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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Inland
Jutta Ditfurths Ulrike Meinhof-Biographie
Lebensbild als Gesellschaftsanalyse
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

„Die Wurzeln der außerparlamentarischen Opposition (APO), die entgegen allen Mythen keine Bewegung allein von Studenten war, liegen in den 1950er und 1960er Jahren: Die Unfähigkeit im Umgang mit der Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit, autoritäre Gesellschaftsstrukturen, staatliche Gewalt, Wiederbewaffnung, KPD-Verbot, NATO-Mitgliedschaft , Atomwaffen, SDS-Rausschmiß, Godesberger Programm, Vietnamkrieg, Notstandsgesetze – all das waren Gründe, weshalb viele das Gefühl hatten, durch keine der Bundestagsparteien angemessen vertreten zu werden.“ – So Jutta Ditfurth in dem Buch, mit dessen Rezension wir unsere in Nummer 122 gestartete Serie über die APO fortsetzen.- Die Redaktion.
"Ulrike Meinhof. Die Biographie" - schon der Buchtitel proklamiert verbindliche, referentielle Authentizität. "Die Wahrheit über Ulrike Meinhof" zutage zu bringen - ein solcher Anspruch könnte freilich eher Skepsis wachrufen. Generell ohnehin gegenüber Wahrheitsgestus überhaupt, aber bei Büchern über Ulrike Meinhof auch ganz speziell.


Ulrike Meinhof 1964 – „konkret“-Redakteurin
Quelle: Wikipedia

Hatte doch Meinhofs Ex-Ehemann Klaus-Rainer Röhl seit Ulrikes Abtauchen in den Untergrund und erst recht ihrer Verhaftung 1972 seine ehemalige Frau immer wieder zwecks eigener Selbstinszenierung und natürlich Geldeinnahme jahrelang fleißig vermarktet, mit "Dokumenten einer Rebellion", mit seinen Schlüssel- und Schlüsselloch-Romanen "Fünf Finger sind keine Faust" und "Die Genossin" - und seine Ausschlachtungsprodukte mit der Werbeverheißung garniert, die Wahrheit oder "Wahres über Ulrike" exklusiv anzubieten. Doch bei Ditfurths Buch stimmt einmal ausnahmsweise sogar der Klappentext, wenn er behauptet: "Jutta Ditfurth gelingt es, die üblichen Mythen über Ulrike Meinhof zu zerbrechen und die Frage zu beantworten: Wer war Ulrike Meinhof wirklich?"

Wirklich authentische Biographie

In der Tat: Jutta Ditfurths Buch kann man jetzt schon, kurz nach Erscheinen, als die wirklich authentische Biographie einer Frau begrüßen, die den meisten Einwohnern dieser Republik nur als schemenhaftes, entpersönlichtes Fahndungsfoto, als Zerrbild aus haßerfüllt schreienden Boulevardfrontseiten, als sprichwörtlicher Inbegriff des "Terrors", noch gewärtig sein dürfte. Deren lebenslange Opposition zu diesem Staat und seiner Verfaßtheit verkürzt sich reflexhaft auch bei den meisten Kommentatoren auf ein diffuses Raster von Terrorismus.

Ditfurths Korrektur des verzerrten Bildes von Ulrike Meinhof war und ist, und zwar jenseits aller "Ideologie", allein als Akt historischer Bestandsaufnahme längst überfällig. Wie überfällig, machte kurz vor Erscheinen des Ditfurth-Buchs ausgerechnet eine Albernheit des Unterhaltungs-Fernsehens eher unabsichtlich klar. Denn ein "Spaß" in der Harald-Schmidt-Show ließ erkennen, auf welcher Ebene von Wertung und Gleichsetzung maßgebliche Teile der bundesdeutschen Gesellschaft die RAF und die Person, oder besser, das Symbol Ulrike

Meinhof abgespeichert haben. ARD-Chefklamaukier Harald Schmidt veranstaltete ein "Ratespiel" unter dem Titel "RAF oder Nazi"; seine Studiogäste mußten bei eingeblendeten Fotos rufen - eben: "RAF" oder "Nazi". So erschien ein einstiges Fahndungsfoto Ulrike Meinhofs, und direkt nach diesem Meinhof-Bild das Foto Joseph Gobbels' als Vorlagen für das Ratespiel nach dem Motto: Rot gleich braun. (Harald-Schmidt-Show, 25. 4. 2007)


Pflegemutter Renate Riemeck – 1961 als DFU-Vorsitzende
Quelle: SPIEGEL-Titel 1961

Die Macht der Klischees brechen

Jutta Ditfurth hingegen will die Macht der Klischees, der fremdproduzierten, wirklichkeitsverstellenden (Feind-)Bilder brechen; nicht durch Gegen-Bilder, sondern durch reportagehaften, analytischen, auch streitbar engagierten und erzählerischen Text, der die LeserIn über mehr als 400 großformatige Seiten mitnimmt, nicht mehr losläßt. Nur auf dem Titelumschlag lächelt dem Betrachter aus dem Halbdunkel eines Schwarzweißbildes eine junge Frau entgegen, auf dem Rückumschlag sehen wir ein brav bezopftes Mädchen von etwa 13 Jahren - das freilich, geradezu unerhört, eine Hose trägt.

Behutsam und präzise, deutlich sympathisierend und doch auf kritischer Distanz, holt Autorin Ditfurth die Person Ulrike Meinhof aus einem wahren Müllberg von Mythen, Mißdeutungen, Verrufungen heraus. Schicht für Schicht legt sie frei: Ulrikes schwierige Kindheit in einer "sehr deutschen Familie, in der evangelische Christen mit dem NS-Faschismus paktier(t)en", mit Krieg und Bombennächten, und später bei ihrer autoritären und selbstbezogenen Pflegemutter, der ansonsten als Friedensaktivistin und DFU-Mitgründerin bekannten Renate Riemeck, die 1941 allerdings einer ganz anderen Partei beigetreten war - der NSDAP; ihre Aktivitäten im Vor-APO-SDS, in der Ostermarschbewegung der späten 50er Jahre und der KPD; ihre Laufbahn als Journalistin bei "konkret" und als profilierte Fernsehautorin der ARD, bis hin zu ihrem Weg in die RAF.


Auch Stadtverordnete in Frankfurt/Main – Autorin Jutta Ditfurth
Quelle: Ökologische Linke

Eigenwillige Biographin

Die eigenwillige Biographin, die einer politischen Karriere bei den Grünen absagte, als diese sich endgültig für Kapital und Esoterik, "Nation" und Militär entschieden, muß sich ihrer von Jugend an oppositionellen Protagonistin recht nahe fühlen. Diese kehrte einem schon bourgeois etablierten Schickimicki-Leben an der Seite von konkret-Herausgeber und Ehemann Klaus Rainer Röhl den Rücken, als ihr deutlich wurde, daß jenes pseudolinke (Hamburger) Salonmilieu, in dem Röhl den Gesellschaftslöwen gab, auf Selbstdarstellung und Wohlleben keinesfalls, auf politische Veränderung aber ohne weiteres verzichten konnte. Sie fühlte sich anderen "Milieus" verbunden - den, zeitweise wenigstens rebellischen, Studenten, der APO, aber auch den recht- und chancenlos Ausgestoßenen dieser Gesellschaft - Obdachlosen, Strafgefangenen, Fürsorgezöglingen. Ihr legendärer Film "Bambule", der die Situation trebegehender Mädchen und Heiminsassinnen beleuchtet, stand denn auch direkt auf dem Bruchpunkt mit der bundesdeutschen Gesellschaft. Er wurde von der ARD weggeschlossen und erst ein Vierteljahrhundert später als historisches Dokument gesendet. 

Konsequent, eben auch im Irrtum, ließ Ulrike Meinhof, die Autorin des wegweisenden Fernsehfilms "Bambule", schließlich auch die Medienwelt und damit die Illusion hinter sich, durch Aufklärung und moralischen Appell die Verhältnisse beeinflussen zu können, und fand ihren letzten Weg in den aussichtslosen, zerstörerischen und selbstzerstörerischen "bewaffneten Kampf" der von ihr mitbegründeten "Roten Armee Fraktion".

Notwendig einseitiger Blick

In Meinhofs persönlichem Entwicklungsporträt hebt Jutta Ditfurth zugleich ein zeitgeschichtliches, politisches Entwicklungsdiagramm der bundesdeutschen Gesellschaft auf, wie es so präzise, unnachsichtig und eben vom Blickwinkel einer antifaschistischen, antikapitalistischen Oppositionellen aus kaum je derart kompakt geliefert worden ist. Dieser notwendig einseitige Blick enthüllt nicht zuletzt die nie überwundene Vergangenheit, genauer den in personeller Kontinuität und ideologischer Anknüpfung weiterschwärenden Faschismus in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik, die sich einen NS-Propagandafunktionär als Kanzler und einen KZ-Baumeister als Präsidenten leistete. Die faschistoide Latenz zeigte sich, nur beispielsweise, im Verfolgungseifer oft selbst noch nazibelasteter Staatsanwälte und Richter gegen alles Linke, in Wellen von Strafverfahren gegen Vietnam- und Anti-Shah-Demonstranten einerseits, im Freispruch für den Totschießer Benno Ohnesorgs, den Polizisten Kurras, ebenso wie gleichzeitig für den Volksgerichtshof-Richter Rehse andererseits.

Lehrstück für StudentInnen der Jurisprudenz


Fahndungsplakat 1970
So könnte Ditfurths Lehrstück, etwa StudentInnen der Jurisprudenz in die Hand gedrückt, anstelle formalistischer Rechtsphraseologie verdeutlichen, wie rapide die Fassade des "Rechtsstaates" hierzulande in sich zusammenfällt und die schiere Repression zutage tritt, sobald in irgendeiner Form Widerstand gegen Kapitalverhältnisse und Staatsgewalt aufbricht oder auch nur aufzubrechen scheint. Das galt gleichermaßen für die völlig recht- und verfassungsmäßigen Proteste gegen den Berlin-Besuch des Foltershahs am 2. Juni 1967 wie Jahre später erst recht natürlich für die Desparado-Aktivitäten der „Rote Armee Fraktion“. An denen, so aussichtslos sie von allem Anfang an auch waren, sich im übrigen, wie ein Vorgeplänkel auf die heute unverhüllt verhandelte Normalisierung des permanenten Ausnahmezustandes nach dem 11. September, eines ganz deutlich zeigte: Für den "Staatsfeind" gelten im Zweifelsfalle keine Grundrechte mehr. Beschuldigten- und Verteidigungsrechte im Strafprozeß schon gleich gar nicht. Der Feind, von Staatsgewalt, nahezu kriegsmäßig gleichgeschalteter Presse und gesundem Volksempfinden zur Verkörperung des Bösen dämonisiert und wörtlich zum Abschuß freigegeben, kann auf elementare Rechte nicht mehr setzen. Das hat sich von Stammheim bis Guantanamo nicht geändert.
 
Beschreibung des alltäglichen Ausnahmezustandes

So drängt denn Ditfurths präzise Beschreibung des alltäglichen Ausnahmezustandes den Gedanken an aktuelle Parallelen geradezu auf - die umstandslose Entsorgung von Grundrechten und Prinzipien eines "rechtsstaatlichen Verfahrens" zugunsten kaum verhüllter Prozeßwillkür in Stammheim und anderswo, die "Experimente" mit postmodernen Folterformen wie der sensorischen Deprivation in der Isolationshaft, so auch während Ulrike Meinhofs U-Haftzeit in Köln-Ossendorf.. Das alles mit propagandistisch, nicht nur aus dem Hause Springer, aufgepeitschter Zustimmung eines mehrheitlich wieder ausgesprochen gesunden Volksempfindens.


Festnahme von Ulrike Meinhof im Juni 1972
Quelle: NRhZ-Archiv

Freilich billigten noch 1971 18 Prozent der Befragten der RAF diskutable politische Motive zu, ein Viertel der unter 30jährigen bekundete gar "eine gewisse Sympathie" für die Gruppe, die, so das Bundeskriminalamt zutreffend intern, "einen radikalen Umsturz der gegenwärtigen 
Gesellschaftsordnung" anstrebe. Doch die Toten und Verletzten bei der "Maioffensive" 1972 der RAF gegen Einrichtungen der US-Army und das Springer-Hochhaus brachten spätestens die Wende gegen die RAF. Das BKA hatte es nun leichter, im Auftrag der Regierung Brandt/Scheel mit fast einheitlich durchgesetzten Presse-Sprachregelungen wie "Bande" oder einfach "anarchistische Gewalttäter" ein Wahrnehmungsschema von Schrecken und Verbrechen zu erzeugen und jede Debatte über "politische Motive" zum Erliegen zu bringen. Mit jedem weiteren RAF-Anschlag, bis hin zur Schleyer-Entführung 1977, wuchs die öffentliche Kriegsstimmung und die mehrheitliche Bereitschaft, selbst diktaturähnliche Maßnahmen hinzunehmen - auch wenn man bei einer Fahrzeugkontrolle schon mal selbst in die Mündung einer MP blicken durfte.

Folterdebatten begannen im „Deutschen Herbst“

Die fatalen Diktaturplanungen und Folterdebatten, die seit dem 11. September den Durchmarsch des grundrechtsfreien "Maßnahmenstaates" ebnen und begleiten, begannen damals, im "Deutschen Herbst". Und ebenso die massivste Polizei- und Repressionsaufrüstung aller Zeiten, die heute einem einstweiligen Gipfelpunkt zustrebt. Mit der Zusammenführung von Polizei, Geheimdiensten und Militär - letztlich praktisch erprobt beim G8-Gipfel in Heiligendamm - zu einem permanent bereitstehenden Volksbekämpfungspotential im unablässigen Bürgerkrieg von oben haben sich die Visionen der Terrorbekämpfer von damals im Zeichen des aktuellen "Weltkrieges gegen den Terror" jedenfalls nahezu erfüllt. Verteidiger- und Beschuldigtenrechte hingegen sind im Zeichen der eines Juntaregimes würdigen Beliebigkeitsjustiz von Stammheim und Co. auf einen jederzeit weiter zu minimalisierenden Tiefststand heruntergebrochen. Stattdessen können, nur gelegentlich von verfassungsgerichtlichen Haltesignalen gehemmt, auf höchster politischer Ebene bereits im Deutschen Herbst laut diskutierte "Reformprojekte" wie präventive Tötungen irgendwie Terrorverdächtiger oder Schießbefehl gegen verdächtige Flugzeuge offen vorangetrieben werden. 

Tod von Ulrike Meinhof bis heute ungeklärt

Der Tod Ulrike Meinhofs 1976 in der Stammheimer Haft, so ungeklärt er dank staatlicher Spurenverwischung bis heute letztlich ist, hätte auf der Grundlage heutiger Debatten über präventive Tötung potentieller Terroristen, die von Ex-RAF-Anwalt Schily erstmals laut angesprochen wurden und von seinem Nachfolger Schäuble offensiv vorangetrieben werden, womöglich ganz offen "bewirkt" werden können. "Freies Geleit für Ulrike Meinhof", 1972 von Heinrich Böll gefordert - dessen Haus in der Eifel daraufhin von einem Polizeikommando nach "Terroristen" durchsucht wurde - gäbe es heute ebenso wenig wie seinerzeit - es sei denn Richtung Guantanamo. Daß wir soweit gekommen sind, ist eben auch ein Erbe der RAF, eine der Langzeitfolgen des Deutschen Herbstes. Wobei allerdings weder der Rezensent noch mutmaßlich die Autorin daran zweifeln, daß die Ingenieure kriegsfähiger "Sicherheitsarchitektur" jenseits von Grundrechts- und Humanitätsduselei Vorwände auch ohne die RAF gefunden hätten und Vorwände heute auch ohne den "islamischen Terrorismus" finden würden. (PK)  

Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biographie
Ullstein, Berlin 2007, 480 S., 22,90 Euro.
ISBN 978-3-550-08728-8











Online-Flyer Nr. 125  vom 12.12.2007

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