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Neue Realitäten
„Ich habe einen Namen...“
Von Ingrid Bahß

Als wir 1983 aus Magdeburg nach Köln kamen, kannten wir arme, jedoch keine obdachlosen Menschen. Auf dem ersten „West-Bahnhof“ unseres Lebens in Hannover bettelte ein Mensch und unsere Kinder mussten mir versprechen, jedem Bettler Geld zu geben. Die Realität holte uns ein.




Wohnungslose und Bettler gehören zu unserem Alltag. Ich kam nicht umhin, mir eine Meinung zur Situation wohnungsloser Menschen zu bilden. Nicht überprüfte Phantasien und Klischeevorstellungen spielten dabei eine große Rolle.



Als der Vrings-Treff im Kölner Severinsviertel als Treffpunkt von Wohnungslosen und Anwohnern, seine Türen öffnete, hatte ich die Chance, auf eine unkomplizierte Weise mit wohnungslosen Menschen ins Gespräch zu kommen. Zur gleichen Zeit hatte ich Herrn K. kennengelernt, der bis zu seinem 82. Lebensjahr „Platte machte“ und seit drei Jahren ein eigenes Zimmer im Johannes-Haus, einem Wohnheim für obdachlose Männer in Köln, bewohnt.



Herr K aus K

Wir sind Freunde geworden. Als Herr K. noch draußen lebte, hielt er sich tagsüber in der Cafeteria des Johannes-Hauses auf. Ich erinnere mich daran, dass ich von den anderen Gästen des Hauses stets höflich und respektvoll begrüßt wurde. Das hat mir zu denken gegeben.

Im Verlauf der Zeit erfuhr ich mehr und mehr über Schicksale von Menschen, die in Wohnungslosigkeit geraten sind. Da erzählte ein ehemaliger Fotograf über sich, der sich für meine Kamera interessierte, ein Blinder berichtete davon, wie gerne er Hörspiele hört, einer erzählte über seine Zeit in Indien und pendelte dabei, ein anderer hatte Fachwissen über Jazz und ein weiterer holte seine Gitarre heraus und spielte selbst. Selbstverständlich könnte ich die Aufzählung abgebrochener beruflicher Lebensläufe fortsetzen...



Immer wieder erfahre ich Neues und Interessantes: Mit dem netten Opi spreche ich auf Russisch über Wladimir Wyssotzky und seine wunderbaren Lieder, mit anderen geht es um die Liebe zum Jazz, um Glaubensfragen, über das schwierige Leben als Wohnungsloser und nicht selten wird gelacht. Manche wollen schweigen. Alles passt.

Als ich dann vom Wohnungslosen-Frühstück erfuhr, war ich schon längere Zeit mit Herrn K. befreundet. Die Bewohner des Johannes-Hauses kannten mich, und ich durfte sie fotografieren. Mit dem Wohnungslosen-Frühstück erfüllte sich für mich der Wunsch, dass gerade diesen Menschen eine würdevolle Möglichkeit gegeben wird, in einer Atmosphäre miteinander zu speisen und zusammen eine gute Zeit zu verbringen, die sie sich in ihrem anstrengenden Leben verdient haben.



So ist das Wohnungslosen-Frühstück – ermöglicht durch die Dr. Peter Deubner-Stiftung– eine wohlverdiente Atempause. Dr. Deubner und seine ehrenamtlichen Mitstreiter bieten seit gut zweieinhalb Jahren regelmäßig ein kostenloses Frühstück für wohnungslose und arme Menschen an. „Die Idee habe ich in Nürnberg bekommen, wo ich ein ähnliches Projekt gesehen habe“, erklärt Dr. Deubner. „45 Besucher kamen beim ersten Mal, mittlerweile sind es rund 170 Gäste. Und damit ist der Vrings-Treff rappelvoll.“ Finanziert wird das Projekt durch die Stiftung, aber auch durch zahlreiche Spenden, vor allem Lebensmittel von der „Kölner Tafel.“

Als ich beim letzten Frühstück meinen Nachbarn fragte, wie man denn über Orte mit kostenloser Essenausgabe informiert würde, erfuhr ich von der gut funktionierenden Mund-Zu-Mund-Propaganda unter den Obdachlosen. Das gefällt mir.



Die Sicherheit, nicht benutzt zu werden


Als ich anfing, mich beim Wohnungslosenfrühstück ein Stück zuhause zu fühlen, hatte ich den Wunsch, die Menschen in dieser würdigen Situation zu fotografieren. Das ist mir anfangs nicht leicht gefallen, da ich mit Ablehnung rechnen musste. In vielen kleinen Schritten und bei vielen persönlichen Gesprächen machte ich die ersten Fotos. Es war mir wichtig, den Menschen die Sicherheit zu geben, dass ich sie nicht benutze. Aus demselben Grunde schenkte ich ihnen auch viele Fotos.



Anfangs dachte ich nicht daran, die Fotos in einer Ausstellung zu zeigen. Später wurde es mir ein Anliegen, Menschen mit wenigen Berührungsmöglichkeiten mit wohnungslosen Menschen mit Hilfe meiner Fotos mitzuteilen, dass wohnungslose Menschen wie du und ich eine berufliche und persönliche Biografie mitbringen, die durch Lebensumstände, mit denen keiner von ihnen gerechnet hat, abgebrochen werden kann. Der Betrachter sollte eine Ahnung davon bekommen, dass auch er betroffen sein könnte, wenn sich seine Lebensumstände zu seinem Nachteil entwickeln.



Ich hatte im Jahre 2006 die Möglichkeit, meine Fotos in meinem Heimatort Werben/Elbe in Sachsen-Anhalt zu zeigen und war erstaunt, welche offenen und interessierten Gespräche sich daraus ergeben haben – und das mit Menschen, die Wohnungslosigkeit allein von ihren Reisen kennen und kaum persönliche Begegnungen mit Betroffenen haben. Der Bürgermeister der nächstgelegenen Stadt bat mich, die Fotos auch in Seehausen zu zeigen. Dort machte ich ähnliche Erfahrungen wie in Werben.



Auf dem Bundeskongress der Wohnungsloseninitiativen in Berlin waren kurze Zeit später einige meiner Porträts gut platziert zu sehen. Die Dr. Peter Deubner-Stiftung ermöglichte es mir im November 2007, meine Fotos gemeinsam mit einem Ölbild von Jörn Keseberg, in der Trinitatiskirche in Köln auszustellen.



Seit November des vergangenen Jahres beteilige ich mich mit einer Auswahl an Fotos an der Wanderausstellung der Ev. Obdachlosenhilfe e.V. Stuttgart „Kunst trotz(t) Armut“, die in zehn Städten Arbeiten von Cornel Wachter, Felix Droese, Miriam Kilali, Jörg Immendorf, Wolfgang Bellwinkel, Sigmar Polke und vielen anderen zeigt. Allen Ausstellungen ist es ein Anliegen, wohnungslose und arme Menschen in würdigen Situationen zu zeigen. In diesem Sinne findet der Betrachter keine Fotos vor, die Menschen in ihrer Not bloßstellen und Bewertungs-Klischees bedienen. Zu meiner großen Freude bin ich um weitere Ausstellungen zum Thema gebeten worden. Eine von ihnen wird im März in Ortenberg/Hessen stattfinden. (CH)


Ingrid Bahß wurde 1949 in Havelberg geboren und wuchs in der Altmark auf. Bis 1983 wohnte sie in Magdeburg. Seit der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR ist sie in Köln wohnhaft. Sie ist Mitglied der Arbeiterfotografie. Ausstellungen von ihr waren u.a. in Köln, Magdeburg, Emden, Berlin, Archangelsk/Russland, Zella Mehlis, Erfurt, Werben/Elbe, Seehausen/Altmark, Leipzig und Bonn zu sehen.



Online-Flyer Nr. 132  vom 06.02.2008

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