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Arbeit und Soziales
Dokumentation einer Rede auf dem Kongress der GEW-Linken im Juni 2007
Französisch lernen
Von Willi Hajek

Überall hören und lesen wir: „Wir müssen französisch lernen.“ Im rebellischen Bewusstsein der alltäglichen Auseinandersetzung am Arbeitsplatz, im Betrieb, aber auch bei den Demonstrationen gegen die Hartz-Gesetze verbindet sich mit diesem Satz oft die Aufforderung: „Wir müssen alle zusammen auf die Strasse gehen und Aktionsformen und soziale Fantasie entwickeln, die auch wirklich Wirkung zeigen und die kapitalistische Alltags-Produktionsmaschine blockieren, so wie es in Frankreich passiert."

Nicht von ungefähr trugen die Kollegen von Daimler 1996 bei den Aktionen gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall selbstgemalte Transparente mit der Aufschrift „Lieber französische Verhältnisse als amerikanische Zustände“. Dieser Satz drückte nichts anderes aus als das Begehren nach mutiger kollektiver Selbstermächtigung, in der jedeR Einzelne auch wirklich zum Akteur wird.



Kämpfen wie in Frankreich 2007
Foto: flickr, Francois Lafite 


Das Beispiel der Streiks von 1995
 
Entscheidend für das echte „Französisch Lernen“ist die Frage: „Wie entsteht eine tiefgehende gesellschaftliche Streikdynamik, die, getragen durch große Teile der Arbeiterklasse, auch tiefe Auswirkungen in und auf die gesamte Gesellschaft hat.“
 
Der letzte große Ausbruch einer solchen sozialen Dynamik in Frankreich war die mehrwöchige Streikbewegung Ende 1995 gegen die Verschlechterung der bestehenden Rentengesetze für die lohnabhängige Bevölkerung. Getragen wurde dieser Streik vor allem von den Eisenbahnern, die den gesamten Schienenverkehr für drei Wochen lahm legten. In einigen Regionen wurden sie zum Zentrum einer wirklichen Massenstreikbewegung, die breite Teile der Bevölkerung erfasste und deren Alltag veränderte. In der Gegend um Rouen, einem Schwerpunkt der Chemie- und Autoindustrie sowie Eisenbahn- und Transportknotenpunkt, wurde die soziale Dynamik einer die Massen ergreifenden Streikbewegung am deutlichsten sichtbar.
 
Was geschah in Rouen?
 
Die Eisenbahner blockierten den gesamten Schienenverkehr und riefen alle gesellschaftlichen Bereiche – von den Schulen bis zu den Chemiewerkern – zu täglichen Streikversammlungen in die große Reparatur-Werkhalle am Bahnhof von Sotteville. Um 11 Uhr ertönten die Sirenen. Auf diesen Versammlungen wurde die Lage diskutiert, Aktionen beschlossen und die Fortsetzung des Streiks entschieden. Klar war, dass Verlauf und Entwicklung der Streikbewegung nicht von den Gewerkschafts-Zentralen entschieden wurden, sondern auf den Basis-Versammlungen.
 
Die Dynamik der Bewegung veränderte das soziale Klima in ganz Frankreich. Die aufbegehrenden Kräfte unter den Lohnabhängigen machten ganz neue, solidarische Erfahrungen; Trennungen zwischen den verschiedenen Sektoren wurden aufgebrochen und die Bourgeoisie, wie auch Teile der besitzenden Klasse bekamen es mit der Angst zu tun.



Gegen prekäre Arbeitsbedingungen in Frankreich ...
Foto: B. Schmidt, arbeiterfotografie

 
Die Streikbewegung und die damit einhergehende Entstehung eines solidarischen gesellschaftlichen Klimas bezogen auch die sans-papiers, die Bewegung der Einwanderer ohne Papiere, und die Bewegung der Arbeitslosen mit ein. Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass die Eisenbahner den sans-papiers ihre Gewerkschaftslokale als Schutzraum vor Polizeiübergriffen zur Verfügung stellten.
 
Weltweit berührte die Bewegung GewerkschafterInnen. In Seoul demonstrierten EisenbahnerInnen damals mit der Parole „ Wir wollen alle Franzosen werden“.

Was wir für uns wollen, wollen wir für alle
 
Diese Parole ging aus von den streikenden EisenbahnerInnen, die während des Streiks alle ihre Ziele erreicht hatten. Um sie aus der Streikfront herauszubrechen, hatte die Regierung ihnen Zugeständnisse gemacht. Sie aber antworteten: Wir wollen gleiche Bedingungen für alle, nicht nur für uns“ und setzten den Streik fort. Im Einzelnen stand diese Parole für:
 
1. Ein egalitäres Empfinden:das Eintreten für gleiche Rechte, das zur Verfügung Stellen der Gewerkschaftslokale für die verfolgten und bedrohten „ sans papiers“, die direkte Mitarbeit an den Unterstützungskomitees für Arbeitslose und rechtlose MigrantInnen.

2. Den greve reconductible: ein neuer Ausdruck für Formen des Streiks, die von unten, in den Betrieben und Streikversammlungen entschieden werden.

3. Den Generationenkampf von jung und alt: wie beim Kampf gegen den Ersteinstellungsvertrag, der Jüngeren schlechtere Bedingungen einräumen sollte, aber auch die volle Unterstützung für unterschiedlichste Kampfformen, um den kapitalistischen Alltag zu blockieren: Schienenbesetzung, Autobahnblockaden usw.


... in London ...

4. Die allgemeine Empörung über die Rentabilität um jeden Preis: Die Ablehnung der menschenfeindlichen Kapitalökonomie ist sehr tief in der Gesellschaft verankert. Es gibt eine Radikalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen.

5. Die Infragestellung der etablierten Repräsentationen: von Parlament und Parteien, aber auch von Teilen der Gewerkschaften – und die Förderung demokratischer Prozesse von unten, derAutonomie und der selbstständigen Bewegungen, die Zunahme des allgemeinen Ungehorsams und der Radikalität der Aktionen und Streiks.
 
Französischlernen ist kein Bildungskonzept
 
Französisch lernen ist ein Konzept des Entdeckens, des Wahrnehmens, des Blicks auf und in die Gesellschaft, deren Teil die BetrachterInnen selbst sind – und des Aufgreifens von Initiativen, der Organisierung von Unterstützung, der Herstellung von Öffentlichkeit aus dem Innern des Motors.
 
Den Gedanken des „ tous ensemble – alle zusammen“ zu entwickeln in den sozialen Teilbewegungen ist eines der wichtigsten Kapitel des Französischlernens. 
 

... und Deutschland.

„Französischer Blick“ auf Deutschland
 
Und kommen wir mit diesem „französischen Blick“zurück in unsere Gesellschaft:
 
Betrachten wir Vorgänge hier – nehmen wir die Altenpflegerin in Berlin bei Vivantes, die die menschenunwürdigen Verhältnisse in ihrem Pflegeheim öffentlich machte, die alle angehen. Sie wurde fristlos entlassen. Wie schwer war es, Solidarität zu gewinnen für diese Frau und doch hätte diese mutige Aktion der Ausgangspunkt für eine breite Solidarisierung werden können, um die Verhältnisse in diesem Bereich sichtbar zu machen und Wege zu überlegen, wie diese würdelosen Zustände abgeschafft werden können.
 
Nehmen wir Erwin Bixler, ein ungehorsamer Beamtengewerkschafter, der sich engagierte in der Agentur für Arbeit für das „tous ensemble“, für das solidarische gesellschaftliche Handeln und die Aufdeckung von gefälschten Statistiken und Berichten aus dieser Behörde. Auch er fand wenig Unterstützung. Ganz anders seine französische Kollegin Fabienne Brutus, die praktisch dieselben Schweinereien aufdeckte, sogar ein Buch über die Vorgänge in der dortigen Agentur für Arbeit schrieb und breit von Gewerkschaftsgruppen und Soli-Komitees unterstützt wurde bis hin zu einem landesweiten Streik aller Arbeitsamtsbeschäftigten.
 
Nehmen wir aber auch die S–Bahner in Berlin, die - unbeachtet von der mit dem engen deutschen Blick ausgestatteten Gewerkschaftslinken – eigene Wege gehen und unabhängig von gewerkschaftlicher Zugehörigkeit, ihre eigenen transparenten demokratischen Praktiken entwickeln.
 
Und nehmen wir die selbstständige Aktion der Kollegen vom Auto-Auslieferer TRW in Krefeld, die durch ihre spontane Verweigerung der alltäglichen Lohnarbeit die Rücknahme der Kündigung von zehn ihrer KollegInnen erzwungen haben.
 
Kollektive Selbstermächtigung fördern
 
Das ist der französische Lernprozess in der BRD-Gesellschaft. Ich denke mir, dass der sich anbahnende Konflikt bei der Bahn vielleicht auch einige neue Erfahrungen und Lernprozesse für uns alle bringen wird.
 
Zum Französisch lernen gehört nämlich der wache Blick, das Ablegen jeder engen organisations- und anderen politischen Voreingenommenheit, das Interesse, gesellschaftliche Selbsttätigkeit zu fördern und vor allem das solidarisch-kooperative Handeln hervorzuheben und das egalitäre Bedürfnis zuwecken.
 
Französisch lernen heißt also die kollektive Selbstermächtigung in allen Bereichen zu fördern, zu entdecken, die soziale Fantasie und das solidarisch-gesellschaftliche Moment mit einzubeziehen, das „tous ensemble“, den gemeinsamen gesellschaftlichen Anspruch zu formulieren.


Kollektive Selbstermächtigung ist auch Widerstand - europaweit
Foto: H.-D. Hey, arbeiterfotografie


Totalitäres Denken und Handeln benennen
 
Französisch lernen heißt aber auch, totalitäres Denken und Handeln offen anzugreifen und zu benennen: Wenn im Daimler–Werk in Marienfelde in Berlin, Vertrauensleute und alternative Betriebsräte die Unzufriedenheit vieler durch das neue Entgelt-Rahmenabkommen herabgestufter Kollegen aufgreifen, Unterschriftenaktionen organisieren, den wütenden Kollegen Mut machen, sich offen zu äußern, und wenn diese von etablierten Betriebsräten bekämpft werden mit dem Argument, sie seien Spalter – wer den Tarifvertrag angreife, der greife die IG-Metall an – dann ist dies genau der deutsche Geist, der totalitäre Geist, der Einheit sagt und damit meint: Entweder Ihr akzeptiert Kontrolle und Unterordnung, oder: Ihr seid Abweichler und Spalter und habt nichts in dieser Gewerkschaft zu suchen.
 
Französisch lernenheißt auch, egalitäres Empfinden durch praktisches Beispiel fördern, bekannt machen und öffentlich unterstützen. Egalitär handeln, ist wenn Opel-Arbeiter Stimmung machen gegen Hartz IV; wenn Arbeitsamtsmitarbeiter in der taz aus dem Innern der Arbeitsämter berichten und die würdelosen Praktiken und Machtfülle vieler Sachbearbeiter benennen und wenn Gewerkschaften dieses Handeln unterstützen.
 
Grenzenlos werden

Französisch lernenheißt, grenzenlos zu werden und zu begreifen, dass der Kampf um soziale Würde den Kampf gegen jegliche Form von Lohnabhängkeit, von Subalternität, von Unterordnung einschließt, gegen das Privateigentum und für eine kooperative und selbstbestimmte Gesellschaftlichkeit. Die Möglichkeit zu diesem Erfahrungslernen liegt in den kleinen wie großen Ausbruchsmomenten aus der kapitalistischen Alltags-Normale, nicht nur im Betrieb!
 
Das ist der Geist von 68, das ist der Geist von 95 und das ist der Geist meines Vortrags zum Französisch lernen. (HDH)

Willi Hajek hat zehn Jahre in Frankreich gelebt. Er ist seit Jahrzehnten in der oppositionellen gewerkschaftlichen Bildungsarbeit aktiv. Heute ist er Mitarbeiter des basisgewerkschaftlichen Bildungswerks tie. Willi Hajek lebt und arbeitet in Berlin

Online-Flyer Nr. 119  vom 31.10.2007

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