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Inland
3. Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft
Wann besucht Wowereit die Gefangenen in Tegel?
Von Klaus Jünschke

Vom 7. bis 9. November 2007 fand in Berlin die 3. Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft statt. Organisiert wurde die Tagung vom Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD), der Deutsche AIDS-Hilfe e.V. und dem  Institut für Drogenforschung der Universität Bremen. 180 PraktikerInnen aus Justizvollzugsanstalten und externen Gesundheitsdiensten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz diskutieren drei Tage lang über Strategien der Gesundheitsförderung für Gefangene und Bedienstete.
Hauptthema war, wie die international geforderte Gleichheit der Gesundheitsversorgung innerhalb und außerhalb der Haftanstalten hergestellt werden kann, weil sie in vielen Bereichen nicht umgesetzt ist. Wichtige Behandlungen, z. B. die Methadonsubstitution und Präventionsangebote zur Vermeidung von HIV- und Hepatitis-Infektionen werden den Gefangenen in Deutschland und in den meisten anderen Ländern der Europäischen Union vorenthalten. Von den rund 20.000 Süchtigen in den bundesdeutschen Gefängnissen werden gerade mal 500 substituiert. 


Ausstellung in der integrierten Gesamtschule Köln-Rodenkirchen
Quelle: www.jugendliche-in-haft.de

Spanien als Modell
 
Beispielhafte Ausnahmen sind Österreich, die Schweiz und Spanien. In der Schweiz wird in zwei Gefängnissen sogar Heroin an Gefangene abgegeben, die mit Methadon nicht zu erreichen wären. Die Prävention und die Gesundheitsförderung in Spaniens Gefängnissen wurde als modellhaft für Europa vorgestellt. Dort wird jeder Gefangene, der substituiert werden möchte, auch substituiert. Diese Entwicklung wird damit erklärt, dass im spanischen Parlament mehrere ehemalige politische Gefangene aus der Zeit der Franco-Diktatur vertreten waren, als diese Reform verabschiedet wurde.
 
Auf der Konferenz in Berlin waren keine Gefangenen anwesend, aber die Veranstalter hatten Exkursionen in das Vollzugskrankenhaus Berlin-Plötzensee, das Frauengefängnis Berlin-Lichtenberg und in das Männergefängnis Berlin-Tegel organisiert. In Tegel konnten 20 KonferenzteilnehmerInnen mit Gefangenen sprechen, die in der Redaktion der Zeitschrift „Der Lichtblick“  arbeiten oder als Gefangenensprecher in die Gefangeninteressenvertretung gewählt wurden.


Flur zu den Haftzellen im Gefängnis Tegel
Quelle: www.berlin.de

Warum Gefängnisse krank machen
 
Die Gefangenen hatten sich gut vorbereitet und konnten eindrücklich vermitteln, warum Gefängnisse krank machen. Da sie immer wieder auch das lobend hervorhoben, was aus ihrer Sicht zufriedenstellend ist – so die als sehr gut bezeichnete zahnärztliche Versorgung oder den seit einiger Zeit üblichen Einsatz von Hubschraubern, um Notfallpatienten schnell in Kliniken bringen zu können – konnte das, was sie kritisierten umso ernster genommen werden. In Tegel, das Platz für 1.500 Gefangene hat, sind über 1.750 Menschen inhaftiert. Die Gefangenen kommentierten das bitter: Wenn ein Parkhaus belegt ist, kann ein neues Auto erst wieder einfahren, wenn ein Wagen das Parkhaus verlässt. Mit Gefangenen wird anders verfahren: Statt einen Aufnahmestopp anzuordnen, wird zugelassen, dass Zellen doppelt belegt und Räume, die für Freizeitangebote zur Verfügung stehen sollten, zu Zellen umgebaut werden. Nahezu unglaublich ist, dass in Tegel auch noch die Zellen belegt werden, die in den am Ende des 19. Jahrhunderts gebauten Häusern 1 und 2 sind – mit einer Größe von 5,6 qm und 6 qm.   
 
Appell der Gefangenen
 
Mehr als die Liste der Beschwerden über die fehlende freie Arztwahl, über das schlechte Essen, den Gestank in alten verwohnten Zellen und vieles andere mehr,  berührte die BesucherInnen der Appell der Gefangenen, sie als Menschen wahrzunehmen und nicht als Monster: „Sie können hier durch das ganze Gefängnis spazieren und werden erleben, dass Sie keine Angst zu haben brauchen und niemand Ihnen etwas tut.“ 


Das Innere einer Zelle
Quelle: www.jugendliche-in-haft.de
Wer sich vergegenwärtigt, dass Gerhard Schröder 1998 seinen Wahlkampf damit führte, dass er für die umgehende Abschiebung der straffällig gewordenen Ausländer plädierte und jetzt in der Schweiz mit demselben Populismus auch wieder Wahlen gewonnen werden konnten, muss nicht nach den Ursachen der pogromartigen Angriffe gegen Roma und Rumänen in Italien fragen. Und wenn es das Ergebnis von populistischen law-and-order-Kampagnen ist, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung bei straffällig gewordenen Ausländern nur noch wünscht, sie möglichst schnell loszuwerden, dann ist auch klar, dass in den verbleibenden Menschen mit deutschem Pass nichts anderes gesehen wird als Unpersonen, mit denen ähnlich verfahren werden sollte: weg damit. Nicht die Gesundheitsförderung in Haft steht aus dieser Perspektive auf der Tagesordnung, sondern das Unschädlichmachen dieser „Gefahrenquelle“.
 
Medien reagierten wie Wowereit
 
Den Gefangeneninteressenvertretern in Tegel ist sehr wohl bewusst, dass sie aus dieser Falle nicht alleine herausfinden. Sie haben daher Bürgermeister Wowereit zu einem Gespräch nach Tegel eingeladen – in der richtigen Annahme, dass eine öffentlichkeitswirksame Begegnung dazu beitragen könnte, dass sie wieder mehr als Mitbürger und weniger als Monster wahrgenommen werden könnten. Herr Wowereit hat auf die Einladung mit einer Absage reagiert.
 
Die Medien haben sich gegenüber der Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft ähnlich verhalten – keine einzige Journalistin, kein einziger Journalist, niemand vom Fernsehen, niemand vom Rundfunk, niemand von der Presse war da. 


Ausstellung noch bis 3. Dezember in Köln, danach in Düsseldorf
Quelle: www.jugendliche-in-haft.de

 
Anheizen von Kriminalitätsfurcht
 
Ein Dramatisierungsverbund aus Polizei, Politik und Medien begleitet den Abbau des Wohlfahrtsstaats und seine Transformation in einen Überwachungs- und Kontrollstaat mit dem Anheizen von Kriminalitätsfurcht und der Propagierung von Härte gegen Straftäter. Ignoriert wird dabei, dass law-and-order ein Kernelement der Ideologie der Rechtsextremisten ist.
 
Wenn es den Regierenden mit dem von ihnen propagierten Kampf gegen den Rechtsextremismus ernst ist, ist es ihre Pflicht, die Gefangenen – nicht nur in Tegel – zu besuchen und auch dafür zu sorgen, dass die im Strafvollzugsgesetz genannten Grundsätze Realität werden: Der Angleichungsgrundsatz besagt, dass das Leben hinter den Mauern dem Leben in Freiheit so weit wie möglich angeglichen werden soll. Der Gegenwirkungsgrundsatz betont die Notwendigkeit, den schädlichen Wirkungen der Haft zu begegnen, und im  Eingliederungsgrundsatz heißt es, dass die Haft so zu gestalten ist, dass sie auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet. (PK)
 
Mehr Informationen:
 
Bremer Institut für Drogenforschung http://www.bisdro.uni-bremen.de/
Deutsche Aidshilfe e.V.: http://www.aidshilfe.de/
Wissenschaftliches Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD) e.V.: http://www.wiad.de/
 
Gefangenenzeitschrift „Der Lichtblick“: http://www.lichtblick-foerderverein.de/
Gefängnis Berlin-Tegel http://www.berlin.de/jva-tegel/
 
Projekt Haftvermeidung des Kölner Appell gegen Rassismus: www.jugendliche-in-haft.de

Online-Flyer Nr. 121  vom 14.11.2007

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