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Arbeit und Soziales
Die Reform der Hartz-IV-Reform
Verfolgungsbetreuung plus – Teil 5/6
Von Prof. Dr. Michael Wolf

Das Manager-Magazin berichtete am 1. Oktober 2004, dass die Mehrheit der deutschen Manager von Hartz IV keine Beschäftigungseffekte erwartet haben, trotzdem waren 91 Prozent dafür. Warum? Für ihre neoliberale Sicht ist Erwerbslosigkeit selbstverschuldet und müsse bestraft werden. Inzwischen bedeutet Hartz IV ein ganzes System von Entrechtung und Enteignung, das für die derzeitige schwarz-rote Politik immer noch nicht ausgereizt scheint: Am 1. August trat das Hartz IV Fortentwicklungsgesetz in Kraft. Prof. Dr. Michael Wolf stellt uns die ganze Entwürdigung dar. Hier nun der vorletzte Teil. Die Redaktion

V: Von der Bespitzelung zur Einsparung  

Von den Maßnahmen mit einer größeren finanziellen Bedeutung sieht das Fortentwicklungsgesetz unter anderem vor, die flächendeckende Einführung von Außen- und Prüfdiensten (Sozialdetektive), eine ebensolche Durchführung automatisierter Datenabgleiche und Datenabfragen und eine regelmäßige telephonische Befragung von SGB-II-Leistungsbeziehern durch private Call-Center. Es wird davon ausgegangen, es seien hierdurch Einsparungen in Höhe von insgesamt rund 1,0 bis 1,3 Mrd. Euro zu erzielen. (vgl. BT-Drs. 16/ 1410: 36) Da die genannten Maßnahmen ihren repressiven Charakter nicht zu leugnen vermögen, verwundert es nicht, dass diese scharf kritisiert wurden, so zum Beispiel durch die Datenschutzbeauftragen von Bund und Ländern, die das Fortentwicklungsgesetz für datenschutzrechtlich bedenklich halten, weil ohne Zustimmung der Betroffenen die Tätigkeit der Sozialdetektive gegen das grundgesetzlich geschützte Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG verstoße und die Erweiterung des automatisierten Datenabgleichs einen massiven Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstelle (vgl. Datenschutzzentrum 2006). Mit einem geschätzten Betrag von rund 280 Mio. Euro nimmt hinsichtlich der erwarteten finanziellen Einsparungen das Sofortangebot nicht eine außergewöhnliche Stellung ein. Und doch läßt eine etwas genauere Betrachtung erahnen, welche eminente Rolle dem Instrument im Rahmen der „Verfolgungsbetreuung" zuzukommen vermag, namentlich vor dem Hintergrund der nicht von der Hand zu weisenden Gefahr, seitens der Arbeitsverwaltung zur Unterbreitung von „sinnlosen, auf Abschreckung zielenden Angeboten missbraucht zu werden " (Berlit 2006: 36).


Widerstand der „Überflüssigen" gegen bezahltes Denunziantentum
 
Die Regelung von § 15a SGB II sieht vor, dass jenen hilfesuchenden SGB-II-Neuantragstellern, die in den letzten zwei Jahren vor ihrer Antragstellung keine laufenden SGB-II- oder SGB-III-Geldleistungen bezogen haben, zum Zeitpunkt der Antragstellung unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern, Leistungen zur Eingliederung in Arbeit angeboten werden sollen. Angesichts der bestehenden Massenarbeitslosigkeit wird es sich hierbei zumeist um die sofortige Zuweisung in eine ein- bis vierwöchige Maßnahme zur Verbesserung der Eingliederungsaussichten nach § 48 ff. SGB III (z. B. Eignungsfeststellung, Bewerbertraining) oder in eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung nach § 16 III SGB II ("Ein-Euro-Job") oder um eine sofortige Vermittlung zu einer Leihbeziehungsweise Zeitarbeitsfirma nach § 37c SGB III handeln. Zu dem von der Regelung betroffenen Personenkreis, er umfasst schätzungsweise etwa 750 000 Antragsteller ohne vorherigen Leistungsbezug (vgl. BT-Drs. 16/1410: 36), dürften in der Regel Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten gehören wie etwa Asylbewerber, Haftentlassene, Obdachlose, psychisch Kranke und Drogenkranke nach stationärem Aufenthalt, aber auch Jugendliche, die von ihren Eltern der gemeinsamen Wohnung verwiesen wurden, frisch getrennte Partner, geschäftlich gescheiterte Selbständige oder Schul- und Hochschulabsolventen ohne Beschäftigungsverhältnis.
 
In das SGB II aufgenommen wurde § 15a, weil der Gesetzgeber die Ansicht vertritt, die frühzeitige Unterbreitung eines Eingliederungsangebots sei "ein geeignetes Mittel, Hilfebedürftigkeit zu vermeiden bzw. einer länger andauernden Zeit der Hilfebedürftigkeit vorzubeugen sowie die Bereitschaft der Hilfesuchenden zur Arbeitsaufnahme zu überprüfen" (BT-Drs. 16/1410: 21) und damit zur Verhinderung des Leistungsmissbrauchs, wobei er davon ausgeht, dass durch die Sofortangebote circa zehn Prozent des in Rede stehenden Personenkreises, also 75 000 hilfebedürftige Arbeitslose, davon abgehalten beziehungsweise, besser formuliert, abgeschreckt würden, Leistungen nach dem SGB II in Anspruch zu nehmen (vgl. ebd: 36). Wie der Gesetzgeber zu dieser Ansicht kommt, bleibt allerdings unergründlich, zumal die Bundesregierung anlässlich der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE selbst eingesteht, dass über die Wirkung von Sofortangeboten "kaum empirische Evidenz " (BT-Drs. 16/5192: 5) bestehe, womit sie unter anderem der im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Kritik implizit beipflichtet, dass die Erreichung der mit dem Fortentwicklungsgesetz verfolgten fiskalischen Ziele "aus wissenschaftlicher Sicht unsicher" (BT-Ausschuss- Drs. 16(11)258: 46) sei.

Arbeitsmarktstatistik: Aus den Augen aus dem Sinn


Auch sei ihr ebenso wenig bekannt, wo jene hilfesuchenden Arbeitslosen verbleiben, die durch die Sofortangebote abgeschreckt worden sind (ebd.), was sie gleichwohl nicht davon abhält, die Auffassung "entschieden zurück[zuweisen] ", dass die betroffenen Personen dadurch in eine "prekäre Lebenssituation " (ebd.: 7) geraten könnten. Eine Position, die angesichts der 'Entschiedenheit', mit der sie vertreten wird, bei einem außenstehenden Betrachter zumindest Verwunderung hervorrufen muss, da die Bundesregierung nach eigenem Bekunden über keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse über die sozialen Folgen der Sofortangebote verfügt. Was mit den betroffenen Personen "mit unbekanntem Verbleib" (ebd.: 5) geschieht, scheint der Bundesregierung offensichtlich gleichgültig zu sein, obwohl die Frage danach sie eigentlich, so sie sich denn diese ernsthaft genug stellen würde, beunruhigen müssten, sei es, weil die Betroffenen elendig dahinvegetieren, Opfer illegaler Arbeitsausbeutung werden oder auf illegale oder zumindest sozial geächtete Reproduktionsmöglichkeiten wie Bettel, Diebstahl, Raub oder Prostitution zurückgreifen. Die gesellschaftlichen Kosten, die derart entstehen, dürften erheblich sein. Denn sie schlagen sich auf lange Sicht nieder „in all den kleinen oder großen Gewalttätigkeiten des Alltags" (Bourdieu 2004: 60): in steigender Armut, steigender Kriminalität, in einem allgemeinem Verfall gemeinschaftlich geteilter Werte, kurz in einem Prozess sich verstärkender sozial desintegrativer und politisch involutiver 26) Tendenzen.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Schon wieder alles vergessen: Als „Münte" noch in der Politik war...
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de

 
Auch wenn das Instrument des Sofortangebots erst mit dem Fortentwicklungsgesetz Eingang in das SGB II gefunden hat, so ist es doch eines, das bereits zuvor praktiziert worden ist, freilich ohne eine entsprechende rechtliche Legitimation. So sah bereits § 3 II SGB II für unter 25jährige Antragsteller die unverzügliche Unterbreitung von Vermittlungsangeboten in Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit vor, doch regelte dieser eindeutig, dass die Vermittlungsangebote nicht vor oder statt, sondern erst nach Antragstellung zu unterbreiten sind, was allerdings verschiedene Arbeitsverwaltungen wie beispielsweise die Kieler nicht davon abhielt, per Dienstanweisung festzulegen, dass bei persönlicher Vorsprache von unter 25jährigen Antragstellern ohne Berufsausbildung und erwachsenen Hilfebedürftigen diesen „schriftlich das Angebot der Aktivierungsmaßnahme mit Rechtsfolgenbelehrung vor Aushändigung des Antrages unterbreitet" (Stöcken/Stremlau 2005: 2) wird und der Antrag den Betroffenen nur dann auszuhändigen ist, wenn diese das Vermittlungsangebot schriftlich akzeptiert haben.

Wolfgang Clement forderte rechtswidrige Verwaltungspraxis
 
Mit dem Fortentwicklungsgesetz ist nun für diese rechtswidrige Verwaltungspraxis zumindest teilweise eine entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen worden. Dies bedeutet jedoch mitnichten, wie etliche Beispiele belegen, dass sich die Arbeitsverwaltung seither bei der administrativen Umsetzung von § 15a SGB II an geltendes Recht halten würde. Im Gegenteil. So ist zum Beispiel dem „Geschäftsbericht 2007" der ARGE für die Stadt Koblenz zu entnehmen, dass sie rechtswidrigerweise "den Personenkreis des § 15a SGB erweitert [hat; M. W.]. Alle erwerbsfähigen Personen, die einen Neuantrag stellen, erhalten ein solches Sofortangebot ab Oktober 2006." (ARGE Koblenz 2008: 12) Bei dem seit September 2007 laufenden Projekt "Sofortangebot plus" des Stuttgarter Jobcenter wird, auch hier wieder unrechtmäßigerweise, jeder Neuantragsteller bereits am darauffolgenden Tag zu einem sogenannten Sozialunternehmen geschickt, das ihn sofort in eine vierwöchige Arbeitsgelegenheit nebst Begleitangeboten wie etwa Bewerbertraining vermittelt. Hierzu ließ die Bundesagentur für Arbeit verlauten, dass sie sich bei erfolgreichem Projektverlauf durchaus eine bundesweite Einführung vorstellen könne. (vgl. Otte 2008) In Marburg wiederum startete im Januar 2008 das vom KreisJobCenter Marburg-Biedenkopf initiierte Projekt „Jobakademie". Entgegen der Regelung von § 15a SGB II werden alle als erwerbsfähig eingestufte Neuantragsteller unverzüglich der Jobakademie zugewiesen, die über eine Dauer von zwei Monaten zu besuchen Pflicht ist, weswegen unentschuldigtes Fehlen auch mit Leistungskürzungen seitens der Arbeitsverwaltung sanktioniert wird. Während dieser Zeit müssen die Betroffenen an vier Tagen pro Woche jeweils dreieinhalb Stunden 'arbeiten', das heißt an Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Vermittlungschancen teilnehmen, was von dem niederländischen Konsulenten Dick Vink, der bei der Projektentwicklung beratend zu Seite stand, mit den Worten "Ihr Job ist es, einen Job zu finden" (Vink, D.; zit. nach: Huttel 2007) zynisch beschrieben wird.


Wolfgang Clement: präsentiert sich gern im Kölner Stadtanzeiger als Reformer
Fotos: arbeiterfotografie.com

 
Bekannt sind entsprechende Praxen auch aus anderen Kommunen, so zum Beispiel aus Braunschweig, Mainz, Minden, Wolfsburg und auch aus Neumünster, wobei dieser Kommune besondere Aufmerksamkeit zukam, da sie stellvertretend für andere Kommunen herhalten musste für die von der Fraktion DIE LINKE an die schwarz-rote Bundesregierung gerichtete Kleine Anfrage, weil dort alle Neuantragsteller sofort und ohne Gespräch mit einem Case-Manager als Sofortangebot die Zuweisung zu einem „Ein-Euro-Job" erhalten. In ihrer Antwort kam die Bundesregierung nicht umhin, einzuräumen, dass die Umsetzungspraxis der ARGE Neumünster gegen geltendes Recht verstoßen habe, weil unbeachtet blieb, dass die Unterbreitung eines Sofortangebots erstens nur für den in § 15a SGB II genannten Personenkreis in Betracht komme und zweitens nur dann erfolgen könne, wenn zuvor "im Rahmen eines qualifizierten Erstkontaktes grundlegende Feststellungen zu den in § 3 Abs. 1 S. 2 SGB II genannten Leistungsgrundsätzen" (BT-Drs. 16/5192: 4) getroffen worden sind, die bei der Auswahl von geeigneten Sofortangeboten zu berücksichtigen seien. § 3 I 2 SGB II sieht nämlich vor, dass bei den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit insbesondere den folgenden Kriterien Rechnung zu tragen ist: der Eignung, der individuellen und familiären Situation, der voraussichtlichen Dauer der Hilfebedürftigkeit und der Dauerhaftigkeit der Eingliederung. Wenn mithin das Sofortangebot, wie die übrigen Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit auch, entsprechend der Leistungsgrundsätze nach § 3 SGB II geeignet sein muss, die zielgerichtete Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu befördern, dann resultiert daraus aber ein doppeltes Problem.

Denn auf der einen Seite kann etwas Sinnvolles nur auf der Grundlage einer entsprechenden Analyse der Umstände des konkreten Einzelfalls angeboten werden, was, wie man weiß, allerdings Zeit erfordert und deswegen im Zeitpunkt der Antragstellung so gut wie nicht realisierbar ist. 27) Und auf der anderen Seite wird die Unterbreitung eines sinnvollen Angebotes in Zeiten von und namentlich in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit nicht der Regelfall sein können. Vor diesem Hintergrund verwundert denn auch nicht, dass den Betroffenen zumeist keine existenzsichernde Erwerbsarbeit angeboten wird, sondern dass ihnen statt dessen droht, an einem Bewerbertraining oder an Maßnahmen zur Überprüfung der Arbeitswilligkeit teilnehmen zu müssen oder in einen „Ein-Euro-Job" zugewiesen oder in prekäre Arbeitsverhältnisse wie Zeitarbeit vermittelt zu werden. Wie dem auch sei: Trotz des eklatanten Rechtsbruchs durch die ARGE Neumünster, den die Bundesregierung aufgrund der parlamentarischen Anfrage nicht mehr totschweigen konnte, spielte sie das Problem des durch die Arbeitsverwaltung begangenen Rechtsbruchs herunter, indem sie meint, feststellen zu müssen, sie gehe davon aus, „dass die dargestellte Umsetzungspraxis […] nicht repräsentativ für die flächendeckende Nutzung dieses Eingliederungsinstrumentes " (BT-Drs. 16/5192: 2), des Sofortangebots, sei.
 
Von besonderer Anstößigkeit ist schließlich die Umsetzungspraxis der Rhein-Main-Jobcenter GmbH (RMJ) genannten ARGE der Stadt Frankfurt am Main, die anlässlich einer Anfrage des DGB Region Frankfurt-Rhein-Main in ihrer brieflichen Antwort vom 5. November 2007 mitteilt, seit Oktober 2006 ein Sofortprogramm für § 15a SGB II vorzuhalten, das eine „Angebotsstruktur" vorsehe, die „die Kunden 'sofort', schon bei der ersten Vorsprache, einem Betreuungs- und Integrationsprozess" zuführe „mit dem Ziel, Hilfsbedürftigkeit zu vermeiden, einem längeren Leistungsbezug vorzubeugen sowie die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme zu prüfen" (Czernohorsky 2007: 1). Das Sofortangebot sieht unter anderem vor die „sofortige Vermittlung zu einer Zeitarbeitsfirma", die "Zuweisung in ein assistiertes Jobcoaching" und die „Zuweisung in AGH" (ebd.), das heißt zu einem "Ein-Euro-Job", wobei das Sofortangebot "geöffnet" worden sei "für alle Neukunden, die vom SGB III in das SGB II wechseln sowie einen Neu- oder Folgeantrag auf ALG II stellen" (ebd.). Inwiefern diese Praxis eine, wie die RMJ behauptet, "entsprechend der gesetzlichen Vorgabe" (ebd.) sei, vermag der etwas juristisch informierte Kopf sich allerdings nicht zu erschließen, wird doch sowohl verstoßen gegen das Kriterium 'Personenkreis' nach § 15a SGB II als auch gegen die Eingliederungskriterien gemäß § 3 I 2 SGB II. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob auf Seiten der RMJ ein qualifikatorisches Kompetenzdefizit besteht, das heißt, um es anders zu formulieren, ob man dort über nur unzulängliche Rechtskenntnisse verfügt. So dies der Fall wäre, wäre dies wegen der damit verbundenen Konsequenzen hinsichtlich der Lebenssituation der Betroffenen, aber auch im Hinblick auf das Prinzip der Rechtssicherheit jedoch nicht hinnehmbar. Denkbar wäre freilich auch, und dies scheint angesichts des strukturell gegebenen Wissensvorsprungs infolge der institutionellen Nähe der Arbeitsverwaltung zum Prozess der parlamentarischen Rechtsbildung und richterlichen Rechtsfortbildung wahrscheinlicher, dass die Arbeitsverwaltung aufgrund ihres Wissens- und damit auch Herrschaftsvorsprungs glaubt, ihre Klienten beziehungsweise deren Interessenvertreter für dumm verkaufen zu können. (HDH)

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26) Als politik- und gesellschaftskritischer Begriff bezeichnet 'Involution' die Rückentwicklung demokratischer Systeme, Strukturen und Formen in vor- oder antidemokratische; vgl. hierzu in pointierter Weise die luziden Ausführungen von Agnoli (1974).
27) Wird einem hilfesuchenden Arbeitslosen nämlich ein Sofortangebot unterbreitet, muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass dieser erwerbsfähig ist, das heißt, dass dieser die Fähigkeit besitzt, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein" (§ 8 I SGB II). Dies festzustellen, kann aber unter Umständen, insbesondere bei psychisch erkrankten oder behinderten Personen zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht möglich sein und ist erst im Rahmen des Feststellungsverfahrens nach § 44a SGB II auf der Grundlage einer gutachterlichen Beurteilung zu entscheiden.
28) Daß Gerhard Schröder sich hier nicht als ein kritischer Leser von Lafargues Streitschrift "Das Recht auf Faulheit" zu erkennen geben wollte, wird allein schon daran deutlich, dass Lafargue das Recht auf Faulheit nicht als ein absolutes konzipiert, sondern mit der Vorstellung der Verkürzung des Arbeitstags auf maximal drei Stunden verknüpft. (vgl. Lafargue 1978: 37 f.) Für Schröder taugt 'Faulheit' bloß als Denunziationsvokabel, mit der ein Bild vom Arbeitslosen als fideler Müßiggänger gezeichnet werden soll, ein Bild, das spätestens seit der klassischen Studie von Jahoda et al. (1975) aus den 1930er Jahren über "Die Arbeitslosen von Marienthal" Lügen gestraft wird. Zwar werden, weil sozialpolitisch teilweise 'abgefedert', die psycho-sozialen Belastungen heutzutage als geringer eingestuft. Dies heißt aber nicht, dass sie gänzlich verschwunden wären. Auch heute leidet ein beträchtlicher Teil der Arbeitslosen unter Minderwertigkeitsgefühlen, Identitätsstörungen und verstärkten oder vermehrten psycho-somatischen Beschwerden. (vgl. hierzu etwa Brinkmann 1984)
29) Des Missbrauchs bezichtigt werden jedoch nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch die als "Helfershelfer" und "windige Ratgeber" (BMWA 2005: 19, 22) titulierten Berater, die, wie z. B. Roth, Thomé (2005), es sich zur Aufgabe gemacht haben, Hilfesuchenden in prekären materiellen Lebenslagen wie Arbeitslosigkeit oder Armut durch Information und Beratung zu ihrem Recht zu verhelfen.
30) "Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. [...] Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da." (Klemperer 1969: 23)

Online-Flyer Nr. 161  vom 27.08.2008

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