NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

zurück  
Druckversion

Globales
Interview mit Sevim Dagdelen zu Erdogans Besuch in Köln
Zweierlei Maß auch in der Türkei
Von Peter Kleinert

Sevim Dağdelen, geboren 1975 in Duisburg, gehört seit 2005 dem Deutschen Bundestag an und ist migrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE mit Wahlkreisbüro in Bochum, in der Alleestraße 36. Zuvor engagierte sie sich ehrenamtlich in der LandesschülerInnenvertretung NRW und im geschäftsführenden Bundesvorstand der Föderation Demokratischer Arbeitervereine e.V. (DIDF). Als freie Mitarbeiterin arbeitet sie bei verschiedenen Zeitungen und übersetzt verschieden Publikationen.

Sie haben in einer Pressemitteilung zu Ministerpräsident Erdoğans umstrittener Rede in Köln erklärt, dass er die türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten „für Lobbyisten für die türkische Außenpolitik hält“ und dass türkische Regierungen sie immer wieder als „diplomatische Verhandlungsmasse“ benutzen. Meinen Sie damit beispielsweise den von unserer Bundeskanzlerin abgelehnten EU-Beitritt der Türkei?


sevim dagdelen
Sevim Dağdelen, Migrationpo-   
litische Sprecherin der LINKE
Sevim Dağdelen: Unter anderem. 1961 wurden die ersten Anwerbeabkommen mit der Türkei unterzeichnet. In den ersten Jahrzehnten haben die türkischen Regierungen sie als eine Devisenquelle angesehen. Nachdem sich die Menschen im Laufe der Zeit, besonders mit Beginn der 90er Jahre, mehrheitlich entschieden hatten, sich in der Bundesrepublik niederzulassen, wurde eine Wende in dieser Politik vollzogen. Die Zahl der aus der Türkei stammenden Migrantinnen und Migranten in der EU ist mit knapp 4 Millionen höher als die Bevölkerungszahl in acht Mitgliedsstaaten. Da greift man natürlich in den Beitrittsverhandlungen gerne auf diese Masse zurück. Es gab in der Vergangenheit aber auch etliche Versuche, von Konsulaten geführte antikurdische Proteste oder Pro-Türkei-Veranstaltungen zu organisieren.

Um diese Politik weiter erfolgversprechend betreiben zu können, müssen die türkischen Regierungen ihren Einfluss auf die „Auslandstürken“ aufrechterhalten. Deshalb lautet die Maxime, unter die die Türkei ihre Politik gegenüber den Menschen in Europa, besonders in der Bundesrepublik gestellt hat: „Werdet deutsche Staatsbürger, bleibt aber Türken!“ So gesehen hat der türkische Premier in Köln nichts Neues gesagt.

Was halten Sie persönlich vom offenbar auch von dieser türkischen Regierung – die das Kopftuchverbot trotz starker Proteste teilweise aufgehoben hat – gewünschten EU-Beitritt? Ich kenne gerade im linken Spektrum der türkischen Gesellschaft überwiegend Menschen, die der Auffassung sind, ein EU-Beitritt würde eher starken Staaten wie Deutschland oder ihren Konzernen nützen und der Mehrheit der türkischen Bevölkerung eher schaden – ähnlich wie man es in einigen ehemaligen Ostblockstaaten beobachten kann.


Recep Tayyip Erdoğan: „Werdet deutsche Staatsbürger,
bleibt aber Türken!“ | Foto: Arbeiterfotografie

Wenn man sich anschaut, wozu die Aufnahme der Türkei in die Zollunion geführt hat, haben Ihre Bekannten aus dem linken Spektrum nicht Unrecht. Seit Beginn der Zollunion im Jahre 1996 ist ein durchschnittlicher Außenhandelsüberschuss zugunsten der EU-Mitgliedsstaaten in Höhe von 12 Milliarden Euro pro Jahr ermittelt worden. Die Profiteure waren also die EU-Mitgliedsstaaten. Im Falle des EU-Beitritts der Türkei wird sich diese Bilanz nicht zugunsten der türkischen Wirtschaft verändern. Ich meine, die Bevölkerung in der Türkei ist die erste Instanz, die über den EU-Beitritt ihres Landes entscheiden muss.

Politik und Medien haben sich vor allem über Erdoğans Forderung nach türkischen Schulen, gar einer Universität in Deutschland heftig aufgeregt. Erdoğans Pläne seien „Gift für die Integration“, erklärte der CSU-Vorsitzende Huber. Und die SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün sagte, sie wolle nicht, „dass die Kinder körperlich hier sind und geistig und seelisch in der Türkei“. Andererseits gibt es in der Türkei, aber auch in vielen anderen Ländern deutsche Schulen für deutschsprachige Minoritäten, und in Istanbul soll demnächst eine deutschsprachige Universität eingerichtet werden, wohl auch um die türkischen Eliten stärker an Deutschland anzubinden als bisher. Wie stehen Sie zu dieser Zweierlei Maß-Politik?

In der Integrationsdebatte wird ja immer wieder auf die Schlüsselrolle der Bildung hingewiesen. Gestern hat das Statistische Bundesamt die letzten Zahlen zur Bildungssituation der Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass sie nach wie vor an Hauptschulen überrepräsentiert, an Realschulen und Gymnasien unterrepräsentiert sind. Wir müssen uns mit dieser katastrophalen bildungspolitischen Bilanz der Bundesregierung auseinandersetzen. Wir müssen eine Antwort auf die Frage geben, wie wir es überwinden können, dass die ethnische Herkunft sowie sozialer und ökonomischer Status über den Bildungsweg entscheiden.

erdogan prost

„Na, dann Prost!" – Plakat zum Besuch Erdoğans in Köln
Foto: Arbeiterfotografie

Mit der Errichtung von türkischen Schulen oder gar Universitäten werden wir das Problem jedenfalls nicht lösen. Ich konnte in türkischsprachigen Medien mitverfolgen, wie oppositionelle Kreise auf diese Forderung Erdoğans reagierten. Sie haben nicht zu Unrecht gefragt, was er dazu sagt, dass die Kurdinnen und Kurden ihre Muttersprache an Schulen nicht erlernen können. Auch in diesem Zusammenhang wird zweierlei Maß angelegt.

Seit 1961 gehören die meisten türkischstämmigen Menschen – die größte Minderheit in Deutschland – zu den „billigsten Arbeitskräften“, wie eine aktuelle Studie aus NRW zeigt, und zu den am wenigsten Gebildeten. Wie könnte man Ihrer Meinung nach dieser Ungerechtigkeit abhelfen?

Als Mitte der 50er Jahre die ersten italienischen Gastarbeiter für das Baugewerbe angeworben wurden, war in dieser Branche ein wochenlanger Streik im Gange. Die damaligen Gastarbeiter wurden gegen ihre deutschen Kollegen eingesetzt. Dieser Linie ist man seither treu geblieben. Sie werden gegeneinander ausgespielt, damit der Sozialabbau und die neoliberale Wirtschaftspolitik mit dem geringsten Widerstand durchgesetzt werden können.

Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit wird auch und vor allem den Migrantinnen und Migranten nutzen. Darüber hinaus brauchen wir eine Politik, die Menschen mit Migrationshintergrund rechtliche und soziale Gleichstellung sowie Teilhabe ermöglicht. Nicht zuletzt sind speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Maßnahmen erforderlich, damit ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Auf eine kleine Anfrage von mir antwortete die Bundesregierung, dass sie jährlich Euro 28,59 für arbeitslose Migranten ausgibt.

Zum Schluss eine aktuelle Frage: Am Sonntag hat sich die Regierung des Kosovo für unabhängig von Serbien erklärt. Die Bundesregierung steht voll dahinter und wird dies offenbar auch notfalls militärisch unterstützen – wie die Mehrheit der EU-Staaten und die USA. Was würden Sie zu einer vergleichbaren Forderung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei sagen?

Mit Sorge beobachte ich die Bestrebungen nationalistischer Kreise, das Land an den Abgrund eines Bürgerkrieges zu bringen. Deshalb unterstütze ich alle Bemühungen, die auf eine friedliche und demokratische Lösung der „kurdischen Frage“ ausgerichtet sind. (CH)

kurdische Proteste bei Erdogans Besuch in Köln Foto: arbeiterfotografie.com
Proteste mit kurdischen Fahnen zu Erdoğans Besuch in Köln
Foto: Arbeiterfotografie

Online-Flyer Nr. 134  vom 20.02.2008

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE