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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Profiling gegen die Menschenwürde
Bis aufs Hemd ausgezogen
Von Detlef Hartman

Sozialhilfe, hat man uns früher gesagt, sollte die Garantie eines Minimums zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz sein. Ob dieses Minimum dazu auch ausreicht, soll dahingestellt sein. Inzwischen wird die Menschenwürde von einer anderen Seite bedroht und angegriffen: Es häufen sich die Fälle, in denen Hartz-BezieherInnen die Zahlung gekürzt wird, weil die „FallmanagerInnen" etwas an ihrem Verhalten auszusetzen haben. Der Willkür ist damit Tür und Tor geöffnet. Und dahinter steckt System.

Die Kürzungen werden oft vorgenommen, ohne dass verständlich wird, worauf sie beruhen. Es gibt Fälle, bei denen ohne ersichtlichen Grund die Zahlung nicht pünktlich geleistet wird, obwohl klar ist, dass jeder Cent des Minimums jeden Tag verplant ist. Wenn dieses Minimum die Grenze für die Menschenwürde darstellt, dann handelt es sich hier um eine Herabsetzung der Menschenwürde, der Menschenwürde von Frauen, Männern, Kindern. Und all dies sind ganz offenbar keine „Anfangsschwierigkeiten“. Inzwischen sind einige Jahre mit Hartz-IV vergangen und die Fälle und Fallen für die Betroffenen häufen sich. Das hat anscheinend System. Doch welches? Das wird erst deutlich, wenn man die schriftlichen Unterlagen und Strategieanweisungen über „Fallmanagement“ studiert und Vergleiche mit anderen Gesellschaftsbereichen zieht.

Hartz-IV-Handbuch hat es in sich

Das kann genauer im Handbuch des Ministeriums für Arbeit NRW untersucht werden: „Ein gewisses Maß an Druck und Zwang kann durchaus den Effekt haben, Leute in Bewegung zu bringen und Entwicklungen in Gang zu setzen.“ Woraus in Bewegung zu bringen? Wohin? Zwang wozu? Das wird deutlich, wenn man der Arbeitsagentur ausgesetzt ist, vor allem, wenn man ohne Beistand dort „vorspricht“. Die Sachbearbeiter fragen nach allen Bereichen, und keine Ritze des Privatlebens bleibt ihnen verschlossen. Doch damit nicht genug: Sie fordern, dass jeder sich selbst offen legt. Freunde, Charakter, Hoffnungen, Selbsteinschätzungen. Doch was passiert, wenn man sich diesem Druck nicht beugt? Eine prompte Kürzung des Arbeitslosengeldes.

Die Agentur gibt Anweisungen, was jeder zu tun hat, und dabei nimmt sie einen riesigen Spielraum in Anspruch – früher bezeichnete man dies einmal als Willkür. Folgt man den „Anweisungen“ nicht, kann man garantiert mit einer Kürzung rechnen. Jeder wird ausgeforscht, gezwungen sich anzubieten, damit man es den Sachbearbeitern bloß Recht macht. Und wenn nicht, folgt die Kürzung als Strafe. Regelmäßig gibt es inzwischen Beschwerden, dass Menschen überhaupt nicht wissen, weshalb ihnen Gelder von der Arge gekürzt wurde – für die Betroffenen ein großes Ausmaß an Demütigung und existenzieller Unsicherheit. Ebendieses Ausgesetztsein verschärft die Situation und macht viele Menschen inzwischen wortwörtlich krank. Dass die Arbeitsagenturen weiterhin behaupten, es ginge um den „Erhalt der Menschenwürde“, macht viele Betroffene nur noch zornig und wütend.



Profiling-Ausschnitt: Ausziehen bis aufs Hemd
Quelle: wikipedia, Th. Hoffmann, Rechte bei creative commons 


Verstärkte menschliche Ausbeutung

Hartz-IV hat das Ziel der verschärften Ausbeutung im Übergang zur Selbstausbeutung. Jeder hat sich selbst als verwertbare Ressource anzusehen und bis zur Erschöpfung „zur Verfügung zu stellen“. Jeder wird genötigt, die Spielräume der „Selbstoptimierung“ zu erkunden und sich möglichst billig verfügbar machen. In Neudeutsch wird dies „Pull“ genannt. Im Gegensatz zum „Push“, der Anordnung, dem Befehl. Dies war das Prinzip des alten Fordismus, der Fließbandfabrik und Fließbandbürokratie, sowie der sie begleitenden „sozialen“ Formen, die ihnen zugrunde lagen. Diese waren vor 30 bis 40 Jahren während der großen Streiks in die Krise geraten. Viele Menschen wollten die ungeheure Enge mit ihren Weigerungs- und Kampfformen nicht mehr hinnehmen. Das war der Grund, weshalb die Ökonomie den Angriff auf das Bewusstsein der Menschen begann, um das „Selbst" zu erforschten, die Motivationshintergründe und warum man zunehmend in die Subjektivität der Menschen eindrang. Folgerichtig läuft diese Strategie des Angriffs auf die Gehirne – im angelsächsischen Sprachgebrauch „Brain-Fucking“ genannt – dann auch unter dem Begriff „Subjektivierung“.


Selbsttest für ARGE-MitarbeiterInnen
Bild: Arbeitsagentur, interner Test


In anderen gesellschaftlichen Bereichen wurde genau das Gleiche versucht. Im Betrieb ist der Zwang zur Selbstunterwerfung, zur Selbstoptimierung und Selbstoffenbarung in der isolierten Leistungskontrolle die Strategie, um zu versuchen, noch mehr aus den Beschäftigten herauszupressen. Exemplarisch wurde dies durch den Streik der ArbeiterInnen bei „Gate Gourmet“ als weltweit zweitgrößten Fastfoodversorger für Fluglinien deutlich. Seitdem die Unternehmensberatung MacKinsey dort wütete, wurden die Fließbänder aufgelöst und von den ArbeiterInnen verlangt, sich gemeinsam mit „Experten" in der isolierten Arbeitssituation an Leistungsmarken zu optimieren. Hier herrschte nicht mehr ein Befehl der Betriebsleitung, sondern ging eine Infizierung mit dem „Selbstrationalisierungsvirus“ vor sich. „Ich krieg den Virus nicht mehr raus“, meinte damals ein Arbeiter. Als die Beschäftigten von Gate Gourmet auf die Straße gingen, war es der Streik selbst, bei dem sie sich erholten und einen Teil der Menschenwürde zurückeroberten. „Menschenwürde“ hieß ihr erstes Transparent. Ähnliche Strategien werden längst in allen gesellschaftlichen Bereichen verfolgt, in Schulen und Hochschulen, im Gesundheitswesen und Kindergärten und vor allem gegen Migranten.


Inzwischen einfach die Nase voll
Bild: arbeiterfotografie.com


Geldentzug als Druckmittel

Das zentrale Zwangsmittel ist der Geldentzug, denn ohne Geld folgt schnell der Hunger. Es ist nicht so, dass sofort alles entzogen würde. Die Strategierichtlinien sehen ausdrücklich vor, dass sie die „Kunden" mit raffinierten Techniken „an der langen Leine“ halten wollen. Verunsichern einerseits, Leine geben andererseits war immer eine beliebte Methode der herrschenden Gewalt, um Menschen besser „in die Hand" zu bekommen. Jeder ist ein Einzelfall, isoliert im Einzelfallmanagement – ein „Fallenmanagements“ für die Betroffenen.

All dies ist kein Märchen aus einer fremden Welt, sondern geschieht jederzeit an jedem Ort in diesem Land. Wir werden bis in unsere Seele gescannt – manche nennen es „Profiling“. Und eines müsste auch klar sein: Die gewonnenen Informationen können nicht nur willkürlich gegen Betroffene verwendet werden, sie landen auch im ganz großen Datenpool...


„Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt"
Plakat: arbeiterfotografie.com


Die Gefahr der Selbstaufgabe

Deshalb ist es wichtig, mit anderen Betroffenen gemeinsam, die eigene Isolation zu durchbrechen, sich in den Stadtteilen zu treffen und sich auszutauschen, auch mit Menschen aus anderen Gesellschaftsbereichen. Denn die Menschenwürde ist unteilbar, und vor allem muss sie immer wieder neu und gemeinsam erkämpft werden.

Eigentlich wollte ich – verehrte LeserInnen – ganz unjounalistisch das „Du" verwenden, um klar zu machen, dass ich Sie persönlich ansprechen will. Denn dann wäre deutlich geworden, dass dieses Hereingezogenwerden in ein Fallgespräch, das „Pullen" der FallmanagerInnen, die die Grenzen des Persönlichen überschreitet und unmittelbar die „kommunikative“ Form der Selbstüberantwortung zur Folge hat, in der man leicht gefangen werden kann. Man gibt vor, die „Kunden" als Menschen ernst zu nehmen und zu „betreuen". Wer darauf herein fällt, fällt auf die Totalität dieses Systems herein, die einzig und allein im Verwertungsinteresse des Kapitals liegt. (HDH)

Unser Startbild zeigt Detlef Hartmann. Er ist Rechtsanwalt in Köln
Foto: privat

Online-Flyer Nr. 115  vom 03.10.2007

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