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Kultur und Wissen
Interview mit dem Schriftsteller Dieter Lattmann
"Ich kann Politik und Literatur nicht trennen."
Von Wolfgang Bittner

Wolfgang Bittner: Sie waren Gründungsvorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller, acht Jahre Abgeordneter des deutschen Bundestages und haben zahlreiche Bücher geschrieben. Wie war das alles miteinander in Einklang zu bringen? Dieter Lattmann: Es waren immer zwei Anlagen, die sehr früh auftauchten und mein ganzes Leben bestimmt haben: Zum einen hatte ich wohl aus der Erziehung heraus, aber auch dem angeborenen Wesen nach eine ausgesprochene Neigung, mich um Menschen zu kümmern, denen es schlecht ging; später habe ich das einmal "soziale Herausforderung" genannt. Das andere war, dass ich immer das Leben, wie ich es erlebte, mit Worten ausdrücken wollte. Ich habe mit 13 Jahren zu schreiben begonnen und bis heute nicht damit aufgehört.

Wie passt das zusammen: diese soziale Ader, wenn man will: das Politische, und die Literatur?

Ich kann Politik und Literatur nicht trennen. Nicht bei den Autoren, die ich am meisten liebe, denn das sind alles Autoren, die auch über gesellschaftliche Konflikte - und das ist ja Politik im weitesten Sinne des Wortes - schreiben, sondern auch in meinem Leben. Ich kann nicht verstehen, wie man sich nur mit der subjektiven Thematik des Selbst, der eigenen Katastrophenträchtigkeit oder den nur individuellen Schicksalen beschäftigen kann.

Ist das nicht bei den einzelnen Menschen, je nach Veranlagung und Sozialisation, ganz unterschiedlich?

Ich habe da meine eigene Theorie, nach der jeder Mensch drei Biographien lebt. Einmal die ganz private: wie man auf die Welt kommt, in welcher Familie, wen man heiratet, Kinder, Liebe, Krankheit, Trauer, Freude, Tod. Das zweite ist der Beruf. Während man in dem ersten noch sehr man selber sein kann - hoffentlich, meistens -, greifen in dem zweiten schon die Mächte der Wirtschaft ein, im Berufsleben mit seinen Zwängen und Abhängigkeiten sowieso, und das auch für einen so genannten freien Schriftsteller. Aber in der dritten Biographie, der politischen, wird man in der Regel gelebt, und nur wenn man die Demokratie als Selbstverantwortung begreift, kann man sich aus dieser Klammer des Gelebtwerdens befreien. Literatur fasst alle drei Biographien zusammen und ist deswegen in meinen Augen zwangsläufig auch politisch.

Diese Entwicklung eines politischen Bewusstseins ist nicht gerade selbstverständlich. Wurde Ihnen das in die Wiege gelegt? Wie waren Ihre familiären Verhältnisse?

Ich wurde 1926 in einer Soldatenfamilie in Potsdam geboren. Mein Vater war schon 1914 Berufssoldat gewesen. Er war nach dem ersten Weltkrieg in der Wirtschaft untergekommen und wurde 1934 als Offizier reaktiviert. Aber es war nicht nur eine Soldatenfamilie, sondern es gab noch Kaufleute, Pastoren, Fabrikanten. Insbesondere die beiden Großväter, sehr farbige Figuren in meiner Kindheit und Jugend, ragten in mein Leben hinein. Der eine war Fabrikant, und er ist noch als königlicher Kaufmann mit dem Pferdeschlitten durch Russland gefahren. Der andere war in Thüringen Amtsrichter, wurde Reichstagsabgeordneter, und von ihm sagte man: "Er steht im Großen Brockhaus und er hat an Kaisers Tische von goldenen Tellern gegessen."

Dieter Lattmann
Dieter Lattmann
Foto: dju



Was hat Sie seinerzeit angeregt und beeinflusst?

Potsdam ist für mich nur ein Erinnerungshorizont. Allerdings habe ich dort den späteren Stalingrad-General und Mitbegründer des Offiziersbundes im Nationalkomitee Freies Deutschland Martin Lattmann besucht, den nächsten Bruder meines Vaters - er hatte fünf Brüder, alle Soldaten -, so dass Potsdam für mich schon ein Zielort war, und zwar einer in Uniform. Meine Familie war deutsch-national eingestellt. Meine Mutter hat noch 1932 in ihr Tagebuch geschrieben: "Hoffentlich siegt die nationale Front", und mein Vater war zwar kein Nazi, aber er ging davon aus, dass eine deutsche Regierung nie verbrecherisch sein kann. Die Lebensrichtschnur waren preußische Tugenden wie Disziplin, Anstand, Ehrlichkeit.

Gegen Ende des Krieges sind Sie ebenfalls noch Soldat geworden.

1943 hatte ich bereits bei der Fliegerabwehr und dem Reichsarbeitsdienst antreten müssen, und danach habe ich anderthalb Jahre als Soldat bei der Kriegsmarine gedient. Es war für mich eine Zeit des Umbruchs, denn so wie ich erzogen war, habe ich mich als 16-Jähriger freiwillig gemeldet. Als ich dann die Uniform der deutschen Wehrmacht trug, war mir klar: für diese Art von Kadavergehorsam bin ich nicht geboren. Ich kam von meinen ganzen Naturell her sofort in einen Gehorsamkeitskonflikt. Deswegen war das eine grausame Zeit, in der ich nie wusste, wie ich mich verhalten sollte. Zum wirklichen Widerstand war ich nicht mutig genug und zu jung, dazu wusste ich auch nicht genug. Aber ich bin angeeckt und eines Tages im Knast gelandet, habe also das Kriegsende hinter Schloss und Riegel erlebt.

Was war der Grund für diese Inhaftierung?

Anfang 1945 habe ich auf der Kriegsschule Mürwik bei Flensburg im Kameradenkreis gesagt: "Der Krieg ist verloren und jeder Tag, den man ihn noch weiterführt, kostet tausende von Menschenleben. Schlussmachen ist das einzig Verantwortliche." Daraufhin bin ich denunziert worden, und wäre ich vor einen NS-Führungsoffizier gekommen, hätte es um mein Leben gehen können. Aber ich hatte einen grundvernünftigen Kriegsschulkommandeur, der mich mit Stahlhelm antreten ließ und sagte: "Sie Vollidiot! Wir wissen doch alle, was los ist. Ich stecke Sie jetzt in den Bau, sonst reden Sie sich noch um Kopf und Kragen."

Wie ging es dann nach Kriegsende weiter?

1945 stand in meinem Wehrpass, dass ich wegen Ungehorsams degradiert worden war; das haben die Engländer honoriert. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft und vorübergehender Arbeit im Sommer 1945 in der Landwirtschaft, bin ich nach Kassel gegangen, wo ich bei dem Musik- und Buchverlag Bärenreiter eine Lehre gemacht habe. Ich wollte den Büchern so nah wie möglich sein. Es waren ja viele Schriftsteller - zum Beispiel Heinrich Böll - Buchhändler; man schrieb heimlich nebenher, gestand es zwar noch nicht ein, schickte aber schon Manuskripte herum. Als Buchhändler bin ich dann richtig auf der Walz mit dem Fahrrad durch die Republik gefahren und war einige Zeit beim Piper Verlag in München tätig. Das war in gewisser Weise meine Universität, und da wurde ich auch in eine Art literarischen Orden aufgenommen, das heißt ich gehörte nun zu den wichtigen Verlagen und hatte alle entsprechenden Querverbindungen. Ich lernte andere Verleger und Gleichaltrige kennen: Siegfried Unseld, den Nachfolger von Suhrkamp und viele andere. Da erst war ich richtig in der Zunft der Büchermacher drin.

Sie begannen in dieser Zeit schon zu veröffentlichen.

Ja, mein erstes Buch, eine Sammlung von Aufsätzen und Erzählungen, erschien 1957 bei Langen-Müller. Und 1960 traute ich mich mit meinem ersten Roman auf die freie Wildbahn. Ich wollte - obwohl früh verheiratet und mit zwei Kindern - so bald wie möglich vom Schreiben leben.

Sie sind dann Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller geworden. Wie kam es dazu?

Damals gab es unter der Kulturhoheit der einzelnen Bundesländer elf Schriftstellerverbände in Westdeutschland und eine großmächtige Bundesvereinigung dieser Verbände. Deren Vorstand suchte einen neuen Präsidenten, nachdem der alte gestorben war. Natürlich wurden alle namhaften Leute gefragt, aber keiner wollte es machen, und da kamen sie zu mir. Ich wurde also 1968 plötzlich Präsident dieser Bundesvereinigung. Das klang ja großartig, aber als ich näher hinschaute, traf ich die versammelte Ohnmacht in elf schwachen Regionalverbänden an. Nun meinten einige Freunde, wir müssten einen einzigen Verband haben, und tatsächlich ist es uns gelungen, 1969 den Verband deutscher Schriftsteller zu gründen. Dazu hat uns Heinrich Böll wunderbarerweise im Kölner Gürzenich sein Stichwort "Ende der Bescheidenheit" geliefert und Günter Grass hat geraten, uns der Gewerkschaft der Drucker und Setzer anzuschließen. Ich war Gründungsvorsitzender und man kann vielleicht sagen, dass es ohne mich diesen Gesamtverband, der heute der Gewerkschaft ver.di angehört, nicht so schnell gegeben hätte.

Welche Bedeutung hatte der Schriftstellerverband damals und was war seine Aufgabe?

Die Schubkraft des Verbandes, der damals eine große Popularität und Medienwirksamkeit hatte, war enorm. Wenn Böll, Grass, Walser und Lenz gemeinsam eine Pressekonferenz machten, kamen mehr Journalisten als zu manchem Bundesminister. Das heißt wir hatten eine Wirkung, und die Freundschaft Willy Brandts zu den Schriftstellern war Allgemeingut. Manche von uns haben ja - wie ich auch - als Redenschreiber für Willy Brandt gearbeitet. Es gab eine ungeheure Nähe zwischen Geist und Macht. In gewisser Weise war das eine Sternschnuppenzeit. Das gab es in dieser Weise zwischen Schriftstellern und Politikern noch nie. Das hat sehr stark geholfen, so dass wichtige Gesetze auf den Weg gebracht werden konnten: Tarifrecht für freie Mitarbeiter von Massenmedien, ein Schulbuchhonorar, eine Bibliotheksabgabe. Denn die Rechte von Schriftstellern waren sozialisiert in einem Land, das ja nun alles andere als sozialistisch war.

Damals ist also in berufspolitischer Hinsicht viel für die Schriftsteller veranlasst und durchgesetzt worden ...

Das begann 1969 und währte bis 1982. Wir hatten im Vorstand immer wieder überlegt, dass die vielen tausend Autoren, also die Freiberufler, in der Bundesrepublik eine allgemeine Anschlussmöglichkeit an die Kranken- und Rentenversicherung brauchten. Das wurde zum Hauptziel des neuen Schriftstellerverbandes, denn unsere Berufsgruppe war als eine der wenigen draußen geblieben. Auf unserem Stuttgarter Kongress 1970, der unter dem Motto "Einigkeit der Einzelgänger" stand, und wo Willy Brandt, Heinrich Böll, Günter Grass und Martin Walser sprachen, war die Künstlersozialversicherung unsere Hauptforderung. Und nun hieß es im Vorstand: einer von uns muss das vorantreiben. Ich bin daher ganz gezielt in den SPD-Ortsverein Alte Heide im Münchener Norden gegangen, um so schnell wie möglich für den Bundestag zu kandidieren, was erstaunlicherweise geklappt hat. Ich habe eine Mini-Ochsentour gemacht und 1972 im Bonner Abgeordnetenhaus den Gesetzentwurf auf meiner Schreibmaschine produziert und sieben Jahre lang durch den Bundestag getragen. Die Gewerkschaften haben geholfen, viele Abgeordnete aus den Fraktionen von SPD und FDP - damals die sozialliberale Koalition -, vereinzelt auch der CDU, und zum Ende meiner Zeit im Bundestag wurde das Gesetz endlich beschlossen.

Das war ja in den siebziger Jahren politisch eine sehr bewegte Zeit ...

Ja, es gab eine gewisse Hysterie aufgrund der verbrecherischen Taten einer sehr kleinen Gruppe von Intelligenzterroristen, die aus der außerparlamentarischen Opposition sozusagen mit einem Salto mortale abgekippt waren und Gallionsfiguren, Leitfiguren unserer Republik ums Leben brachten. Dass daraufhin neue Gesetze gefordert wurden, war nicht unbedingt logisch, denn die vorhandenen Gesetze hätten ausgereicht. Aber immer wenn diese Unruhe auftritt, verlangen Politiker, vor allem die konservativen, schärfere Gesetze.

Ich erinnere mich, dass Sie dagegen öffentlich Stellung genommen haben.

Ich habe zur Begründung meiner Haltung im Bundestag gesagt: "Eine Demokratie stirbt nicht am Mangel an Gesetzen, sie stirbt am Mangel an Demokraten." Und ich habe zweimal - jeweils mit drei anderen - gegen diese so genannte Antiterrorismus-Gesetzgebung gestimmt. Außerdem habe ich natürlich die Gelegenheit genutzt, in den beiden Büchern, die ich als Abgeordneter schrieb, genau diese Konflikte darzustellen, und zwar in "Die Einsamkeit des Politikers" und "Die lieblose Republik". Und über die Friedensbewegung habe ich einen Roman geschrieben: "Die verwerfliche Alte". Das zu tun als jemand, der öffentlich das Wort führt, als Politiker und als Autor, war für mich selbstverständlich; wie überhaupt für viele meiner Generation schreiben und Gesellschaftskritik - erzählen und Politik - eine Einheit war.

Das hat sich ganz offensichtlich geändert.

Heute ist es weitgehend so, als sei Literatur nur noch ein Privatissimum und als seien nur noch die Katastrophen des Individuums ein Thema. Ich hoffe sehr, dass sich bald eine neue Generation junger Autoren findet, die wieder die gesellschaftlichen Grundprobleme, die ja die wahre Problematik unserer Demokratie und unseres Gesellschaftssystems ausmachen, erzählerisch aufgreift.

Großen Dank haben Sie allerdings mit Ihrem gesellschaftspolitischen Ansatz und Ihrer Gesellschaftskritik nicht geerntet.

Das ist richtig. Plötzlich kam dieser Vorwurf: Landesverrat. Als der Oberstaatsanwalt aus Karlsruhe 1995 anrief, wusste ich noch nicht einmal, um welches Land es sich handelt. Ich könnte Geheimnisse verraten haben - so hieß es -, wohl nicht nur an die DDR, sondern überhaupt an Länder im Osten. Meine Frage war: "Was soll ich denn gewusst haben?" Ich war Kulturpolitiker und bin Schriftsteller. Nicht einmal in meinen acht Jahren als Bundestagsabgeordneter habe ich mit militärischen oder sonstigen Staatsgeheimnissen in dem Sinn zu tun gehabt, wie sie Landesverrat begründen könnten. Ich habe nicht nur um meine Reputation gekämpft, sondern um mein Ich.

Das ist seinerzeit durch die Medien gegangen. Was ist aus dem Vorwurf geworden?

Ich war erlöst, als mir der Generalbundesanwalt nach einem halben Jahr brieflich bestätigte, dass der Vorwurf nicht etwa aus Mangel an Beweisen nicht zum Prozess geführt hat, sondern dass er nicht begründet war. Ein völliger Freispruch! Ich habe dann einen einzigen Satz mit dpa herumgeschickt, aber zum Beispiel brachte der "Spiegel", der mich auf dreieinhalb Seiten im politischen Teil unter dem Stichwort "Stasi" angegriffen hatte, nicht einmal diesen Widerruf.

Wie kam ein derartig schwerwiegender Verdacht überhaupt zustande? Lag das tatsächlich an den Kontakten in die DDR, die nach meiner Erinnerung auch Bernd Engelmann zum Vorwurf gemacht worden sind?

Ja, so war es. Aber aus meiner Sicht taten wir - Engelmann und ich wie viele andere - etwas ganz Selbstverständliches, was in unserer Verfassung steht und was eigentlich die Pflicht aller Westdeutschen gewesen wäre und - soweit das möglich war - ebenfalls die Pflicht aller Ostdeutschen: nämlich uns die deutsche Teilung nicht ständig weiter aufnötigen zu lassen. Ich war 23 Jahre alt, als Deutschland geteilt wurde, aber für mich war Deutschland nie wirklich ein geteiltes Land. Wir hatten auch Verwandte und Freunde drüben und sind so oft wir konnten in die DDR gefahren. Wir haben uns gesagt: Solange die deutsche Einheit nicht kommt, wollen wir sie leben so gut wir können.

Gab es damals nicht bereits offizielle Kontakte zur DDR?

Das ist ein wichtiger Aspekt, der leider in der Öffentlichkeit unseres Landes nie richtig wahrgenommen wurde: Die Bundesrepublik hatte während der Regierung Brandt mit Egon Bahr und fortgesetzt unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl ein Kulturabkommen mit der DDR in die Wege geleitet. Darin wurden die Schriftstellerverbände und Kulturorganisationen auf beiden Seiten beauftragt, so intensiv wie möglich zusammenzuarbeiten, ihre Werke auszutauschen, Lizenzausgaben zu ermöglichen. Wenn wir über die Grenze fuhren, handelten wir im Auftrag der westdeutschen Regierung entsprechend dem Kulturabkommen. Als dann die Wende kam, wurde ein großer Teil westdeutscher Literaturleute plötzlich verdächtigt, sie hätten mit der DDR in unerlaubter Weise paktiert und manchen wurde sogar das Reizwort "Stasi" angehängt. Dabei war die Zahl derer, die tatsächlich mit der Stasi zu tun hatten, verschwindend gering - ich persönlich kenne überhaupt niemanden, der in schuldhaftem Sinn ein Grenzgänger war.

Wie erklären Sie sich heute diese Verdächtigungen und Verleumdungen?

Das hing mit dem Systemwechsel zusammen. Immerhin kamen 17 Millionen Deutsche zur Bundesrepublik. Viele - wie auch Engelmann und ich - dachten damals: Jetzt tun wir das, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes gewollt haben. Beide Seiten treffen sich, eine neue Verfassung wird entworfen und vom deutschen Volk beschlossen, von beiden Seiten kommt das Beste zusammen, was in Deutschland vorhanden ist. Der westdeutsche Staat aber hat es so gesehen, dass lediglich 17 Millionen Ostdeutsche nunmehr Westdeutsche wurden - man sprach von den "neuen Ländern". Für mich waren es nie neue, sondern alte Länder in einem anderen Teil unseres Landes, das der Bundespräsident Heinemann einmal "ein schwieriges Vaterland" genannt hat.

Das erklärt noch nicht die Anfeindungen gegen Persönlichkeiten wie Sie und Engelmann.

Dieser ganze Konflikt hatte etwas zu tun mit einem Elitewechsel. Bei allen großen Machtwechseln zwischen Systemen und Politiken kann man in der Geschichte verfolgen, dass Eliten der anderen Seite beschuldigt wurden, und zwar weit über jedes reale Maß hinaus, um eine absolute Unterwerfung unter das siegreiche System zu erreichen. Früher kostete das viele der Eliten das Leben, in der neuen Zeit geht das anders, aber es gab eine Art rückwirkendes Gebot, Kontakte zur DDR als etwas Schuldhaftes zu akzeptieren.

Wie sind Sie damit umgegangen, wie gehen Sie damit um?

Ich habe mich dem nie unterworfen, zumal ich denke, dass man einige kritische Stimmen durch solche Vorwürfe abschalten wollte. In diesem Systemwechsel und mit der Schwierigkeit, nun mit 17 Millionen aus der DDR ein gemeinsames Deutschland zu schaffen, gab es natürlich enorme Spannungen. Seien wir doch ehrlich, keiner wusste, wie das genau gehen sollte, auch nicht von den westdeutschen Politiker einschließlich Herrn Kohl. Da war man nicht nur übervorsichtig, sondern auch aufgeregt, und dabei sind einige wie Engelmann und ich in ein Rampenlicht gekommen, was uns wirklich falsch beleuchtet hat. Aber dass das eine falsche Beleuchtung war, ist nie so öffentlich geworden wie der Vorwurf damals.

Wolfgang Bittner
Wolfgang Bittner
Foto: privat



(Eine Sammlung mit Interviews von Persönlichkeiten der Zeitgeschichte erscheint demnächst in Zusammenarbeit mit dem WDR unter dem Titel
'Ich mische mich ein')




Online-Flyer Nr. 26  vom 11.01.2006

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