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Lokales
’68 – 2008 und weiter! und weiter!!!
Eine Bilanz
Von Karl C. Fischer und Anneliese Fikentscher

Es war eine gelungene Veranstaltung, zu der der Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) und der DGB Köln eingeladen hatten, da sie die Vielfalt der „68er“ andeutete, Vergleiche zog und Ausblicke gewährte. Sie fand am 14. Mai im Kölner DGB-Haus statt und war die elfte innerhalb einer Veranstaltungsreihe, die seit Februar von Kölner Persönlichkeiten organisiert wurde. Dafür muss ihnen gedankt werden, zumal die „68er“ in jüngster Zeit von vielen Medien besonderes negativ bewertet oder gar als faschistoide Bewegung bezeichnet wurden.

Mit der „Bilanz 68 bis 2008“ des VS und des DGB ging die erste Runde einer von der Neuen Rheinischen Zeitung mitinitiierten Veranstaltungsreihe zu Ende. Fotografie und Film, Buchvorstellungen, Lesungen, Diskussionsrunden, Kabarett-, Text- und Musikvorträge - eine Theaterrevue und Ausstellungsvernissagen luden zur Reflektion der so genannten 68er-Bewegung mit Schwerpunktsetzung in der rheinischen Region ein, die ohne Frage einen zeitlichen Vorlauf hatte, der weit über den 2. Juni 1967 und den Tod von Benno Ohnesorg zurückreichte. Was gab es - gemeinsames - zu bilanzieren von drei PodiumsteilnehmerInnen, den Autorinnen Ingrid Strobl und Anne Jüssen sowie dem Ökobauern Lothar Gothe?


Lothar Gothe
 
„Das war eine geile Zeit“
 
„Eigentlich fing alles recht lustig an: Blowing in the wind sang Bob Dylan, und Joan Baez sang We shall overcome, leitete der Kölner Schriftsteller und VS-Kollege mit juristischem Examen, Wolfgang Bittner seine Moderation ein. Uschi Obermeier aus der Kommune Eins habe die Welt erst kürzlich mit dem Satz erfreut: 1968, „das war eine geile Zeit.“ Bittner: „Wenn das heißen sollte, frei sein, unabhängig sein, aufatmen, gegen Krieg und Unterdrückung einzutreten und für soziale Gerechtigkeit - dann wäre dem ja zuzustimmen.“
 

Kurt Holl

Ingrid Strobl war 1968 erst 16 Jahre alt, hat dennoch einiges bewußt miterlebt. Sie sah sich als Anhängerin der US-Bürgerrechtsbewegung, die von Rock-Musik stärker geprägt wurde als von Dutschke. „Ich kann heute keinen Satz von Dutschke aufsagen, aber ich kann sämtliche Texte von Dylan und den Doors noch mitsingen.“ Es seien „gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen erkämpft“ worden, die heute für viele - was den Feminismus angeht - als Selbstverständlichkeit angesehen würden. Sie zitierte „langsam, laut und deutlich, weil ich glaube, sonst glaubt man’s nicht“ aus einem Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1966 zum Thema Vergewaltigung in der Ehe: „Die Ehe fordert von der Frau eine Gewährung des Beischlafs in Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen...“ Bis 1996 habe es gebraucht, derartige Gewalttaten als Straftatbestand ins Gesetz einzubringen.


Lothar Gothe
 
1848 – 1918 – 1948 – 2008
 
Ein langer Vorlauf also, wenn als Grundlage die 60er (zu denen Strobl sich zählt) oder die 68er gedient haben sollen. Bereits im Februar 2008 hatte die ehemalige WDR-Redakteurin Inge von Bönninghausen im Rahmen der Veranstaltungsreihe „68 und weiter“ einen weitaus größeren Bogen geschlagen, der die Frauenbewegung in den revolutionären Umtrieben vergangener Jahrhunderte verortet: „1848 gehen die Frauen mit den Männern auf die Barrikaden der Märzrevolution. 1908 wird nach über 50 Jahren das Vereinsgesetz aufgehoben, das den Frauen jegliche Teilnahme an politischen Aktivitäten verboten hatte. 1918 das Wahlrecht. 1948 die Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik mit dem Gleichheitsartikel 3, und schließlich gibt der Tomatenwurf 1968 den sichtbaren Startschuss für die neue Frauenbewegung.“ Letzteres kann Strobl genauer erklären, denn „die Herren Studenten“ hätten die ganze Welt befreien wollen, von den Studentinnen aber die typische Unterordnung erwartet. Sehr viele gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen seien erkämpft worden. Strobl gab aber zu bedenken, dass vieles davon heute sogar bis in die 60er-Jahre zurückgedrängt wird - gerade in Psychiatrie und Sozialarbeit.


Ingrid Strobl
 
Vom Kapitalismus zum Bioimperialismus
 
Ökobauer Lothar Gothe aus Bergneustadt war SDS-Mitglied mit literarischem Interesse - und später, gemeinsam mit Rainer Kippe, Gründer der Sozialistischen Selbsthilfe Köln SSK. Weil er die Literatur liebte, begann er in Köln ein Germanistikstudium. Nach zwei Jahren liebte er die Literatur immer noch, hasste allerdings die Germanistik „aus tiefster Seele und ich halte sie auch heute noch für die Mörderin der Poesie“. In seiner Heimat übten die örtlichen Autoritäten Macht aus wie in einem Obrigkeitsstaat und gingen gegen Linke vor. Doch die mächtigen Leute, die den Stadtrat, die örtliche Fabrik und (in Köln) auch die Universität beherrschten, waren seiner Meinung nach Nullen, unter deren Talaren sich nicht mal Muff befand. Im Hochschulbereich seien die Machtpositionen abstrakt vorhanden gewesen und man sollte sich beugen, „Kotaus machen... vor Menschen mit reduzierter Persönlichkeit“.


Wolfgang Bittner
 
Weil viele linke Studenten ihm mit ihren Anzügen zu traditionell und als Kommunisten zu angepasst erschienen, schloss Gothe sich der antiautoritären Linken an, wollte den Fordarbeitern den Generalstreik abverlangen, die aber, um ihren schweren Job zu vergessen, abends lieber dem Kasten Bier zusprachen und morgens um sechs Uhr nicht von Studenten an ihren Sch...job erinnert werden wollten. Gothe tat sich mit Künstlern zusammen und startete Aktionen gegen die undemokratische Rektorenwahl. Zwei Studenten und achthundert (!) Professoren waren wahlberechtigt. Daher „war der Rektor ein illegaler Machthaber“. Die Katastrophe von Tschernobyl war der Auslöser für ihn, sich der Subsistenzwirtschaft, das bedeutet der einfachen Produktion zum Selbsterhalt, zuzuwenden. Wenn er heute von „Bioimperialismus“ spricht, dann nicht nur, weil die multinationalen Konzerne über das Hilfsmittel Gentechnologie den Markt beherrschen wollen und damit weltweit Kleinbauern in den Ruin und oft in den Selbstmord treiben, sondern auch weil der heute marktführende Konzern Monsanto in den 60ern die Entlaubungsgiftstoffe für den Vietnamkrieg lieferte.


Veranstaltung im großen Saal des DGB
 
Die Felder der Ehre und der Trafalgar Square
 
Anne Jüssen, Autorin und Herausgeberin zahlreicher politischer Schriften des Frauenmuseums in Bonn, trampte als junge Frau in den 60er Jahren durch halb Europa und 1967 rund um die britische Insel sowie 1968 durch Frankreich. Sie erlebte den „Prager Frühling“ und lehnte Vopos und Pistolen an der Grenze zur DDR ab. Sie hörte, dass sich viele zur Beat-Generation zählten, aber die geschlagenen Soldaten damit meinten, die aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekommen waren. In Bonn lernte sie Margit Schiller kennen, eine RAF-Sympathisantin, die Autos für die Bader/Meinhof-Gruppe beschaffte und dafür schwer bestraft wurde. Schließlich erwähnte sie auch die Frauen, die sie beeindruckt hatten, wie Peggy Parnass und Erika Runge. Jüssen wirkte eher ratlos und mochte die Generation der „68er“ nicht bewerten.
 
Leichen im Karriere-Keller
 
Zur Eröffnung der Diskussion für das Publikum kamen einige Buh-Rufe, die der abwesenden Kölner Feminismus-Päpstin Alice Schwarzer zugedacht waren. Bekanntlich hat Schwarzer wenig Sympathie für die gleichzeitige Betrachtung der Frauen- und der Klassenfrage. Rot und lila passen nach konservativem Geschmack eben nicht zusammen. Die 1968 erst elf Jahre alte Kölner VS-Vorsitzende Margit Hähner wollte gerne wissen, was denn aus den 68ern in den Institutionen geworden sei, die Karriere gemacht hätten. Zu diesem Thema hatte die Eingangsveranstaltung „68 bis 2008 und weiter“ mit der Grünen Politikerin Anne Lüttkes und dem Journalisten Wolfgang Hippe bereits tiefe Einblicke in Karriere-Leichenkeller ermöglicht. Vor der Korrumpierbarkeit durch Macht sind auch Medienvertreter nicht gefeit - ein Feld der Medienanalyse, das in mehreren Schriften des anwesenden Otmar Latorf behandelt wurde. Auch ohne Niccolo Machiavelli gelesen zu haben, liegen da Bezüge auf der Hand, und die sprechen für die notwendige weitere Einrichtung unabhängiger Medien. Was also gibt es - weiter!!! - zu tun? Strobl wollte sich einerseits zurücklehnen und darauf warten, bis neue Ideen gefunden seien. Gothe und Kurt Holl (Herausgeber von „1968 am Rhein“) sprachen sich für notwendige Aktionen aus, Störungen beispielsweise der heute verharmlosend in Biotechnologie umbenannten Gentechnik. Weil es in die Medien überhaupt nicht vordringe, wollte Gothe bereits ein an Blauzungenkrankheit elend verendetes Schaf in den Dom tragen.
 

Anne Jüssen

2008: Bleierne Zeit des Täterschutzes
 
Einige MeisterInnen der Aktion saßen schweigend im Publikum: Gothes SSK-Mitbetreiber und „Kein Mensch ist illegal“-Protagonisten, die viele ideenreiche Vorstellungen z.B. im Hinblick auf die Beteiligung der Lufthansa bei Abschiebungen geboten haben. Dass die „bleierne NS-Zeit“ bis heute nicht aufgeklärt ist und auch nicht erschöpfend damit aufgeklärt werden kann, sich auf immergleiche Opferbetrachtungen zurückziehen kann (Roma zählen nicht dazu - werden aber bis heute nach englischem Sprachgebrauch deportiert), macht wiederum ein Vorstoß des überzeugendsten Alt-68ers Lothar Gothe deutlich. Er verlangt, dass die Täter von vor und nach 1945 öffentlich gemacht werden. Dazu führt er einen langwierigen Schriftwechsel mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) über dessen braune Vergangenheit und „die Person des Dr. Udo Klausa.


Ingrid Strobl und Anne Jüssen

Der war von 1954 bis 1975 Direktor des LVR und damit auch der oberste Herrscher über alle Heime und Psychiatrien. Klausa war vorher ein hochkarätiger nationalsozialistischer Schreibtischtäter, einer der „furchtbaren Juristen“ der Nazizeit“, schreibt Gothe „an die Fraktionen der Landschaftsversammlung des LVR, z. Hd. des Vorsitzenden Wilhelm“ anlässlich der Verleihung des „Rheinlandtalers“ 2007 an den ehemaligen Vorsitzenden des ROM e.V. Kurt Holl. Pikant, weil „gegenüber Zigeunern sowohl in der Nazizeit als auch danach bis in die 70er Jahre der Bundesrepublik“ schwere Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Das Archiv des LVR ist aber bis heute zur historischen Auswertung nicht zugänglich. (PK)
 
HINWEIS:
Das vielfältige schillernde Treiben (auch von Lothar Gothe und Rainer Kippe) ist vortrefflich dokumentiert in der Neuauflage „1968 am Rhein“ von Kurt Holl und Claudia Glunz im Kölner Emons-Verlag. (Besprechung folgt)
 
Weitere Veranstaltungen folgen im Herbst 2008, u.a. in der Austellungshalle der Alten Feuerwache vom 5. bis 19. Oktober: Portraits von 68er Köpfen, darunter Lothar Gothe, Kurt Holl u.v.a.m. (arbeiterfotografie im Rahmen der Internationalen Photoszene Köln und auf der photokina „meet the professionals“)

 

Online-Flyer Nr. 147  vom 21.05.2008

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