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Lokales
Afghanischer Konfliktforscher in der Alten Feuerwache Köln:
Raus aus Afghanistan!
Von Teresa Huhle

Für einen Rückzug der NATO-Truppen aus Afghanistan plädierte der in Afghanistan geborene Dr. Matin Baraki vor Besuchern des Kölner Friedensforums und des Kölner Appell gegen Rassismus bei einem Vortrags- und Diskussionsabend über Geschichte und Gegenwart Afghanistans in die Alten Feuerwache in Köln. Baraki, Lehrbeauftrager am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg, arbeitete zunächst in Afghanistan als Lehrer, lebt seit vielen Jahren in der BRD und hat 1995 zu den afghanisch-deutschen Beziehungen von 1945 bis 1978 promoviert.

Vorgestellt wurde Dr. Baraki den Besuchern von Dr. Elvira Högemann vom Kölner Friedensforum, die die Veranstaltung auch moderierte. „Der Krieg ist ausgebrochen“ – diese Formulierung, die selbst in der Friedensforschung auftauche, kritisierte der Referent in seiner Einleitung scharf. Kriege brächen nicht aus, Kriege führe man mit bestimmten Zielen. Seine zentrale These: Afghanistan wurde und wird seine geostrategische Bedeutung zum Verhängnis. Dies sei im ganzen 19. und 20. Jahrhundert so gewesen und treffe insbesondere für die Zeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs und Beginn des Kalten Krieges und nach dem 11. September 2001 zu.

MatinBaraki.
Elvira Högemann und Matin Baraki
Foto: Adnan Keskin


Reformen und deren Gegner
 
Zunächst gab Baraki einen Überblick über die Geschichte Afghanistans seit den 1970er Jahren. Damals war Afghanistan eins der 25 ärmsten Länder der Welt. Zwei Prozent der Bevölkerung verfügten über 75 Prozent des Bodens, 80 bis 85 Prozent waren landlose, arme Bauern, die Analphabetenquote betrug 97 Prozent, die Lebenserwartung lag bei 40 bis 45 Jahren, und Afghanistan hatte die zweithöchste Kindersterblichkeit weltweit zu verzeichnen. Gegen diese Unterentwicklung seien junge engagierte Leute wie er selbst angegangen. Die „Demokratische Republik Afghanistan“, die nach dem Militäraufstand von 1978 ausgerufen wurde, bezeichnete Baraki als weder sozialistisch noch kommunistisch. Ihr Ziel sei es gewesen, das Land grundlegend umzugestalten. Dazu gehörten drei Maßnahmen: die Landreform zur gerechteren Verteilung des Bodens, die Alphabetisierungskampagne, anhand derer es gelang, innerhalb von sechs Monaten 1,5 Millionen Menschen Lesen und Schreiben beizubringen und das Verbot der Polygamie. Doch diese Reformen seien auf Widerstand in der Bevölkerung gestoßen. Die Alphabetisierungskurse, die zum großen Teil von StudentInnen in den Semesterferien durchgeführt wurden, hätten die Mudschaheddin sabotiert, weil die Kurse in gemischten Klassen durchgeführt wurden. Die Mullahs, die gleichzeitig Stammesführer, geistige Führer und Großgrundbesitzer waren, empfanden alle Reformen als Angriff auf ihre Rechte. Sie flüchteten nach Pakistan und bauten an der Grenze Widerstandslager auf, die als Basis für Sabotageakte gegen die afghanische Regierung und die sowjetische Armee dienten, die sich seit 1979 zur Unterstützung der Regierung in Afghanistan befand.
 
USA-Politik seit 1979
 
Um die Afghanistan-Politik der USA ab 1979 zu beschreiben, projizierte Baraki ein Foto an die Wand, auf dem der damalige Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbginiew Brzezinski, gemeinsam mit afghanischen Offizieren zu sehen ist. Brzezinski hatte viele Jahre später in einem Interview verkündet, Robert Gates und die CIA hätten die Mudschaheddin schon im Juli 1979, also sechs Monate bevor im Dezember 1979 die sowjetische Armee in Afghanistan stationiert wurde, unterstützt. Die erste Afghanistan-Direktive der CIA stamme vom 3. Juli 1979. Damit widersprach Brzezinski der gängigen Darstellung seitens der USA, wonach ihre Unterstützung der Mudschaheddin eine Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch gewesen sei. Baraki sagte, das lasse nur eine Interpretation zu: Die USA wollten die Sowjetunion in die „afghanische Falle“ locken. Dafür sprächen auch die Zahlen: Die CIA zahlte insgesamt 700 Millionen US-Dollar an die Mudschaheddin, das entsprach 80 Prozent des CIA-Sonderbudgets und sei die größte Operation in der Geschichte der CIA gewesen. Es habe tonnenweise Waffenlieferungen gegeben, u.a. auch Stinger-Raketen um sowjetische Flugzeuge abzuschießen. Es sei das erste Mal gewesen, dass diese Raketen an ein Nicht-NATO-Mitglied geliefert wurden. All diese Fakten, so Baraki, seien ein Zeichen für die geostrategische Bedeutung die Afghanistan für die Großmächte hatte und hat.
 
Machtübergabe an die Mudschaheddin
 
Beim Genfer Abkommen von 1988 einigten sich die afghanische Regierung, die Mudschaheddin, der Iran, die Sowjetunion und die USA auf den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Danach beendeten die USA auch ihre Unterstützung der Mudschaheddin, diese bekämpften aber weiterhin die afghanische Regierung, welche wiederum nach einer nicht-militärischen Lösung des Konflikts suchte und den Mudschaheddin 25 Prozent der staatlichen Ämter anbot. Zudem sollte es Gespräche mit Willi Brandt als Vermittler geben, die CIA riet den Mudschaheddin jedoch von diesem Treffen ab. 1992 kam es zunächst zu einer geregelten Machtübergabe an die gemäßigten Mudschaheddin. Deren erste Maßnahme war es, alle Frauen aus öffentlichen Ämtern zu entfernen. Bis dahin hatten im Bildungs- und Gesundheitswesen zu  80 Prozent Frauen gearbeitet. In den Folgejahren jedoch begannen die Mudschaheddin sich gegenseitig zu bekämpfen und zerstörten dabei die komplette Infrastruktur Afghanistans, auch alle Universitäten und Ministerien. Die internationale Gemeinschaft, laut Baraki mit den USA und der NATO gleichzusetzen, verlor ihr Interesse an Afghanistan.


Friedensforum und Kölner Appell gegen Rassismus
Foto: Adnan Keskin


Geburtsstunde der Taliban
 
Den Prozess der danach einsetzte, führt Baraki erneut auf die geostrategische Bedeutung Afghanistans zurück. Denn nun entdeckten die transnationalen Energiekonzerne das Land für sich, nachdem Rohstoffvorkommen und Erdgas im kaspischen Raum gefunden worden waren. Die Mudschaheddin wurden in die USA eingeladen, um sie in die Planung großer Pipelines durch Afghanistan einzuweihen, an deren Kontrolle aber auch Pakistan Interesse hatte. Das sei die Geburtsstunde der Taliban gewesen, die Baraki als „KSK der afghanischen Mudschaheddin“ betitelte. Die Taliban bekamen in Pakistan eine militärische und ideologische Eliteausbildung, marschierten von dort aus über Nacht nach Afghanistan ein, erreichten im September 1996 Kabul und beherrschten bald 90 Prozent des Landes. Doch der Krieg hielt an.
 
Während der Präsidentschaft Bill Clintons wurden Taliban-Ausbildungslager zerstört und dann – so Baraki – warteten die US-AmerikanerInnen auf den Anlass zum Angriff: „Hätte es den 11. September nicht gegeben, so hätte man ihn erfinden müssen“. Die Neo-Konservativen in den USA hätten direkt gewusst, die Schuldigen seien in Afghanistan zu finden. Die auf den Sturz der Taliban folgende Regierungsbildung kritisierte Dr. Baraki scharf. An der von deutschen Steuergeldern bezahlten Petersberg-Konferenz seien vier afghanische Delegierte, der ehemalige König Afghanistans, ehemalige Mudschaheddin und zwanzig US-Beobachter beteiligt gewesen. Die dort gebildete Regierung sei sodann nach Kabul verlegt worden und unter den Schutz einer UNO-Truppe gestellt worden.
 
„Krebsgeschwür NATO“
 
Die heutige Situation Afghanistans veranschaulichte Dr. Baraki anhand einer Karte der ISAF-Stützpunkte in Afghanistan. Sie zeige, dass sich das „Krebsgeschwür NATO“ über ganz Afghanistan ausbreite. Es gebe für Afghanistan keinen UNO-Auftrag, sondern lediglich einen NATO-Auftrag, und der Name ISAF (International Security Assistance Force) sei ein Etikettenschwindel. Afghanistan sei ein „Militärprotektorat der NATO unter Führung der Vereinigten Staaten“. Diese Darstellung unterstrich Baraki mit einer Anekdote über die Wahl Karsais zum Interimspräsidenten Afghanistans. Die Wahl habe in einem Zelt der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) stattgefunden, und nur wer für Karsai stimmen wollte, habe das Zelt betreten dürfen. Stimmzettel seien verkauft worden und am Ende hätten 24 Personen mehr für Karsai gestimmt als anwesend waren. Die New York Times habe diese Wahl als „billiges amerikanisches Theater“ betitelt.
 
Seine Kritik am angeblichen Wiederaufbau Afghanistans unterstrich Baraki mit Bildern vom zerstörten Kabul. Die Fotos aus dem Jahr 2005 zeigen eine Ruinenstadt. Aufgebaut würden lediglich Luxushotels und Häuser für Nichtregierungsorganisationen. Ein ganzer Stadtteil gehöre dem ehemaligen Arbeitsminister. Auch auf das Problem des Drogenhandels kam der Referent zu sprechen. Vor dem 11. September habe es nur an der Grenze zu Pakistan vereinzelt Mohnanbau gegeben, heute stehe Afghanistan mit 20.000 Tonnen Rohopium an der Weltspitze des Anbaus, der sich inzwischen auf alle 32 Provinzen ausstrecke.
 
Mit NATO-Truppen im Land Frieden unmöglich
 
Nach diesen düsteren Bildern ging Baraki kurz auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan ein. Vor dem 1. Weltkrieg habe Afghanistan in Deutschland als Tor zu Indien gegolten, und an dieser geostrategischen Bedeutung Afghanistans auch für Deutschland habe sich bis heute nichts geändert. „Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt, sondern an den Grenzen der Verfassung“


Bundeswehr geht nach Afghanistan
Quelle: NRhZ-Archiv


- für diesen Satz erntete Baraki lauten Applaus. Es gebe für Afghanistan keine militärische Lösung. Mit den NATO-Truppen im Land werde es keinen Frieden geben. Deshalb fordere er die NATO und damit auch die deutsche Bundeswehr auf, Afghanistan zu verlassen. Die Sorge, dass dann die Taliban wieder die Macht erlangen könnten, sei unbegründet, denn diesen würde damit ihr Kampfgrund entzogen. Und wenn sie doch wiederkämen, sollten Truppen aus Ländern der Blockfreien Staaten oder der Konferenz der Islamischen Staaten in Afghanistan für Sicherheit sorgen. Es solle außerdem streng kontrollierte Wahlen für eine Ratsversammlung geben, die dann wiederum eine neue Regierung wählen solle. Das sei der Weg zum Frieden und nicht ein NATO-Einsatz in dem das Verhältnis der Ausgaben für Wiederaufbau und Militär 1 zu 900 sei.
 
Der „afghanische Fehler“
 
Zahlreiche teils kritische Nachfragen schlossen sich an, teilweise bezogen auf Dr. Barakis historische Ausführungen, größtenteils wurden aber die aktuelle Situation und seine Lösungsvorschläge diskutiert. Weshalb denn die Kräfte der Demokratischen Volkspartei mit ihren fortschrittlichen Ideen so weit vom Volk entfernt gewesen seien? „Nachher ist man immer schlauer“ entgegnete Baraki. Die Vorstellung, dass die Bevölkerung akzeptieren werde, was „gut für sie ist“ sei falsch gewesen. Doch ohne externe Faktoren hätten die Afghanen mittelfristig ihre Probleme selbst gelöst, und der „afghanische Fehler“ sei es gewesen sich mit der Sowjetunion einzulassen.
 
Demokratisches Potential
 
Auf die Gegenwart bezogen gab es in erster Linie Fragen zu den politischen Kräften in Afghanistan. Baraki: Die aktuellen Amtsträger seien zu 50 Prozent USA- und Europa-Afghanen, das heißt Fremde, die teilweise nicht einmal über einen afghanischen Pass verfügten. In jedem Büro gebe es zudem einen amerikanischen oder europäischen Berater. Es gebe aber genug afghanische Kräfte um Afghanistan friedlich zu regieren. Ein Zuhörer wollte  Genaueres über die demokratischen Kräfte wissen, auf welche Baraki seine Hoffnung setzt. Seine Antwort: Es müsse zunächst Wahlen mit unabhängigen Kontrollen geben, damit diese Kräfte sich entfalten könnten. Er sei nicht naiv, aber es gebe demokratisches Potential. Die aktuelle Regierung jedenfalls sei die korrupteste, die Afghanistan jemals gehabt habe, und dazu gebe es eine Alternative. Zudem seien Präsident Karsai und die anderen Regierungsmitglieder Marionetten der USA.


Karsai und Schily vereinbaren Polizeiausbildung (2002)
Quelle: BMI


Warum er glaube, dass in Afghanistan so schnell eine demokratische Tradition entstehen könne, war eine weitere Frage. In Afghanistan gebe es eine eigene demokratische Tradition die bis 1747 zurückreiche entgegnete Baraki. Damals habe es sogar schon basisdemokratische Versammlungen gegeben.
 
Wiederaufbau ein Legitimations-Alibi
 
Nach seiner Meinung über den von Deutschland in Afghanistan geleisteten Wiederaufbau gefragt, antwortete er angelehnt an Kurt Tucholsky: „Soldaten sind Mörder – und keine Entwicklungshelfer.“ Der Wiederaufbau sei lediglich ein Legitimations-Alibi. Beispielsweise seien in Kundus 240 Bundeswehr-Soldaten stationiert und die dortige Basis habe alleine 120 Millionen Euro für ihre eigene Infrastruktur erhalten. Diese Basis sei die größte deutsche Militärbasis außerhalb Deutschlands. Auf die Frage, welche Staaten er denn genau meine, die anstatt der NATO Schutztruppen nach Afghanistan schicken sollten, erwiderte Baraki, das müssten Afghanistan und die UNO bestimmen, er könne sich z.B. Indien, Indonesien oder Südafrika vorstellen. Auch die Einrichtung einer Wahrheitskommission und aktive Versöhnungspolitik seien denkbar. Wichtig zu wissen sei aber vor allem: Die afghanische Bevölkerung habe genug von den Taliban, sei politisiert und wach. (PK)

Online-Flyer Nr. 145  vom 07.05.2008

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