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Inland
Zu den Forderungen von Koch & Co in Sachen Jugendkriminalität
„Was mit uns gemacht wird, ist Mittelalter“
Von Klaus Jünschke
Seit den 70er Jahren drei Grundsätze für die Haft
Als in den Siebzigern erstmals in der Bundesrepublik ein Strafvollzugsgesetz verabschiedet werden sollte, gab es einen Konsens darüber, dass die Gefangenen nur dann befähigt werden können, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“ (so das offizielle Ziel des Vollzugs), wenn ihnen selbst ebenfalls in sozialer Verantwortung begegnet wird. Für die Haft wurden daher drei Grundsätze formuliert:
Alle sind als Kinder selbst Opfer gewesen.
Foto: Steffen Hellwig/pixelio.de
Der Angleichungsgrundsatz besagt, dass das Leben hinter den Mauern den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich angeglichen werden solle. Der Gegenwirkungsgrundsatz betont die Notwendigkeit, den schädlichen Wirkungen der Haft entgegenzuwirken. Und im Eingliederungsgrundsatz heißt es, dass dem Gefangenen dabei zu helfen ist, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. Damit wurde an die Reformdebatte der Weimarer Republik angeknüpft, als der damalige Justizminister Gustav Radbruch äußerte, dass wir keine besseren Gefängnisse, sondern etwas Besseres als das Gefängnis brauchen.
Was sich die Reformer der Siebziger erhofften, nämlich, dass Formen des Offenen Vollzuges künftig zum Regelvollzug würden – das ist nicht eingetreten. Das Gegenteil ist der Fall. Haftstrafen sind länger geworden, die Gefängnisse sind überfüllt, das Klima hinter den Mauern wurde rauer. Waren früher in den Jugendgefängnissen doppelte Gitter an den Fenstern der Zellenhäuser nur vereinzelt zu sehen, so sind sie heute in Nordrhein-Westfalen die Regel. Die jungen Gefangenen leben den Widerspruch zwischen dem, was mit ihnen gemacht wird, und dem, was eigentlich geschehen sollte. Bei einem Besuch in der Justizvollzugsanstalt Siegburg sagte mir ein Gefangener: „Was mit uns gemacht wird, ist Mittelalter.“
Schon die Zelle ist ein Übergriff
Angesichts des durch neuere Studien bekannt gewordenen Umfangs der Gewalt unter den Gefangenen wurde zum Schutz vor Übergriffen das Recht auf Einzelunterbringung betont, ohne Gefühl dafür, dass schon die Zelle selbst ein Übergriff ist - und dieser Übergriff findet zudem in einem Raum statt, der auch schon im Kaiserreich, in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus dazu diente, junge Leute festzuhalten. (Diese Problematik ist sowieso kaum jemandem bewusst).
Ein schwäbisches Sprichwort sagt, dass der Raum der dritte Lehrer ist - nach den anderen Kindern und dem Lehrer. In der Diskussion um die Jugendstrafvollzugsgesetze wird aber der Raum - hier also die Zelle - in seiner Bedeutung als „Lehrer“ überhaupt nicht reflektiert. Allenfalls hört man Empfehlungen über die Zahl der maximalen Haftplätze in einer JVA oder über die Größe von Wohngruppen. Doch selbst hier werden die Ratschläge von Fachleuten ignoriert. In Nordrhein-Westfalen werden Jugendgefängnisse mit 500 Haftplätzen konzipiert, in denen allein diese große Zahl zu rein bürokratischer Verwaltung führen muss; der ideale Nährboden für das Fortleben von Subkulturen mit ihrer sattsam bekannten Gewalt. In Köln sind die Jugendlichen in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht, das in den sechziger Jahren gebaut wurde - die Diskussion um die Käfighaltung von Tieren ist heute weiter, als es damals die Überlegungen zur Unterbringung von Gefangenen waren. Es ist weder für die Menschen, die dort zwangsweise untergebracht sind, noch für die Menschen, die dort arbeiten, ein akzeptabler Ort. Die Unterbringung in diesen Zellenhäusern trägt vielmehr dazu bei, dass bis zu achtzig Prozent der Jugendlichen rückfällig werden, dass sie brutalisiert werden. Das ist quasi der heimliche Lehrplan solcher Einrichtungen.
Knast Ossendorf
Foto: H.-D. Hey, arbeiterfotografie
Es gibt Menschen, deren Bewegungsfreiheit vorübergehend eingeschränkt werden muss, weil sie für sich oder andere eine Gefahr sind. Aber das sollte in Häusern mit Zimmern geschehen, in Räumen, deren Türen innen eine Klinke haben, die sie folglich verlassen können, wenn sie in Angstzustände geraten. Und sie sollten vor der Zimmertür immer jemanden treffen, mit dem sie sprechen können. Heute, mehr als ein Jahr nach dem gewaltsamen Tod von Herrmann Heibach in der JVA Siegburg, sind dort auf manchen Abteilungen weiterhin bis zu sechzig Prozent der Gefangenen ohne Beschäftigung. Bernhard Bueb, der ehemalige Leiter des Internats Salem, sagt: „Die Jugendlichen in Haft haben dasselbe Recht auf eine gleich gute Erziehung wie die Jugendlichen in Salem. Der Weg mit Straftätern sollte ein ganz normaler pädagogischer Weg sein. 23 Stunden Einsperren in eine Einzelzelle ist für einen Menschen in der vitalsten Phase seines Lebens jenseits aller Menschlichkeit.“
„Soziale Hinrichtung“
Wenn von brutalen Taten Jugendlicher die Rede ist, wird ihre fehlende Empathie beklagt. Wer in einer JVA mit Jugendlichen ausländischer Herkunft oder Abstammung spricht, der wird feststellen, dass sie ihrerseits auch kein Einfühlungsvermögen der Erwachsenengesellschaft erkennen können. Die sieht stattdessen in der Abschiebung eine angemessene Reaktion auf ihr Fehlverhalten. Auch das war mal anders: Die erste gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Delinquenz von Jugendlichen aus dieser Gruppe fand Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger statt. Studien erklärten den Zusammenhang von Migration und Straffälligkeit. Selbst in der vom BKA in Auftrag gegebenen Untersuchung von Franz Hamburger aus dem Jahr 1981 wurde die Abschiebung von nichtdeutschen Straftätern als „soziale Hinrichtung“ verurteilt und eine Abkehr von dem Wahn gefordert, Jugendkriminalität repressiv zu bekämpfen. Die Empfehlungen wurden von der Politik nicht aufgenommen. Stattdessen verlassen in jeder Großstadt immer noch jährlich hunderte Jugendliche die Schulen ohne Abschluss. Mehr als 70 Prozent der zu einer Jugendstrafe verurteilten jungen Männer kommen ohne Abschluss ins Gefängnis. Und noch mehr waren, als sie die Tat begingen, schon lange arbeitslos. Alle, die wegen Gewalttaten einsitzen, sind als Kinder selbst Opfer von maßloser Brutalität und Misshandlung gewesen. Jeder zweite Inhaftierte hat Suchtprobleme.
Jugendkriminalität wie der
SPIEGEL sie sieht
Quelle: Spiegeltitel
Wer Jugendkriminalität zu einem Unterschichtproblem erklärt, verdreht die Tatsachen. Er versucht, die Verantwortung der Gesellschaft und der Politik für Strukturen und Zustände aus der Diskussion zu halten. Und wer uns weismachen will, dass die jungen Männer „die gefährlichste Spezies der Welt“ seien (so der SPIEGEL-Titel der vergangenen Woche), der verkennt, dass vielmehr erwachsene Männer das größte Gewaltproblem in unserer Gesellschaft sind. Ihre Opfer sind Frauen, Kinder und Jugendliche. Und es sind erwachsene Wirtschaftsstraftäter, die einen größeren Schaden anrichten als alle klauenden und raubenden Kinder und Jugendliche zusammen. (PK)
Dieser Artikel wurde am Montag auch in der SZ veröffentlicht. Zusammen mit Christiane Ensslin hat Klaus Jünschke das Buch "Pop Shop" über jugendliche Strafgefangene veröffentlicht. Es war schnell vergriffen, liegt aber jetzt in einer zweiten Auflage vor. Weil der Druck teurer wurde, musste der Verlag den Preis auf 20 Euro erhöhen. Wichtig für den Kölner Appell sind Bestellung direkt beim Verein über www.jugendliche-in-haft.de
Online-Flyer Nr. 129 vom 16.01.2008
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Inland
Zu den Forderungen von Koch & Co in Sachen Jugendkriminalität
„Was mit uns gemacht wird, ist Mittelalter“
Von Klaus Jünschke
Seit den 70er Jahren drei Grundsätze für die Haft
Als in den Siebzigern erstmals in der Bundesrepublik ein Strafvollzugsgesetz verabschiedet werden sollte, gab es einen Konsens darüber, dass die Gefangenen nur dann befähigt werden können, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“ (so das offizielle Ziel des Vollzugs), wenn ihnen selbst ebenfalls in sozialer Verantwortung begegnet wird. Für die Haft wurden daher drei Grundsätze formuliert:
Alle sind als Kinder selbst Opfer gewesen.
Foto: Steffen Hellwig/pixelio.de
Was sich die Reformer der Siebziger erhofften, nämlich, dass Formen des Offenen Vollzuges künftig zum Regelvollzug würden – das ist nicht eingetreten. Das Gegenteil ist der Fall. Haftstrafen sind länger geworden, die Gefängnisse sind überfüllt, das Klima hinter den Mauern wurde rauer. Waren früher in den Jugendgefängnissen doppelte Gitter an den Fenstern der Zellenhäuser nur vereinzelt zu sehen, so sind sie heute in Nordrhein-Westfalen die Regel. Die jungen Gefangenen leben den Widerspruch zwischen dem, was mit ihnen gemacht wird, und dem, was eigentlich geschehen sollte. Bei einem Besuch in der Justizvollzugsanstalt Siegburg sagte mir ein Gefangener: „Was mit uns gemacht wird, ist Mittelalter.“
Schon die Zelle ist ein Übergriff
Angesichts des durch neuere Studien bekannt gewordenen Umfangs der Gewalt unter den Gefangenen wurde zum Schutz vor Übergriffen das Recht auf Einzelunterbringung betont, ohne Gefühl dafür, dass schon die Zelle selbst ein Übergriff ist - und dieser Übergriff findet zudem in einem Raum statt, der auch schon im Kaiserreich, in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus dazu diente, junge Leute festzuhalten. (Diese Problematik ist sowieso kaum jemandem bewusst).
Ein schwäbisches Sprichwort sagt, dass der Raum der dritte Lehrer ist - nach den anderen Kindern und dem Lehrer. In der Diskussion um die Jugendstrafvollzugsgesetze wird aber der Raum - hier also die Zelle - in seiner Bedeutung als „Lehrer“ überhaupt nicht reflektiert. Allenfalls hört man Empfehlungen über die Zahl der maximalen Haftplätze in einer JVA oder über die Größe von Wohngruppen. Doch selbst hier werden die Ratschläge von Fachleuten ignoriert. In Nordrhein-Westfalen werden Jugendgefängnisse mit 500 Haftplätzen konzipiert, in denen allein diese große Zahl zu rein bürokratischer Verwaltung führen muss; der ideale Nährboden für das Fortleben von Subkulturen mit ihrer sattsam bekannten Gewalt. In Köln sind die Jugendlichen in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht, das in den sechziger Jahren gebaut wurde - die Diskussion um die Käfighaltung von Tieren ist heute weiter, als es damals die Überlegungen zur Unterbringung von Gefangenen waren. Es ist weder für die Menschen, die dort zwangsweise untergebracht sind, noch für die Menschen, die dort arbeiten, ein akzeptabler Ort. Die Unterbringung in diesen Zellenhäusern trägt vielmehr dazu bei, dass bis zu achtzig Prozent der Jugendlichen rückfällig werden, dass sie brutalisiert werden. Das ist quasi der heimliche Lehrplan solcher Einrichtungen.
Knast Ossendorf
Foto: H.-D. Hey, arbeiterfotografie
Es gibt Menschen, deren Bewegungsfreiheit vorübergehend eingeschränkt werden muss, weil sie für sich oder andere eine Gefahr sind. Aber das sollte in Häusern mit Zimmern geschehen, in Räumen, deren Türen innen eine Klinke haben, die sie folglich verlassen können, wenn sie in Angstzustände geraten. Und sie sollten vor der Zimmertür immer jemanden treffen, mit dem sie sprechen können. Heute, mehr als ein Jahr nach dem gewaltsamen Tod von Herrmann Heibach in der JVA Siegburg, sind dort auf manchen Abteilungen weiterhin bis zu sechzig Prozent der Gefangenen ohne Beschäftigung. Bernhard Bueb, der ehemalige Leiter des Internats Salem, sagt: „Die Jugendlichen in Haft haben dasselbe Recht auf eine gleich gute Erziehung wie die Jugendlichen in Salem. Der Weg mit Straftätern sollte ein ganz normaler pädagogischer Weg sein. 23 Stunden Einsperren in eine Einzelzelle ist für einen Menschen in der vitalsten Phase seines Lebens jenseits aller Menschlichkeit.“
„Soziale Hinrichtung“
Wenn von brutalen Taten Jugendlicher die Rede ist, wird ihre fehlende Empathie beklagt. Wer in einer JVA mit Jugendlichen ausländischer Herkunft oder Abstammung spricht, der wird feststellen, dass sie ihrerseits auch kein Einfühlungsvermögen der Erwachsenengesellschaft erkennen können. Die sieht stattdessen in der Abschiebung eine angemessene Reaktion auf ihr Fehlverhalten. Auch das war mal anders: Die erste gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Delinquenz von Jugendlichen aus dieser Gruppe fand Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger statt. Studien erklärten den Zusammenhang von Migration und Straffälligkeit. Selbst in der vom BKA in Auftrag gegebenen Untersuchung von Franz Hamburger aus dem Jahr 1981 wurde die Abschiebung von nichtdeutschen Straftätern als „soziale Hinrichtung“ verurteilt und eine Abkehr von dem Wahn gefordert, Jugendkriminalität repressiv zu bekämpfen. Die Empfehlungen wurden von der Politik nicht aufgenommen. Stattdessen verlassen in jeder Großstadt immer noch jährlich hunderte Jugendliche die Schulen ohne Abschluss. Mehr als 70 Prozent der zu einer Jugendstrafe verurteilten jungen Männer kommen ohne Abschluss ins Gefängnis. Und noch mehr waren, als sie die Tat begingen, schon lange arbeitslos. Alle, die wegen Gewalttaten einsitzen, sind als Kinder selbst Opfer von maßloser Brutalität und Misshandlung gewesen. Jeder zweite Inhaftierte hat Suchtprobleme.
Jugendkriminalität wie der
SPIEGEL sie sieht
Quelle: Spiegeltitel
Dieser Artikel wurde am Montag auch in der SZ veröffentlicht. Zusammen mit Christiane Ensslin hat Klaus Jünschke das Buch "Pop Shop" über jugendliche Strafgefangene veröffentlicht. Es war schnell vergriffen, liegt aber jetzt in einer zweiten Auflage vor. Weil der Druck teurer wurde, musste der Verlag den Preis auf 20 Euro erhöhen. Wichtig für den Kölner Appell sind Bestellung direkt beim Verein über www.jugendliche-in-haft.de
Online-Flyer Nr. 129 vom 16.01.2008
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