im Monat „nicht mehr als eine Ableitung aus einer zwar sehr eng gefassten, aber unter nüchterner wissenschaftlicher Betrachtung zulässigen Interpretation der politischen Ziele der sozialen Mindestsicherung". Der Sozialexperte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Dr. Rudolf Martens (siehe NRhZ 158), findet sich durch die Studie aus Chemnitz an die Armenfürsorge um 1900 erinnert.

Für eine Erhöhung des Regelsatzes kommen aus der großen Koalition jedenfalls keine positiven Zeichen für die nächste Legislaturperiode dazu. Im Gegenteil: Vor allem Kreise der CDU haben schon häufiger eine Senkung verlangt, obwohl es von Bundeskanzlerin Angela Merkel inzwischen Dementis gibt. Auch die SPD ist durch den Rücktritt von Kurt Beck und dem Come-Back von Müntefering noch weiter nach rechts gerückt. Vom Tisch ist das also nicht. Doch solche Entwicklungen könnten die Menschen durchaus als weiteren Angriff auf das Sozialstaatsprinzip verstehen, nach dem ja durchaus auch ein höherer Regelsatz möglich wäre.

Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) verfolgt inzwischen kranke Erwerbslose und stellt sie unter Generalverdacht. Seine angekündigte „Vollbeschäftigung" sollte man zudem ruhig im Zusammenhang mit der Grundsicherung sehen. Das Thema „Bürgerarbeit" ist nämlich ebenfalls noch nicht vom Tisch. Und ob die Zukunft der sozialen Sicherung demnächst Zwangsarbeit für 351 EUR plus Miete (ca. 4,50 EUR die Stunde) bzw. ein gesetzlicher Mindestlohn in dieser Höhe oder als Alternative 132 EUR fürs Hundefutter bedeuten wird – die Verpackung unseres Grundgesetzes, auf der ja „freiheitlicher, demokratischer und sozialer Rechtsstaat" draufsteht, bedeutet so oder so noch lange nicht, dass wir auch wirklich einer sind. In Deutschland muss man übrigens mit allem rechnen. (HDH)

Online-Flyer Nr. 163  vom 10.09.2008

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