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Inland
Interview mit Heike Kleffner von der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt
„Riesiger Etikettenschwindel der Bundesregierung“
Von Jörg Kronauer

Über die Ausbreitung des Rechtsextremismus in Deutschland und den Anstieg rechter Gewalttaten sprach anlässlich einiger durch die Behörden gesicherter Nazidemonstrationen am 1. und 8. September Jörg Kronauer mit Heike Kleffner. Sie ist Journalistin und leitet die „Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“. Die Mobile Opferberatung gehört zu einem Netzwerk von unabhängigen Opferberatungsprojekten, die in den neuen Bundesländern und Berlin Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt begleiten und unterstützen. - Die Redaktion.
Die Menschenjagd in Mügeln hat im Ausland große Aufmerksamkeit hervorgerufen. War sie ein Einzelfall?

Heike Kleffner: Nein, das war keineswegs ein Einzelfall. Wenn man sich die offizielle Statistik ansieht, dann stellt man fest, dass die Sicherheitsbehörden für das Jahr 2006 in der Bundesrepublik über 1.100 rechte Gewalttaten registriert haben. Das sind im Durchschnitt mehr als drei am Tag, eine sehr hohe Zahl, und meistens richten sie sich gegen Menschen. Die unabhängigen Beratungsprojekte für Opfer rechter Gewalt, die es in den fünf neuen Bundesländern und in Berlin gibt, haben im selben Zeitraum allein für Ostdeutschland knapp 900 rechte Gewalttaten registriert. Das zeigt, dass es ein extrem hohes Dunkelfeld gibt: Dass es viele rechte und rassistische Gewalttaten gibt, die von den Sicherheitsbehörden überhaupt nicht registriert werden. Aber auch die Zahlen der Opferberatungsprojekte können nur einen Ausschnitt der Realität abbilden. Das Problem ist also noch viel größer und alltäglicher, als es die Schlagzeilen nach jedem neuen besonders brutalen rechten Angriff vermuten lassen.


Nach der Menschenjagd in Mügeln - eins der Opfer
Quelle: venceremos.antifa.net

Können Sie ein Beispiel nennen?

Anfang August beispielsweise wurde in Burg, einer kleineren Stadt bei Magdeburg, die Wohnung einer vietnamesischen Migrantenfamilie von drei polizeibekannten Rechten überfallen. Die Familie hat eine achtjährige Tochter und einen vierzehnjährigen Sohn. Zum Tatzeitpunkt war zudem eine gleichaltrige Freundin der Tochter zu Besuch. Die Rechten sind spätabends in die Wohnung eingedrungen, haben die Familie mit rassistischen Parolen bedroht und beschimpft. Und dann haben sie den 14-jährigen Sohn so schwer ins Gesicht geschlagen, dass er am nächsten Tag deutlich sichtbare Prellungen hatte. Nach einem Notruf der Vietnamesen sind zwei Polizisten gekommen und haben den Überfall registriert. Die Beamten sind aber nicht gegen die Täter vorgegangen, obwohl das leicht möglich gewesen wäre: Einer von ihnen wohnt im selben Mietshaus wie die vietnamesische Familie. In seine Wohnung hatten sich die drei Rechten nach dem Überfall zurückgezogen. Die zwei Polizeibeamten hatten per Funk Verstärkung angefordert, diese wurde ihnen aber von der Einsatzzentrale verweigert. Und ohne Unterstützung haben sie sich nicht getraut, gegen die Täter einzuschreiten. Die vietnamesische Familie hat dann aus Angst vor einem weiteren Angriff die Wohnung verlassen und in ihrem Restaurant übernachtet. Das war ziemlich vorausschauend. Denn nachdem sie weg waren, sind die drei Rechten erneut in ihre Wohnung eingedrungen, haben die Räume verwüstet und Unterhaltungselektronikgeräte gestohlen. Das ist nur ein Beispiel für die alltägliche Dimension rechter Gewalt.


Rechte Kameradschaft Gera 
Quelle: www.antifa-freiburg.de

Beschränkt sich das auf Ostdeutschland?

Dort ist die Gefahr, als scheinbar oder erkennbar nichtdeutsche Person Opfer einer Gewalttat zu werden, deutlich höher als im Westen. Rechte Gewalt ist aber kein "Ostproblem". Am vergangenen Wochenende beispielsweise wurden auf einem Dorffest in Rheinland-Pfalz zwei Männer aus Ägypten und dem Sudan von rassistischen Schlägern, die als Rechte polizeibekannt waren, zusammengeschlagen und schwer verletzt. Es handelt sich insgesamt um ein strukturelles Problem, das seit nunmehr 17 Jahren den Alltag in Deutschland bestimmt, vor allem in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands.

Ganz besonders bestimmt Rechtsextremismus und Rassismus den Alltag potenzieller Opfer. Die müssen sich nämlich überlegen, wo sie sich überhaupt noch bewegen können. Betroffen sind zunehmend auch Jugendliche, die sich nicht als links oder alternativ definieren, sondern die sich einfach als "nicht rechts" verstehen. Sie stehen vor allem im ländlichen Raum unter massivem Druck, sich der dominanten Gruppe - den Rechten - unterzuordnen. Wenn sie sich dem entgegenstellen bzw. verweigern, müssen sie damit rechnen, selbst Opfer eines Angriffs zu werden. In manchen Gegenden ist während der vergangenen 17 Jahre eine Kultur der Akzeptanz für rechte Einstellungen, rechte Aktivitäten und rechte Gewalt entstanden, die man kaum noch aufbrechen kann.


Gedenkstein für den Mosambikaner Alberto Adriano in Dessau
Quelle: www.umbruch-bildarchiv.de

Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr beschlossen, fünf Millionen Euro mehr als zuvor für Aktivitäten gegen Rechtsextremismus zur Verfügung stellen. Genügt das, um die Gewalttäter in den Griff zu bekommen?

Was die Bundesregierung im Moment betreibt, ist ein riesiger Etikettenschwindel. Sie will zwar die Beratungsprojekte für Opfer rechter Gewalt und die mobilen Beratungsprojekte gegen Rechtsextremismus mit fünf Millionen Euro weiterfinanzieren. Gleichzeitig werden die Mittel aber auf mehr Bundesländer als zuvor verteilt, so dass es in einigen Bundesländern, die es dringend nötig hätten, Kürzungen bei den Opferberatungsprojekten gab. Das betrifft unter anderem Mecklenburg-Vorpommern, wo die NPD bereits im Landtag vertreten ist. Zudem spricht das zuständige Bundesfamilienministerium von Kriseninterventionen. Es operiert also mit einem Begriff, der auf die Situation überhaupt nicht passt: Es handelt sich ja bei rechter Gewalt gerade um eine "Dauerkrise", die nun schon seit 17 Jahren anhält. Dass man das Problem über sogenannte Krisenintervention in den Griff bekommen will und von den Beratungsprojekten verlangt, schriftlich "Kriseneinsätze" nachzuweisen, ist absurd.


Rechte Kameradschaft Aachener Land
Quelle: www.antifa-freiburg.de

Es kommt noch hinzu, dass die Bundesregierung nach wie vor so tut, als sei Rechtsextremismus ein Jugendproblem. Das widerspricht allen quantitativen und qualitativen Studien. Und der letzte Kritikpunkt: Das Regierungsprogramm soll ja erklärtermaßen die Zivilgesellschaft vor Ort stärken. Wenn man sich aber die Umsetzung anschaut, dann stellt man fest, dass es Bundesländer gibt, in denen - wie in Hessen - die Programmkoordinierung beim Landeskriminalamt liegt. Damit macht man Böcke zu Gärtnern, denn die Sicherheitsbehörden und ihr Umgang mit Rechtsextremismus sind vielerorts selbst Teil des Problems.

Mit welcher Entwicklung rechnen Sie in den kommenden Jahren?

Es gibt eine Reihe absehbarer Tendenzen. Die NPD wird alles daransetzen, sich kommunal weiter zu verankern. Nach Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen die nächsten Bundesländer, in denen dieser Schritt vollzogen wird. In ländlichen Regionen der alten Bundesländer ist dasselbe zu beobachten. Bislang haben weder Politik noch Zivilgesellschaft adäquate Antworten darauf gefunden.


Einer von 12 Neonazis im sächsischen Landtag - Holger Apfel (Mitte) mit Bodyguards | Quelle: venceremos.antifa.net

Absehbar ist auch, dass zumindest die nicht parteiförmig organisierten Segmente des Rechtsextremismus, die sogenannten Freien Kameradschaften, ihr Selbstbewusstsein und ihre Stärke wohl auch immer mehr in gezielten Gewalttaten ausleben werden. Wir stellen jetzt schon in Ostdeutschland fest, dass zum Beispiel alternative und nicht-rechte Jugendtreffpunkte zunehmend zu Zielen von geplanten Angriffen von größeren Neonazi-Gruppen geworden sind. Die Straßenmilitanz von Neonazis und Rechtsextremen wird wohl weiter zunehmen.
 
Mehr unter www.german-foreign-policy.com

Online-Flyer Nr. 112  vom 12.09.2007

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