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Aktueller Online-Flyer vom 15. Mai 2024  

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Literatur
Pizza, Pasta und Pistolen – Mörderische Geschichten mit Rezept:
Die Nacht am Lago Maggiore
Von Oliver Buslau

Was haben der Lago Maggiore, eine Bootstour nach Ischia, ein Besuch in Pompeji, Pasta mit Pesto, Meeresfrüchte in Tomatensauce und vielleicht ein guter Bardolino mit Mord und anderen grausamen Verbrechen zu tun? Lesen Sie die Erzählungen einiger ausgewählter Autoren aus „Pizza, Pasta und Pistolen“ selbst! Die NRhZ stellt die mörderischen Geschichten mit Rezept vor, und vielleicht können Sie ja selbst einige Anregungen daraus entnehmen... rein kulinarische, versteht sich.
Robert stand am Kiesstrand und sah auf den See hinaus. Die andere Seite, wo man bei klarem Wetter die Häuser von Locarno und Ascona erkennen konnte, verschwamm in einem diffusen Gemisch aus Grün und Grau. Er holte ein Taschentuch hervor und trocknete sich die Stirn ab. Es würde ein Gewitter geben, da war er sicher. Er fühlte sich müde; das Wetter schlug ihm auf den Kreislauf. Dabeihatte er eine lange Nacht vor sich …

Er hörte Julias Stimme und wandte sich der Treppe zu, die hinauf zur „Casa Roberto“ führte – seiner Pension, die sich schmal in die Höhe reckte und über dem See thronte wie eine mürrische alte Dame.

Robert hatte die Pension vor vier Jahren gekauft und sich enthusiastisch in die Renovierung gestürzt, doch nach kurzer Zeit war ihm das Geld ausgegangen. An den ehemals weißen Mauern bröckelte der Putz, die schmiedeeisernen Geländer an den kleinen Balkonen waren rostig; die Terrasse war gerade soweit gefliest, dass man fünf Tische darauf unterbringen konnte. Julia hatte sie mit roten Tischdecken und Kerzen hergerichtet. Doch es war kein Gast zusehen; alle Tische waren leer.

Was half es, dass die riesige Mauer unten am See angeblich aus dem 17. Jahrhundert stammte – demselben Zeitalter, in dem auch die Fundamente seiner „Casa“ gesetzt worden waren? Die Gäste erwarteten in Italien entweder Luxus oder Strände oder Meer oder eben alles zusammen. Wer auf dem Weg in den Süden war und kurz hinter der Schweizer Grenze an Roberts Pension Halt machte, blieb meist nur eine Nacht – um in einem von Roberts zwölf Betten vom richtigen Italien zu träumen und am nächsten Tag seinen Weg dorthin fortzusetzen. Da halfen auch die beiden Palmen nichts, die neben dem Eingang in je einem Terrakottatopf ihr trauriges Leben fristeten.

„Gäste an der Rezeption“, zischte Julia und zog sich wieder in die Küche zurück. Robert warf einen Blick auf den Hof. Ein blauer Mercedes stand da. Essener Kennzeichen. Gäste aus der alten Heimat. “Wir dachten schon, hier käme keiner“, rief der Mann, der am Tresen neben dem Schlüsselbrettstand, ungehalten – ein Typ wie ein bulliger Bauunternehmer.

„Aber Heinz“, flüsterte eine schmächtige kleine Frau neben ihm und lächelte den herbeieilenden Robert an, der über die Bemerkung hinwegsah und die beiden auf Deutsch begrüßte.

„Na, Sie kommen ja wohl auch nicht von hier“, rief der Mann, nun etwas leutseliger. Robert ergriff manchmal die Gelegenheit, neuen Gästen seine Geschichte zu erzählen: dass er aus Köln stammte, mit einer Italienerin verheiratet gewesen war, mit ihr hier am Lago Maggiore einst Urlaub machte, sie sich gemeinsam in den See verliebten und er sich daraufhin hier niederließ. Während er plauderte, trugen sich die Gäste ins Register ein, er händigte ihnen den Schlüssel aus, und dann machte er darauf aufmerksam, dass auf der Terrasse auch Abendessenserviert wurde.

„Gibt’s denn bei Ihnen eine Spezialität?“, dröhnte der Mann, der, wie Robert mit einem schnellen Blick ins Register feststellte, Anders hieß. Er Heinz, sie Marianne.„Einen ganz hervorragenden Amarena-Eisbecher“, erklärte er und machte sich daran, die beiden Koffer des Ehepaars ins obere Stockwerk zu tragen, was ihm angesichts der Schwüle ziemlich zusetzte. „Eis?“, fragte Anders. „Aber was Warmes gibt’s auch, oder?“

Robert erklärte keuchend, dass es natürlich allerlei andere typische italienische Speisen gäbe: von Pasta bis Fisch, aber auch Mailänder Schnitzel. Er ver-43Die Nacht am Lago Maggiore schwieg, dass es nicht gerade ein Meisterkoch, sondern die neunzehnjährige Aushilfe Julia war, die die warmen Gerichte in der kleinen, immer noch nichtvollständig renovierten Küche einigermaßen annehmbar zubereitete.

„Das Amarena-Eis ist aber etwas ganz Besonderes. Meine Frau stammte aus einer alten Eismacherfamilie. Es ist ein Familienrezept.“

„Na dann“, meinte Herr Anders und betrat das Zimmer.

„Darf ich einen Tisch reservieren?“

„Sehr gern“, sagte Frau Anders leise und schenkte Robert ein Lächeln, bevor sie ihrem Mann auf den Balkon folgte, von dem aus man die ganze Pracht des Sees als Panoramablick genießen konnte.

Die Aussicht nahm Herrn Anders nicht lange gefangen. „Das hier müssen Sie mal streichen“, rief er und deutete auf das Geländer.
 
Robert hatte eine reelle Chance, den Abend ohne große finanzielle Verluste zu überstehen, wenn drei Gäste auftauchten und zum Essen ordentlich Wein oder teures Mineralwasser tranken. Das hatte er nachlanger Rechnerei herausgefunden. Das Ehepaar Anders war zum Glück nicht abgesprungen, sondern erschien pünktlich eine Stunde nach seiner Ankunft auf der Terrasse und nahm umständlich Platz.

Robert hatte gerade die Bestellung aufgenommen – zweimal Lasagne mit Salat, dazu immerhin eine Flasche Wasser und für den Herrn ein Bier – als er auf dem Weg in die Küche eine Frau neben der Rezeption stehen sah. Der Mercedes auf dem Hof hatte Gesellschaft bekommen. Ein glänzender schwarzer Porsche parkte dort. Schweizer Kennzeichen. Robert begrüßte die große schlanke Dame, die ihm wie eine Mischung aus Claudia Schiffer und Heidi Klum vorkam. Sie trug trotz der einbrechenden Dämmerung eine Sonnenbrille. Die Deckenbeleuchtung vor der Rezeption reflektiert ein allerlei Glitzerkram an den Nähten ihrer Jeans.

„Haben Sie ein Einzelzimmer für eine Nacht?“, fragte sie mit knallrot geschminkten Lippen. Gutes Deutsch. Kein Schweizer Akzent. Robert fragte nach Gepäck, aber sie zeigte nur auf den kleinen Rucksack, der an ihrer Hand baumelte. Als sie sich in das Gästebuch eintrug, konnte Robert ihre unleserliche Schrift nicht entziffern.

„Ein kleine Information noch für Sie“, rief er der Dame, die sich gerade in Richtung Treppe bewegte, zu. „Wir bieten auch Abendessen auf der Terrasse an. Wenn Sie es wünschen, reserviere ich einen Tisch für Sie …“

Ihr roter Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Sehr gerne, vielen Dank.“

Immerhin, dachte Robert. Drei Abendessen am Haken.
 
Die dunkelgrüne Oberfläche des Lago Maggiore nahm nach und nach die Farbe von Schiefer an und vereinte sich schließlich mit der hereinbrechenden Dunkelheit. An den beiden besetzten Tischen brannten kleine Windlichter.

Das Ehepaar Anders hatte seine Lasagne aufgegessen, und Robert setzte sich in Bewegung, um die Teller abzuräumen. Die geheimnisvolle Blondine, die noch immer ihre Sonnenbrille trug, war zwei Tische weiter mit einem Teller Spaghetti beschäftigt. Robert fragte sich, ob sie durch die dunklen Gläser überhaupt erkannte, was sie da zu sich nahm. „Darf es noch etwas zu trinken sein? Oder ein Dessert?“

„Ein Bier würde ich noch trinken“, tönte Anders. „Haben Sie nicht gesagt, dass Sie das Amarena-Eis empfehlen?“, fragte seine Frau und lächelte Robert wieder an.

Ein schönes Lächeln, dachte er. Der Mann bemerktes sicher gar nicht mehr. Wie lange mögen die beiden schon verheiratet sein? Sicher haben sie die Silberhochzeit schon hinter sich … „Wie gesagt, das Rezept ist von meiner Frau. In Mandelöl, Vanille und Zucker eingelegte Wildkirschen auf Vanilleeis…“

„Nicht für mich“, erklärte der Mann.

„Bringen Sie mir bitte eins“, sagte die Frau.

„Sehr gerne.“ Robert erkundigte sich bei der alleinsitzenden Blondine im Vorbeigehen, ob alles in Ordnung sei, erntete ein Nicken und machte sich in der Küche daran, den Eisbecher zuzubereiten. Das war die einzige Arbeit in der Küche, für die er und nicht Julia zuständig war.

Die eingelegten Kirschen stellte er im Voraus her, und diese entstanden auch nach dem besonderen Rezept; sie waren das ganze Geheimnis des Amarena-Bechers. Der Rest war reines Arrangement: unten ein paar Kugeln Eis, dann die Kirschen und Sahne. Der langstielige Löffel sollte erst einmal auf eine weiche Lage Kirschen treffen, bevor sich der Gast dem Eis darunter widmen konnte. Der säuerliche Nachgeschmack der Früchte mischte sich mit der milchigen Sahne und dem Mandelaroma. Natürlich gab es auch Amarena-Eis, bei dem das Kirscharoma Teil der Eiszubereitung war, doch davon hatte Viviane, Roberts Frau, nie etwas gehalten.

„Reines Vanilleeis, das ist das ganze Geheimnis“, hatte sie immer gesagt. „Höchstens noch Stracciatella, aber das ist auch schon alles. Es kommt auf die Kirschen an. Und das Vanilleeis muss natürlich ein sehr gutes Eis sein.

“Manchmal ließ sich Robert noch dazu hinreißen, als kleine Variation Schokoladenraspel auf die Sahne zu geben, doch das war nach Vivianes Meinung ein Abweichen von der reinen Lehre.

Sie musste es wissen: Sie stammte aus dem legendären Zoldotal in den Dolomiten, der Heimat vieler so genannter „Gelatieri“, die das Eismacherhandwerk vor hundert Jahren perfektioniert hatten und vom Zoldotal in alle Welt ausgewandert waren.

Robert hatte das Eis serviert und Marianne Anders war anzusehen, dass sie die Raffinesse des Eisbechers zu schätzen wusste. Sie löffelte genüsslich, während ihr Mann kaum ein Auge für sie hatte. Er nahm hin und wieder einen Schluck Bier und starrte vor sich hin. Als der Eisbecher leer war, erhob sich Marianne Anders und erkundigte sich bei Robert nach der Toilette.

Die Uhr in der Küche zeigte kurz nach elf. Mehr Gäste würden kaum kommen. Auf der anderen Seite des Sees, über den Lichtern von Ascona, flammten Blitze auf. Hoffentlich kommt das Gewitter nicht so schnell hierher, dachte Robert. Es würde kein Vergnügen sein, durch den Regen zu laufen.

Während er noch darüber nachdachte, ob er bei seinem nächtlichen Ausflug lieber einen Regenschirmmitnehmen sollte, geschah etwas Überraschendes: Herr Anders stand auf, ging zu der Blondine hinüber und sagte etwas zu ihr. Sie nickte, ohne Anders anzusehen, als habe sie darauf gewartet, dass er sie ansprechen würde, und machte eine beschwichtigende Geste.

Heinz Anders saß längst wieder an seinem Tisch, als seine Frau von der Toilette zurückkam.
 

Zwei Stunden später war die Terrasse leer, Julia war nach Hause gegangen und Robert zog sich in seiner kleinen Einliegerwohnung um. Draußen rollte der Donner durch das Tal und der Regen rauschte. Im Takt der wiederkehrenden Windböen klatschte Wasser an die Scheibe.

Robert stieg in seine Gummistiefel und zog sich eine gelbe Regenjacke über. Er hätte nie geglaubt, dass er den Ostfriesennerz hier in Italien so oft brauchen würde.

Als er das Haus verließ, war das Schlimmste schon vorbei. Der Wind hatte nachgelassen, und der Regen trommelte auf die Kunststoffhaut seiner Kapuze. Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass es Robert so vorkam, als atmete er warmes Wasser ein. Schon nach wenigen Schritten war er unter der Jacke nass vor Schweiß. Die feuchte Haut rieb an dem harten Ölzeug.

Die „Casa Roberto“ gehörte zu einer kleinen Ortschaft namens Zenna – es waren die letzten Häuser vor der Schweiz. Man brauchte nur zwei-, dreihundert Meter von der Pension aus in nördliche Richtung zu laufen, und bewaffnete Wachposten in grünbraunen Uniformen fragten einen nach dem Pass.

Robert hielt sich gen Süden, verließ aber die Straße nach kurzer Zeit und folgte einem Trampelpfad hinunter ans Wasser. Der Regen hatte aufgehört, nur von den Ästen der Bäume klatschten immer noch dicke Tropfen. Robert hatte eine Taschenlampe dabei, doch er brauchte sie nicht. Er kannte den Weg im Schlaf. Einmal im Jahr, immer in der Nacht vom dritten auf den vierten August, machte er sich auf und besuchte diesen Platz – eine ideale Stelle für Liebespaare, die ungesehen im See baden wollten oder anderes vorhatten. Robert hatte sie damals zusammen mit Viviane entdeckt – am schönsten Tag in seinem Leben. Und dem schrecklichsten zugleich.
Sie hatten die Inseln im Süden des Lago Maggiore besichtigt, die Blütenpracht der Gärten auf der Isola Bella genossen und waren, ein turtelndes Liebespaar, auf den Ausflugsbooten bei schönstem Wetter über den See gefahren. Sie hatten irgendwo an der Südseite des Lago lukullisch zu Abend gegessen. Robert hatte die Karte studiert, und da war ihm diese kleine Halbinsel aufgefallen. Die Luft in der warmen Vollmondnachtumhüllte sie wie Seide, als sie diesen Ort fanden und entschieden zu schwimmen – bis zum silbernen Spiegelbild des Mondes, das sich auf dem See als riesiger zitternder Kreis ausbreitete. Viviane hatte sich mit ein paar Handgriffen von ihrem leichten Baumwollkleid befreit und war nackt ins Wasser hineingelaufen...

Robert drängte die Erinnerung beiseite, blieb stehen und atmete tief durch. Hinter den Büschen wurde jetzt die schwarze Wasserfläche sichtbar. Ein paar Schritte noch und Robert erreichte den Strand. Am Himmel waren ein paar Sterne zu sehen. Irgendwo im Gebirge grollte es von ferne.

Robert ging ans Wasser und stand nun genau an der Stelle, wo er Viviane zum letzten Mal gesehen hatte. Die Erinnerung kam zurück. Ihr schimmernder, heller Körper vor dem dunklen Wasser. Wie sie ihm lachend zurief, wo er denn bliebe. Seine Ungeschicklichkeit, mit der er aus der Jeans stieg. Die ersten Schritte durch das kühle Wasser.

Sie musste schon weit hinausgeschwommen sein, und irgendetwas war mit ihr geschehen – Herzstillstand vielleicht oder Kreislaufkollaps. Robert war nichts ahnend losgeschwommen, hatte nach ihr gerufen und immer auf den silbernen Fleck im Wasserzugehalten. Dort aber kam er nie an, denn das Spiegelbild des Mondes wich vor ihm zurück.

Irgendwann wurde ihm klar, dass er inmitten der Dunkelheit alleine war. Er dachte, Viviane würde ein Spiel mit ihm treiben und sei schon heimlich ans Ufer zurückgekehrt. Er rief, suchte im Gebüsch nach ihr und kehrte sogar zur Straße zurück, wo sie den Wagen geparkt hatten. Sie hatten keine Handys dabei gehabt. Irgendwann fuhr Robert den Kilometer hinauf zur Schweizer Grenze und holte Hilfe.

Vivianes Leiche wurde nie gefunden. Heute wusste Robert von Einheimischen, dass der See Ertrunkene oft nicht mehr hergab …

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe der NRhZ die Fortsetzung von „Die Nacht am Lago Maggiore“!




Der Lago Maggiore
Foto: www.markusbernet.ch.vu




Oliver Buslau wurde 1962 geboren und schreibt seit 1999 Krimis. Unter anderem erschuf er denWuppertaler Privatdedektiv Remigius Rott, der bis jetzt fünf Kriminalfällen im Bergischen Land löste.
Außerdem ist Oliver Buslau auch Musikjournalis und Sachbuchautor im Bereich Klassische Musik. 2005 gründete er die Zeitschrift „TextArt“
www.oliverbuslau.de



pizza pasta pistolen titel langenmüller Schmitz, Ingrid (Hrsg.)
„Pizza, Pasta und Pistolen
Mörderische Geschichten mit Rezepten“

1. Auflage 2007, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7844-3111-6
16,90 EUR D / 17,40 EUR A / 30,10 CHF LangenMüller

Ein vergnügliches italienisches Kriminalbuffet mit Erzählungen von Nessa Altura, Martina Bick, Oliver Buslau, Ina Coelen, Angela Eßer, Carsten Germis, Almuth Heuner, Gisa Klönne, Beatrix M. Kramlovsky, Ralf Kramp, Tatjana Kruse, Ulla Lessmann, Susanne Mischke, Nina Schindler, Niklaus Schmid, Ingrid Schmitz und Barbara Wendelken.


Online-Flyer Nr. 119  vom 31.10.2007

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