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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Inland
Der brave Staatsbürger soll lernen, was „Extremismus“ bedeutet
Wozu Nazis da sind
Von Hermann L. Gremliza

Über einen „Polizeikessel zugunsten der Neonazis“ mussten wir in NRhZ Nummer 155 nach dem Aufmarsch vor der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in Bonn-Duisdorf berichten. Ein Wochenende später wurden von der Stadt vier Info-Stände und eine Kundgebung der NPD in Krefeld genehmigt und durch die Polizei vor AntifaschistInnen „geschützt“. Anlässlich eines Nazi-Aufmarschs am 1. Mai in Hamburg hat Hermann L. Gremliza über die Gründe nachgedacht. – Die Redaktion.


Festnahme einer Antifaschistin in
Berlin-Charlottenburg
Quelle: www.infopartisan.net

Lange vor unserer Zeit, als die Gesellschaften sich noch in Klassen teilten, schoß die Polizei von Chicago auf dem Haymarket eine Menge demonstrierender Proleten tot. Die trauernden Hinterbliebenen in aller Welt gedachten fortan dieses 1. Mai 1886 mit einem Kampftag der Arbeiterklasse, den später die Regierung des Reichskanzlers Hitler in jenen arbeitsfreien „Tag der Arbeit“ umtaufte, als der er hierzulande noch heute gefeiert wird. Und so hatten die neuen Nazis bei ihrem Marsch am 1. Mai 2008 durch den Hamburger Osten, der lange vor unserer Zeit ein Arbeiterviertel war und in unserer Zeit der Makler eine Gegend von niedrigem Wohnwert heißt, eine gewisse historische Konsequenz auf ihrer Seite, der die Staatsmacht umsichtig Rechnung zu tragen sich bemühte: Von Hamburgern, die keine Nazis mögen und sich ihnen mit erhobenen Händen in den Weg gesetzt hatten, spritzten die Wasserwerfer der Polizei den braunen Bataillonen die Straße frei. Die Haltung der Hamburger Staatsmacht erinnerte von ferne an das Frühjahr 1933, in dem ein von der SPD geführter Senat so sehr damit beschäftigt war, die Hansestadt vor dem ersten Besuch des Führers kommunistenfrei zu machen, daß zu Amtshandlungen gegen die SA weder Zeit noch Mittel blieben.
 
Nicht von ferne nur: Eine Reisende im Regionalzug von Kiel nach Hamburg hatte die Polizei alarmiert, als 140 Nazis, unterwegs zur Demonstration, die Macht im Zug übernommen und über die eroberte Lautsprecheranlage die Ansage verbreitet hatten: „Ab heute transportiert die Deutsche Bahn Ausländer und Deutsche getrennt.“ Am Ziel, dem Hamburger Dammtorbahnhof, wurden die Täter von der gewarnten Polizei empfangen – durch 2 (in Worten: zwei) Beamte. Festnahmen oder Feststellung der Personalien: 0 (in Worten: null). Die braunen Reisenden konnten sich frohen Muts auf den Weg zur Demonstration ihrer Inferiorität und, vier Wochen später, zum Glatzenaufmarsch gegen die Polacken auf die Fanmeile von Klagenfurt machen.


Auch in Österreich – Schutz für Nazi-Kundgebungen
Quelle: no-racism.net
 
Warum kennt, wenn es um Nazis geht, die Staatsmacht sich selbst nicht mehr? Warum sind ihren Bütteln und ihren Richtern, wenn irgendwo eine Schauspielertruppe zusammengeschlagen oder ein orthodoxer Jude niedergestochen wird, die politischen Motive der Täter nicht erkennbar? Warum hat sich im Umgang von Polizei und Justiz (und demnächst, wenn Schäuble es so weit gebracht hat, auch des Militärs) mit den Nazis so wenig verändert in den letzten achtzig Jahren?
 
Die Alliierten hatten die Gründung der Bundesrepublik 1949 an die Bedingung geknüpft, daß nationalsozialistische Parteien und Organisationen, von deren Regiment die Deutschen sich nur äußerst widerwillig hatten befreien lassen, sowie die Verbreitung nationalsozialistischer Gedanken und Kennzeichen (Paragraphen 86 und 86a des reformierten Strafgesetzbuchs) ein für allemal verboten blieben. Die NPD ist eine solche Partei und macht keinen Hehl daraus. Man müßte sie verbieten. Man könnte sie verbieten. Man will sie nicht verbieten. Achtzig Prozent oder mehr aller Verfahren, die wegen des Zeigens nationalsozialistischer Kennzeichen eröffnet wurden, galten der Verfolgung von Leuten, die das Hakenkreuz oder die Runen der SS in Flugblättern zur Warnung vor neuen Nazis verwandt hatten. Reproduzierte der Großverleger John Jahr in seiner Zeitschrift „Das III. Reich / Sonderdokumentation Adolf Hitler“ die „Standarte des Führers und Reichskanzlers“ ganzseitig, in vierfarbigem Hochglanz und unkommentiert, passend für jeden Nazispind, attestierte ihm die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Hamburg die Absicht, „Wissen zur Anregung der politischen Willensbildung und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner politischen Mündigkeit zu dienen“.


Polizei schützt „Nationalen Widerstand“ gegen Antifa und DGB
in Dortmund | Foto: NRhZ-Archiv
 
Nicht zu den Gründen, aus denen die nationalsozialistische NPD unverboten und aus der Staatskasse alimentiert bleibt, zählt wahrscheinlich, daß die deutsche Bourgeoisie sich noch einmal die Option einer erneuten Machtübergabe an die Nazis offenhalten will – bei all ihrer Sympathie für Leute, die, auch wenn sie da und dort ein bißchen zu weit gehen, doch das Herz auf dem ganz rechten Fleck haben. Wenn sie auch nicht prügeln sollten – prügeln sie denn die Falschen? Was frivole Reminiszenzen an die Ermächtigung von 1933 heute und auf absehbare Zeit verbietet, ist eine Weltmeisterschaft, und zwar die im Export. Deren Verlust werden die Herren des Landes (Daimler, VW, Siemens) sich nicht leisten.
 
Warum also wird die nationalsozialistische NPD dennoch von der Staatsmacht erhalten und protegiert? Nicht weil sie irgendwann einmal nützlich wäre, sondern weil sie es heute und morgen ist. Am Dreck ihrer Gefühlswelt, an der Mordlust in ihren Fressen, an der Gemeinheit ihrer Parolen soll der brave Staatsbürger lernen, was „Extremismus“ bedeutet. Denn das ist, hinter allem politikwissenschaftlichen Gedöns, der ganze Sinn der Totalitarismustheorie, der Lehre des Rot gleich Braun: daß jegliche Kritik der herrschenden Ordnung auf Auschwitz hinaus will. Der Extremist Mahler, zum Beispiel. Und also auch die Extremistin Wagenknecht. Weshalb beide mit den gleichen Begründungen vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Und weil man, was in Deutschland extreme Linke heißt und in Wirklichkeit nicht viel mehr ist als ein Sammelsurium enttäuschter Sozialdemokraten, nicht verbieten kann, ohne die Verfassung als Fetzen Papier zu nehmen, kann man auch die Nazipartei NPD nicht verbieten. Wie stünde man da, hätte man die Bösartigkeit des Extremismus an Lothar Bisky und den vierzig Antifagruppen zu beweisen?
 
Zu bedenken wäre auch (und von den Betroffenen gewiß längst bedacht ist), daß ein Verbot und die Auflösung der NPD sowie die Beseitigung ihrer Glatzen aus dem Straßenbild die deutsche Rechte in eine sehr ungemütliche Lage brächten: Der extremen Petra Pau auf der Linken korrespondierte dann die extreme Erika Steinbach auf der Rechten oder gar der Herr Bundesinnenminister, die der Verfassungsschutz zu observieren hätte und, wenn er sogar wollte, nicht dürfte.
 
Die Nazipartei wird so lange nicht verboten, wie die Zwangsarbeiter nicht entschädigt wurden: bis in der „New York Times“, nach dem Brandanschlag einiger Parteigenossen auf eine Synagoge oder gar ein Amerikahaus, zum Boykott deutscher Automobile aufgerufen wird. Wenn Piëch, Zetsche und Wiedeking rufen, gehen Merkel und Schäuble bei Fuß. Im finstern Wald des deutschen Gemeinwesens ein doch beruhigendes Gefühl.
 
Nachwort: Was Tucholsky vom Volk sagt, gilt für die Völkischen um so mehr: Sie sind doof, aber gerissen. Und so liegt eher näher als fern, daß Führer der Partei, denen das eine oder andere Mitglied Anwerbeversuche staatlicher Dienste gemeldet hat, die Umworbenen schon seit Jahren animiert haben, den Agentensold zu kassieren, der Partei zu melden, was der Geheimdienst will, und dem Staat zu melden, was der Partei nützt. Wer weiß, ob im Laufe der Jahre nicht die meisten Funktionäre der NPD einen Nebenerwerb beim Verfassungsschutz gefunden haben und man statt von V-Männern des Dienstes bei der NPD von V-Männern der NPD beim Verfassungsschutz, von Unterwanderung des Geheimdienste durch die Partei statt der Partei durch die Geheimdienste sprechen muß? (PK)        
 
Dieser Beitrag erschien in der aktuellen Juli-Ausgabe der Monatszeitschrift KONKRET  | Mehr unter www.konkret-verlage.de[[www.konkret-verlage.de
 

Online-Flyer Nr. 156  vom 23.07.2008

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