NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 19. Mai 2024  

zurück  
Druckversion

Lokales
Ein dickleibiger Band zur Sozialpolitik und Geschichte der BAYER AG
Aber: Stimmt die Chemie wirklich? – Teil 3
Von Manfred Demmer

„Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns“ ist der Titel eines 2007 im Essener Klartext erschienenen, 472 Seiten starken Buches, das - trotz mancher Wertungen, die man nicht teilen muss - in die Hand eines Jeden gehört, der an der Geschichte des Bayer-Konzerns, an den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bayer-Arbeiter interessiert ist. Hier im dritten Teil der Rezension geht es um Beiträge von Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsratsmitgliedern.

Werner Bischoff, Hauptvorstandsmitglied der IG Bergbau, Chemie, Energie und dort zuständig für Tarifpolitik, unternimmt in seinem Beitrag den Versuch „Tarifpolitische Probleme in der Chemieindustrie und ‚bei Bayer’“ zu schildern, wobei auch „Historische Schlaglichter“ angesprochen werden. Aktive, an den Interessen der Belegschaft orientierte Gewerkschafter dürften hier zu manchen Punkte kritische Anmerkungen machen.
 
Die „Mitbestimmungs-‚kultur’ bei Bayer in der Praxis: Betriebliche Aus- und Fortbildung“ untersuchen Jörg Feldmann und Uwe Menzen. Wörtliches Fazit der beiden Betriebsräte: „Wenn auch beide Seiten grundsätzlich unterschiedliche Interessen vertreten, zeigt die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Aus- und Fortbildung doch, dass sowohl der Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, die Qualifizierungsmöglichkeiten der Mitarbeiter zu fördern. Hier haben sich Formen der Zusammenarbeit herausgebildet, deren Beibehaltung auch in Zukunft eine praktikable Lösung kommender Probleme möglich machen wird.“ ( S.318)
 
Frauenerwerbsarbeit und Gleichstellungspolitik
 
Betriebsrätin Roswitha Süßelbeck behandelt in ihrem informativen Beitrag die „Frauenerwerbsarbeit und Gleichstellungspolitik bei Bayer im Überblick“. Direkt zu Beginn konfrontiert sie den Leser mit der Haltung Carl Duisbergs, der 1898 schrieb: „Meiner persönlichen Ansicht nach hasse ich überhaupt alles chemisch-weibliche und wünsche, dass die Damen alles andere, nur nicht Chemie studieren, da sie hierzu schlecht geeignet sind.“


Hielt nicht viel von Gleichberechtigung –       
Carl DuisbergQuelle: KAOS-Archiv
In der weiteren Darstellung finden sich Hinweise auf die schlechten Arbeitsbedingungen und langen Arbeitszeiten bei Bayer. Dabei wird auch ein sechswöchiger Streik im Jahr 1904 bei Bayer erwähnt, der „im Sande verlief.“ Die Direktion verlangte von allen Arbeitern die Zusicherung ihrer Nichtzugehörigkeit zu einer Arbeiterorganisation. Die, die sich weigerten, der Erpressung nachzugeben, flogen auf die Straße. Aber, so stellt die Autorin fest, „Schritt für Schritt wurden soziale Einrichtungen geschaffen, die auch den Familien der Arbeiter zu gute kamen.“ Man wird, wie schon in Folge 1 angedeutet, in diesem Zusammenhang das angebliche soziale Verhalten von Duisberg hinterfragen müssen. Das wird untermauert, bei der Darstellung des, nach dem Streik entstandenen, „Frauenvereins“, der seine Hauptaufgabe in der Unterstützung von Werksangehörigen sah, wobei die Entscheidungshoheit über „Bedürftigkeit“, wie Süßelbeck feststellt „letztendlich beim Vorstand der Farbenfabriken“ lag. Auch das 1906 eröffnete Mädchenheim galt als soziale Tat, unterwarf aber dessen Bewohnerinnen Verhaltensregeln, die bei Zuwiderhandlung strenge Maßnahmen nach sich zogen.
 
In diesem Aufsatz wird auch detailliert die Entwicklung der Frauenarbeit bei Bayer (besonders in der Zeit des ersten Weltkrieges geschildert: „Von 1914 bis 1917 stieg der Anteil der Frauen von rd. 600 auf rd. 2200, das heißt von 9.4% auf fast 25 %“ (S.322). Die Entlohnung war dabei sehr unterschiedlich. Bekam z.B. ein Handwerker im Oktober 1914 0,61 Mark Stundenlohn, so betrug der für Arbeiterinnen 0,31 Mark. Und im Juli 1919 war das Verhältnis noch schlechter: 2,57 Mark zu 1,02 Mark. (S.322) Die Autorin weist auch darauf hin, dass diese Lohndiskriminierung keineswegs eine Erscheinung des Krieges war, sondern in der Weimarer Republik fortgesetzt wurde - „mindestens bis in die 1950er Jahre“.
 
Kommunisten als erste dran
 
Nicht schlecht wäre es gewesen in diesem Zusammenhang gewesen, wenn die Autorin auch darauf verwiesen hätte, dass sich 1921 für eine Veränderung dieser Lohndifferenz, wie für den Erhalt des im Gefolge der Novemberrevolution erkämpften Achtstundentages, Bayer- Beschäftigte in Leverkusen in Arbeitskämpfen einsetzten. Die Antwort der Direktion: Aussperrung von 8.300 Arbeitern. Auch zwei Jahre später, im August 1923, standen die Bayer-Kollegen wieder in einem Arbeitskampf, in dem sie angesichts der Inflation eine „Wirtschaftbeihilfe“ forderten. Antwort der Bayer-Bosse: Polizeieinsätze gegen Streikende. In einem Artikel der Bergischen Arbeiterstimme vom 31.1.1933 hieß es dazu: „Den vereinten Bemühungen der Staatsmacht, der Bürokratie des ADGB und der Führer der christlichen Gewerkschaft gelang es am 4. Tag die Streikfront zu sprengen.“ Als sich angesichts solcher Erfahrungen die Arbeiter und Arbeiterinnen zu Recht wehrten, ließ die Unternehmerseite die „Unruhestifter“ aus dem Betrieb entfernen. Dass dabei kommunistische Kolleginnen als erste dran waren, erlebte die spätere langjährige Vorsitzende der Kulturvereinigung Leverkusen e.V., Cilly Müller. Sie wurde - nach sieben Jahren Betriebszugehörigkeit - wegen ihres Engagements entlassen. Zur Begründung wurde angegeben, sie sei für die Arbeit „ungeeignet“. Daraufhin sagte sie ihrem Meister: „ Dann tut es mir aber leid, dass der Betrieb solange brauchte um dies festzustellen!“

Doch auch Kollegin Süßelbeck liefert viele Beispiele dafür, wie mühsam sich der Prozess zur Chancengleichheit von Männern und Frauen im Betrieb vollzog. „Langsam bewegte sich der Betriebsrat…“, schreibt sie. Und abschließend: „Mit vielen kleinen Schritten haben wir in den letzten Jahren schon viel erreicht. Aber wir sind auch ungeduldig. Wir wollen mit großen Schritten zum Ziel. Das gelingt nur, wenn die Unternehmensleitung, aber auch unsere Betriebsratskollegen, Gleichstellungspolitik ernst nehmen. Auch in schwierigen Zeiten muss Gleichstellungspolitik eine hohe Priorität haben“. (S.334)
 
Oliver Zühlke, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, der von 1988 bis 1994 Jugend- und Auszubildendervertreter war, liefert anschließend eine „Momentaufnahme betrieblicher und gewerkschaftlicher Jugendarbeit in den 1980er und 90er Jahren“. In einem zweiten Betrag befasst sich der Mitherausgeber des Bandes, Karl-Otto-Czikowski (Gewerkschaftsmitglied seit 1980, seit 1983 bei Bayer AG im Zentralbereich Personalwesen „administrativ zuständig für die Betriebsräte im Unternehmen“) mit „Angestellten und Angestelltenvertretungen“.

Dabei wird  die Diskrepanz zwischen der Zahl der beschäftigten Angestellten und den in der Gewerkschaft organisierten Kollegen deutlich. Nur knapp 21 Prozent waren im Jahre 2000 in der IG BCE organisiert. In der Tat: „Zeit also für eine neue Offensive!“ - Diese (und nicht nur die für die Angestellten) wird - so darf man mutmaßen - aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie den Interessen der Kollegen gerecht wird und wenn diese Offensive dazu dient, wieder mehr die Basis in die Entscheidungen über ihre Interessen einzubeziehen.

Kein nazifreier Raum
 
Im Beitrag der beiden Betriebsräte Dimitrios Labrianidis und Alessandro Sandri über die „Interessenvertretung der ausländischen Arbeitnehmer in der Bayer AG“ wird der mühevolle Weg sichtbar, zu einer Interessenvertretung, der schon 1972 rund 10% von der Gesamtbelegschaft betragenden ausländischen Bayer-Werktätigen zu kommen. Die mangelnde Unterpräsentierung der ausländischen Belegschaft im Betriebsrat habe, neben den Problemen einer damals unerfahrenen ersten Generation mit einer Listenwahl, ihre Gründe auch „in der mangelnden Bereitschaft und Weitsichtigkeit der damaligen führenden und verantwortlichen Funktionäre“ gehabt. (S. 367) Bei der Betriebsratwahl im Mai 1972 wurde dann zwar der damals schon bekannte gewerkschaftliche Vertrauensmann Labrianidis in den Betriebsrat gewählt – „prozentual wären allerdings aufgrund der Anzahl der ausländischen Mitarbeiter bei der Bayer AG in Leverkusen fünf BR-Mandate möglich gewesen“. (S.367)
 
In der Darstellung von „Formen der Betreuung von ausländischen Kolleginnen und Kollegen durch den Betriebsrat“ wird die Vielfältigkeit dieser Arbeit sichtbar. Hier fehlen leider einige Ausführungen dazu, ob und in welcher Weise seitens der Betriebsräte versucht wurde, der immer stärker werdenden Hetze gegen ausländische Arbeiter zu begegnen - zumal ja Bayer kein „nazifreier Raum“ war und ist. Leverkusener Antifaschisten haben sich jedenfalls mit dieser Thematik befasst. Und auch die „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ (CBG) wies schon 2002 darauf hin, dass in den letzten Jahren mehrfach Mitarbeiter des Bayer-Werks Leverkusen offen für rechtsextreme Ziele warben.
 
Da war z.B. Dr. Hans-Ulrich Höfs, Abteilungsleiter bei Bayer in Leverkusen und Sprecher des Krefelder Forum Freies Deutschland, das regelmäßig in den Berichten des Verfassungsschutzes NRW auftaucht. Höfs gründete in Krefeld die Republikaner und gehörte zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs "Ja zu Deutschland - Ja zur NPD". Oder Hans-Dieter Stermann, Sprecher der rechten „Leverkusener Offensive“. Und ein Mitarbeiter von BAYER CROPSCIENCE warbt offen (sogar von seinem Arbeitsplatz aus) für die rechtsextreme Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo).
 
Kein Platz für die „Durchschaubaren“
 
Gegen solche und andere Entwicklungen luden am 5. Juni 2002 "Kolleginnen und Kollegen für eine durchschaubare Betriebsratsarbeit" zu einer Veranstaltung „Aktiv gegen rechts“ ins Gemeindehaus Carl Bosch-Straße ein, wo u.a. die Frage diskutiert werden sollte „Was können wir gegen Rassismus und Neofaschismus unternehmen?“ Da der ursprünglich zugesagte Saal dann aber doch nicht benutzt werden konnte (wer mag wohl ein Interesse daran gehabt haben?), wurde die Veranstaltung bei der Kulturvereinigung Leverkusen e.V. durchgeführt, wo dann auch Neonazis auftauchten. Angesichts aktueller Entwicklungen wie der verstärkten Aktivitäten von „Pro NRW“ wäre es schon wichtig gewesen, wenn in dem Band auch über solche Probleme informiert worden wäre und wenn die „Durchschaubaren“ darin auch einen angemessenen Platz gefunden hätten.
 
Weitere Beiträge von Rolf Nietzard/Paul Laux, beide langjährige Betriebsräte bzw. Vorsitzende, behandeln die „Betriebliche Kulturarbeit der Betriebsräte bei Bayer“. Und das „Bayer-Europa-Forum“ (1994 in seiner heutigen Form entstanden) wird „Von den Anfängen hin zu einem funktionierenden europäischen sozialen Dialog im Bayer-Konzern“ durch die leitenden Betriebsräte Hans Joachim Müller und Thomas de Win dargestellt. Dabei werden auch Fragen an das bei der Gründung des Europa-Forums federführende IG CPK- Vorstandsmitglied Hubertus Schmoldt gestellt. Seine Aussage: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinteressen auch auf europäischer Ebene wirkungsvoll vertreten werden" (S.387) wird man angesichts der Erfahrungen, die die „Arbeitnehmer“ in Leverkusen z.B. schon mit dem „sozialen Dialog“ vor Ort machen mussten, mehr als hinterfragen dürfen.


IG BCE-Chef Hubertus Schmoldt:
„Arbeitnehmerinteressen wirkungsvoll
vertreten“ | Quelle:
www.initiative-fuer-beschaeftigung.de
Zur Thematik passt auch der Beitrag des führenden europäischen Chemiegewerkschafters Reinhard Reibsch, der den Europäischen Betriebsrat unter der Fragestellung „Papiertiger oder Exportschlager der Mitbestimmung?“ behandelt. Die Darstellung wirft viele Fragen auf, die von Kolleginnen und Kollegen, die gegen die ungehemmte Macht der Chemiekonzerne und den sich daraus ergebenden Gefahren kämpfen, untersucht werden müssten.
 
Thomas de Win lobt in einem weiteren Beitrag „Von Bayer zu Lanxess“ die Mitbestimmung als wesentlichen Baustein der Umstrukturierung des Bayer-Konzerns. Der Leiter des Bereichs Human Rescurses Strategie und Politik im Corporate Center der Bayer AG, Wolfgang Schenk, untersucht die Rolle der Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten im Bayer-Konzern 1971 bis 2007. Auch hier werden sicher angesichts seiner Feststellung, dass es Bayer vor mehr als 35 Jahren verstanden habe, „die Mitbestimmung seiner Führungskräfte zu einer Erfolgsgeschichte werden zu lassen“ (S. 427) einige Fragezeichen bei informierten Lesern auftauchen.


Bayer-Boss Werner Wenning: „Kultur der Sozialpartnerschaft“
Quelle: NRhZ-Archiv
 
Abgeschlossen wird der Band durch ein Kapitel des Konzernbetriebsratsvorsitzenden (bis 2005) Erhard Gipperich mit dem Titel „Vom Alltag der Mitbestimmung in der Gegenwart: Ausschnitte aus dem Leben eines Betriebsratsvorsitzenden“ und ein Interview mit dem derzeitigen Vorsitzenden der IG BCE, Hubertus Schmoldt, und dem Vorstandsvorsitzenden der Bayer AG, Werner Wenning. Hier malen Fragen und Antworten im Großen und Ganzen das Bild einer „Kultur der Sozialpartnerschaft“, wie Wenning es formuliert (S.430). Und der Vergleich von Schmoldts und Wennings Aussagen lässt - bei allen erkennbaren Unterschieden - erkennen, dass zwischen den beiden die Chemie stimmt. Ob das allerdings als positiv für die Beschäftigten zu bewerten ist, darf angesichts der meisten Beschlüsse der Entscheidungsträger im Konzern mehr als bezweifelt werden.
 
Trotz solcher und anderer kritischer Anmerkungen, ist dieses Buch - ausgestattet mit hochinteressanten Grafiken und Bildern - ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Bayer-Konzerns und gehört deshalb in die Hände von Menschen, die sich mit dieser beschäftigen wollen. (PK)






„Stimmt die Chemie?
Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns“,
2007 im Essener Klartext-Verlag erschienen, 472 Seiten
 
Teil 1 und 2 dieser Rezension finden Sie in NRhZ 161/162
 
 
 

Online-Flyer Nr. 163  vom 10.09.2008

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE