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Arbeit und Soziales
„Rechte schafft man, in dem man sie sich nimmt"
Politischer Streik illegal?
Von Christoph Jünke

Der politische Streik wird wieder in der Gesellschaft und in den Gewerkschaften diskutiert. In Deutschland ist er offiziell nämlich nicht erlaubt, während das in anderen europäischen Ländern überhaupt keine Frage ist. In diesem Zusammenhang gewinnt ein Interview mit dem Juristen und ehemaligen Vorsitzenden der IG Medien aus dem Jahr 2004 an aktueller Bedeutung. Gefordert wird eine Abkehr vom vordemokratischen Denken. - Die Redaktion.

Christoph Jünke: Was ist ein politischer Streik und inwiefern gilt er in der heutigen BRD als rechtswidrig?

Detlef Hensche: Als politischer Streik gilt die Arbeitsniederlegung zur Verfolgung und Durchsetzung politischer Ziele, bzw. vorsichtiger und gleichzeitig realistischer ausgedrückt: zur Bekundung politischen Willens, dessen Adressat der Gesetzgeber oder politische Instanzen sind, nicht dagegen der Arbeitgeber oder der Arbeitgeberverband. Wenn die Streikforderung von Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden zu erfüllen ist, wenn also sie die Adressaten sind, handelt es sich um eine Auseinandersetzung zumeist tarifpolitischer Natur.

Soweit der Streik gegen Gesetzgeber, Regierungen und andere politische Instanzen gerichtet ist, handelt es sich nach dieser üblichen juristischen Unterscheidung um einen politischen Streik. Letzterer gilt in der Bundesrepublik, ich sage nur in der Bundesrepublik, im Unterschied zum Ausland als rechtswidrig. Das ist in meinen Augen ein vordemokratisches Rechtsverständnis.

Warum vordemokratisch?

Es gehört zur politischen Auseinandersetzung einer offenen Gesellschaft, dass diejenigen, die im Wesentlich nur von ihrer Arbeitskraft leben und als solche in wirtschaftlich und sozial abhängiger Stellung sind, das einzige Druckmittel, das sie haben, nämlich die kollektive Arbeitseinstellung, auch einsetzen können müssen, um ihren politischen Willen zum Ausdruck zu bringen. Das gehört zu einer lebendigen offenen Gesellschaft. Gesetzgeber und andere öffentliche Instanzen bewegen sich ja nicht im luftleeren Raum, sie sind vielfältigem Druck und vielfältiger Einflussnahme ausgesetzt. Und diese Einflussnahme steigt in dem Maße, in dem man in der Gesellschaft auch Druckpotenzial ausüben kann.


Der politische Protest von Werktätigen und Studenten in allen Großstädten 1968...
Foto: Günter Zint – panfoto


Wer bspw. über Investitionen und Arbeitsplätze, über Standortentscheidungen verfügen kann, hat ein fast unendliches Druckpotenzial in der Hand, um Gemeinden, Länder, selbst die Bundesregierung in die Knie zu zwingen. Wirtschaftspolitik ist vielfach Standortpolitik. Wer dagegen nur seine Arbeitskraft hat, hat, außer dass er hin und wieder mal einen Leserbrief schreiben kann und alle vier Jahre sein Kreuzchen machen darf, kein weiteres Druckmittel außer der kollektiven Arbeitseinstellung. Sich am Wochenende hörbar in Demonstrationen Luft zu machen ist ja kein Druckmittel, sondern mehr eine Frage der Willens- und Meinungsäußerung.

Das Druckmittel wäre in der Tat die Arbeitseinstellung und erst auf diese Weise würde, wenn man so will, die Chance einer Machtbalance hergestellt zu denen, die ohnehin kraft Eigentums an den Produktionsmitteln und kraft Investitionsentscheidungen auch vorrangig Einfluss auf die politische Willensbekundung nehmen können. Wir haben es hierbei auch mit einer Frage der Grundrechte zu tun. Wer andere für sich arbeiten lässt, hat deren Grundfreiheiten, auch die zur kollektiven Gegenwehr und Meinungsäußerung während der Arbeitszeit hinzunehmen. Mit anderen Worten: mit dem Arbeitsvertrag entäußert sich der Arbeitnehmer nicht seiner Grundrechte, schon gar nicht derer, die sich gerade auf die soziale Situation der abhängig Beschäftigten beziehen.

Im restlichen Europa, du hast es angesprochen, ist die Rechtslage eine andere. Woher kommt dieser deutsche Sonderweg?

Der hat sich, und das ist interessant, erst in den 50er Jahren herausgeschält. Auslöser war damals ein Zeitungsstreik anlässlich der dritten Lesung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952, zu dem die IG Druck & Papier aufgerufen hatte. Dieser 48-stündige Zeitungsstreik wurde als politischer Streik gebrandmarkt — das war er ja dem Sinne nach auch, keine Frage —, und außer dem Landesarbeitsgericht Berlin haben alle anderen angerufenen Landesarbeitsgerichte diesen Streik für illegal erklärt. Das hat sich dann später, in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, fortgesetzt.

Wenn man in der Geschichte zurückblickt, kann man bis zum Anfang der 50er Jahre, also bis in die 20er Jahre, ich lasse mal den Faschismus außen vor, eine durchaus gleichgerichtete Entwicklung in allen europäischen Ländern feststellen. Im 19.Jahrhundert, um jetzt nicht noch weiter zurückzugreifen, kämpften die Arbeiter und Arbeiterorganisationen u.a. und vorrangig um das Recht auf kollektive Arbeitseinstellung, also um das Streikrecht. Schrittweise und in unterschiedlichen Etappen wurde dieses Streikrecht durchgesetzt, bis es in der Weimarer Verfassung zwar nicht dem Wortlaut, wohl aber dem Wortsinne nach erlaubt war.

Das so erkämpfte Streikrecht galt in Frankreich, Italien, England oder Deutschland, wo auch immer, als ein unbegrenztes Streikrecht, das auch politische Forderungen rechtfertigte. Das war in den 20er Jahren auch in Deutschland unstreitig. Erst der erwähnte Streik von 1952 hat erneut ein Staatsverständnis zum Vorschein kommen lassen, das in meinen Augen vordemokratisch und Ausdruck eines neutralen Obrigstaatsdenkens ist.



... und der letzte große politische Protest in Köln mit 100.000 Menschen im Jahr 2004 gegen Lohn- und Sozialraub gingen an der Politik vorbei.

Die Rollenverteilung zwischen Tarifpolitik und staatlicher Sozialpolitik ist ja nicht eindeutig zu bestimmen. Wenn der Gesetzgeber die Finanzierung des Krankengeldes ausschließlich den Arbeitnehmern aufbürdet, greift er in die Einkommensverteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein, ebenso gravierend und unmittelbar wie ein Lohntarifvertrag. Aller Voraussicht nach wird die materielle, soziale und berufliche Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer je länger, je mehr von Akten der staatlichen Politik geprägt sein, womöglich nachhaltiger als durch Tarifverträge.

Seit dem Streik von 1952 gilt der politische Streik als unerlaubte Einflussnahme auf die Organe der parlamentarischen Demokratie. Doch was kann man diesem eingespielten Richterrecht entgegensetzen? Auf welche juristischen Grundlagen könnte sich ein politischer Demonstrationsstreik auch bei uns berufen?

Zum einen und primär auf die Verfassung, die zwar das Streikrecht nur am Rande erwähnt, d.h. im Zusammenhang mit dem Notstand, es aber garantiert. Zahlreiche Landesverfassungen tun das übrigens auch. Dieses Streikrecht hat in den Verfassungstexten nicht die Einschränkungen, die später das Arbeitsgericht vorgenommen hat — jene Einschränkung allein auf tarifvertragsfähige Ziele, die sich an den Adressaten Arbeitgeber richten. Die Verfassungsgarantie des Streikrechts gilt unbegrenzt, losgelöst vom Streikgegenstand und vom Streikziel. Diese nationale Begründung kann durch Richterrecht nicht aufgehoben werden. Alles das, was den politischen Streik in der Bundesrepublik einschränkt oder für illegal erklärt, ist nur das Produkt von Gerichtsentscheidungen.

Jenseits der nationalen Ebene gibt es das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die kraft Völkerrecht auch in der Bundesrepublik ebenso zu beachten sind wie die europäische Menschenrechts- und Sozialrechts-Charta. Beide sehen ein Streikrecht ohne die bundesdeutschen Eingrenzungen vor. Der Sachverständigenausschuss dieser Internationalen Arbeitsorganisation hat die deutsche Praxis sogar wiederholt gerügt.

Die von dir vorgetragene Interpretation ist in der öffentlichen Diskussion nicht gerade Konsens. Auch in Gewerkschaftskreisen scheint hier die Defensive vorzuherrschen, wenn es darum geht, dieses Recht einzuklagen.


Es wird eine neue Forderung aufgestellt: Selbstorganisation im politischen Streik.
Fotos: arbeiterfotografie

Einklagen ist schwer. Es ist wie in der Vergangenheit: Rechte schafft man, indem man sie sich nimmt. Ich muss allerdings sagen, dass dies für jede Gewerkschaft mit zumeist unkalkulierbaren Risiken verbunden ist. Aufgrund der Illegalisierung des politischen Streiks drohen Schadenersatzpflichten, die für Gewerkschaften sehr empfindlich sein können. Die von dir kritisierte »defensive« Haltung der Gewerkschaften ist sehr verständlich, gut nachzuvollziehen und ich teile sie. Ich führe nicht die Organisation ohne Not ins Abenteuer nicht kalkulierbarer Haftungsforderungen. Gleichwohl ist es aber an der Zeit, hin und wieder und mit Zielen, denen sich keiner verschließen kann, dieses Instrument zu nutzen.

Das ist im übrigen ja nicht neu. Es stimmt ja nicht, dass in der Bundesrepublik seit den 50er Jahren keine politisch motivierten Arbeitsniederlegungen stattgefunden hätten. Ich erinnere nur an das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt oder an entsprechende Aktionen im Jahre 1956, als es um die Mitbestimmung ging. Dieses Mittel öfters zu nutzen und auch in der Öffentlichkeit entsprechend herauszustellen ist notwendig, um allmählich auch bei Juristen einen Stimmungsumschwung herbei zu führen.

Die Agenda 2010 bezieht sich unmittelbar auf die soziale Situation der abhängig Beschäftigten. Haben deiner Meinung nach diejenigen Recht, die im Kampf gegen die Agenda 2010 politische Streiks fordern?

Wäre dies das Fallbeispiel, an dem man dieses Streikrecht von gewerkschaftlicher Seite erprobt?


Das hängt von der konkreten Situation ab. Solange Ruhe im Lande herrscht, wäre das riskant. Wenn aber etwa nach erfolgreichen Demonstrationen und Aktionstagen wie denen Anfang April der Protest mehrheitsfähig würde und die Stimmung auf Seiten der Gewerkschaften wäre, dann ließe sich das ins Auge fassen. Die Frage lässt sich aber nicht mit ja oder nein beantworten oder am Reißbrett diskutieren, sondern hängt von den ganz konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Der europäische Kontext macht zumindest deutlich, dass alle Gewerkschaften in Europa vor den gleichen Problemen stehen und die gleichen Ziele verfolgen und zu den gleichen Aktionen herausgefordert sind. In einem solchen europäischen Kontext könnte eine solche gemeinsame, auch innerhalb der Arbeitszeit durchgeführte Aktion ja immerhin mal Sinn machen.

Und die Führung eines juristischen Kampfes anstelle oder zusätzlich zum politischen hältst du nicht für denkbar?

Solche Fragen, die zuvörderst Machtfragen sind, legt man nicht in die Hände von Juristen. Es sei denn, man wird dazu gezwungen. (HDH)

Das Interview erschien im März 2004 in der Monatszeitschrift „Sozialistische Zeitung".


Online-Flyer Nr. 143  vom 23.04.2008

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