NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 03. Oktober 2024  

Fenster schließen

Arbeit und Soziales
Der Workfare State auf dem Vormarsch
Demagogie und Heuchelei
Von Hans-Dieter Hey

Mehr als hundert Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Forschung, aus Gewerkschaften und aus den Sozialen Bewegungen trafen sich mit Erwerbslosen am 8. September in der Fachhochschule Dortmund zu einem eintägigen Kongress. Thema war der von Politik, Kommunen und Wirtschaft gleichermaßen applaudierte Weg von den Ein-Euro-Jobs hin zum sogenannten „Dritten Arbeitsmarkt". Wer das System der „Ein-Euro-Jobs" begriffen und seine arbeitsmarktpolitische Wirkungslosigkeit und seine sozialpolitische Lüge hinter aller offiziellen Demagogie und Heuchelei erfasst hat, applaudiert indessen nicht mehr – meinen die Veranstalter.
No work – no pay

„No work – no pay", oder anders gesagt: der „Workfare State", ist das Ziel US-amerikanischer Arbeitsmarktpolitik. Der Slogan bedeutet Zwang zu Arbeiten unter ähnlich herabwürdigenden Bedingungen, wie sie in Deutschland unter „Ein-Euro-Job" und „Kombilohn" bekannt wurden und inzwischen zur Lohndrückerei auf breiter Front führen. Dies wird heute als Drehtüreffekt bezeichnet, ist aber nicht neu. Historisch können wir auf den sogenannten „freiwilligen Arbeitsdienst" der 1920er Jahre und den „Reichsarbeitsdienst" der Hitler-Diktatur zurückgreifen. Und die Bedenken, auf solche alten Rezepte zurückzugreifen, schwinden seit der Einführung von Hartz IV immer mehr. 


V.l.n.r.: Prof. Dr. Spindler, Irina Velay, Armin Stickler
Foto: NRHZ-Archiv


Deshalb haben die Veranstalter vom Samstag die Politik auch dringend gefragt, warum und in wessen Interesse ein als falsch erwiesenes Konzept nicht endlich begraben, sondern mitten in seinem Scheitern in eine neue Dimension überführt werden soll. Während des Kongresses wurde auch die Frage diskutiert, wie Widerstand, kritische Wissenschaft und unangepasste Politik gegen diese als Lösung der Arbeitmarktprobleme verkaufte Politik im Interesse der von ihr stigmatisierten Menschen erfolgreich sein kann.

Pflichtarbeit für alle zum Nulltarif

Eine harte Analyse der aktuellen Situation nahm die Wissenschaftlerin Irina Vellay vor und bezog sich dabei auf ihre Studie „Der Workfare State – Hausarbeit im öffentlichen Raum?" Es handelt sich dabei um eine erste wissenschaftliche Untersuchung über die Entwicklung von Ein-Euro-Jobs am Beispiel Dortmund und die ersten Folgerungen daraus. Prof. Dr. Helga Spindler erläuterte den experimentellen Charakter dieser „modernen Arbeitsmarktpolitik" und das rechtliche Instrumentarium zur Durchsetzung von disziplinierenden und stigmatisierenden Maßnahmen gegenüber den Erwerbslosen (s. Artikel in der NRhZ Nr. 110, 111, 112). Vor allem sei – so Prof. Dr. Gabriele Michalitsch – die Ungleichheit der Menschen im Lande und insbesondere die von Frauen durch das Workfare-Instrumentarium erheblich verfestigt worden.

Nach dem Grundgesetz ist Deutschland ein sozialer Rechtsstaat ist. Die Politik der letzten 20 Jahre hat den Sozialstaat immer mehr verändert - scheibchenweise (s. Artikel von D. Kreutz in dieser Ausgabe) - und den Menschen als einzige Lösung den „Workfare State" verkauft. Das war Thema einer Podiumsdiskussion an der Prof. Dr. Michael Krätke, Bernhard Jirku, zuständig für die Erwerbslosenarbeit in der Gewerkschaft ver.di, Ellen Diederich, Friedensaktivistin und unermüdliche Kämpferin für alternative Lebens-Projekte, Joachim Glund, Mitbegründer der deutschen Sozialforen und Organisator der Euro-Märsche, Ulas Sener, von Kanak-Attak, dem kritischen Netzwerk von Migrant/innen, teilnahmen.


Ein-Euro-Job und Kombilohn: Lohndrückerei
auf breiter Front
Foto: H.-D. Hey, arbeiterfotografie.com


Im Plenum nahmen viele Menschen teil, die ganz unterschiedliche Initiativen vertraten und eine große Bandbreite herber Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen und der Politik vortrugen. Wesentliches Merkmal der Debatte – auch der Kontroversen, denen sich vor allem Gewerkschaften zu stellen hätten – war das erklärte gegenseitige Anerkennen und der Wunsch nach solidarischem Unterstützen und stärkerem Vernetzen aller Aktivitäten, Initiativen und Projekte, um den Widerstands von unten gegen den gewalttätigen gesellschaftlichen Umbruch von oben zu stärken.

Bürgerrechte gab es gestern

In den Beiträgen wurde deutlich, wie sehr der „Workfare State" die Gesellschaft spaltet. Als Beitrag zur Lösung der Beschäftigungskrise wurde daher die konsequente und nachdrückliche Ausweitung des öffentlichen Sektors mit regulär vergüteten Beschäftigungsverhältnissen und die erhebliche Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit bei Lohnausgleich sowie eine umfassende Humanisierung der Arbeitsbedingungen vorgeschlagen. Lokale Projekte kollektiver Selbstorganisation und Selbsthilfe sollen deshalb öffentliche Unterstützung erhalten, um unabhängiger von den Risiken, Ungerechtigkeiten und Versorgungslücken eines zerstörerischen Neoliberalismus zu werden.

Die von Irina Vellay vorgelegte empirische Studie „Der Workfare State – Hausarbeit im öffentlichen Raum?" offenbart die Folgen der Entrechtung von mehr und mehr Menschen. Das Workfare-Konzept – ob als Ein-Euro-Job oder Dritter Arbeitsmarkt – ist ein Konzept, dessen Scheitern die Feigheit der Politik aber nicht zugeben will. Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht (moderne Zwangsarbeit) zu gemeinnütziger Arbeit und die erzwungene Unterordnung der Menschen unter ein Regime direkter Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zielt auf die Instrumentalisierung der Ausgegrenzten zum Zweck einer Senkung der gesellschaftlichen Reproduktionskosten und zugunsten stabilerer Profitraten der privaten Unternehmen. (HDH)

Die Materialien des Kongresses sollen in absehbarer Zeit veröffentlicht werden.

Die Studie kann als Heft 1 der Reihe "Workfare-Dienstpflicht-Hausarbeit" unter dritter.arbeitsmarkt@gmx.de bestellt werden.





Online-Flyer Nr. 112  vom 12.09.2007



Startseite           nach oben