NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

zurück  
Druckversion

Krieg und Frieden
Informationen zur anstehenden Mandatsverlängerung
Afghanistan – die deutsche Rolle
Von Claudia Haydt, Christoph Marischka und Jürgen Wagner

Mitte September entscheidet der Bundestag über die Fortsetzung des deutschen Beitrags zum Krieg in Afghanistan. Am 15.9.2007 wird – ebenfalls in Berlin – eine bundesweite Demonstration gegen die Verlängerung aller Mandate und für eine sofortige Beendigung des Krieges stattfinden. Stattdessen soll dem Land ausschließlich zivile Hilfe für den Wiederaufbau zukommen, denn, so der Aufruf: „Der zivile Wiederaufbau in Afghanistan sowie eine humane Entwicklung können überhaupt erst gelingen, wenn der Krieg beendet ist.“
Die deutschen Beiträge zum Afghanistankrieg


Das älteste Mandat im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF) entstand gut zwei Monate nach den Anschlägen vom 11.9.2001 und beruht auf deren Interpretation als militärischem Angriff auf die USA und damit Auslöser des NATO-Bündnisfalls. Die Bundesregierung mobilisierte Marineeinheiten, die seitdem zusammen mit den Verbündeten vor dem Horn von Afrika und um die arabische Halbinsel patrouillieren, sowie Soldaten der ABC-Abwehr, des Sanitätsdienstes, des Lufttransports und des geheim operierenden Kommando Spezialkräfte (KSK).


„Auch die Terrorismusbekämpfung ist ein zentraler Aspekt"
Quelle: pixelio | Foto: Rudi


Zwar heißt es, die KSK-Kommandos seien seit 2005 nicht mehr angefordert worden, dies ist jedoch irreführend, denn KSK-Soldaten operierten in der Vergangenheit auch unter ISAF-Mandat. Dies könnte auch weiterhin so sein, denn über KSK-Einsätze erfahren Öffentlichkeit und Parlamentarier wenig.

Nach der raschen Eroberung Kabuls und der Installation einer Übergangsregierung mandatierten die UN eine „Internationale Schutztruppe" (ISAF), die seit 2003 unter dem Kommando der NATO steht. Ihr Aktionsradius wurde sukzessive ausgeweitet; seit Ende September 2006 ist sie mit 35.000 Soldaten in ganz Afghanistan vertreten und inzwischen wie die OEF praktisch permanent in schwere Kämpfe verwickelt.

Die Beteiliung deutscher Soldaten an ISAF wurde im Dezember 2001 beschlossen und zunächst auf die afghanische Hauptstadt Kabul begrenzt. Zum 25. Juli waren 3.236 deutsche Soldaten im Rahmen von ISAF im Einsatz, etwa 200 von ihnen im Luftwaffenstützpunkt Termez im benachbarten Usbekistan. Trotz der offiziell gegen das Land wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen verhängten Sanktionen stellt dieser eine entscheidende Logistikdrehscheibe des gesamten NATO-Einsatzes dar.

Die ISAF bezeichnet sich gern als „Friedenseinsatz" und „Stabilisierungsmission". Doch erlaubt ihr Mandat explizit die Bekämpfung „Aufständischer", und als „Aufstand“ bezeichnet der deutsche UN-Sondergesandte für Afghanistan auch den Widerstand gegen die Anwesenheit ausländischer Truppen. Spätestens seit der Süd- und Ostausweitung kämpfen ISAF und OEF also Hand in Hand, die einen gegen „Aufständische", die andere gegen „Terroristen".

Am 9.3.2007 beschloss der Bundestag, bis zu 500 weitere Bundeswehrsoldaten und noch sechs Recce-Aufklärungstornados nach Afghanistan zu entsenden. Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke" erklärte die Bundesregierung, es gehe um „Kenntnis von Aktivitäten, Bewegungsmustern und Aufenthaltsräumen von Kräften, die gegen den Auftrag der ISAF arbeiten". Diese Erkenntnisse würden an die ISAF Zentrale weitergeleitet. Obwohl eine Überleitung von Daten an OEF nur „sehr restriktiv" erfolgen darf, kann Verteidigungsminister Franz-Josef Jung nicht ausschließen, dass sie auch zur Vorbereitung von Kampfeinsätzen im Rahmen der „Operation Enduring Freedom" herangezogen werden: „Ich kann das nicht ausschließen, und ich will es auch nicht ausschließen. Eines muss klar sein: Auch die Terrorismusbekämpfung ist ein zentraler Aspekt." Damit stellt sich Deutschland offen an die Seite der USA und ihres Kreuzzugs gegen den Terrorismus, ein Schritt, der in seiner Tragweite schwer überschätzt werden kann: „Das ist ein Dauerprojekt, da wird man Bestandteil des militärischen Kampfes gegen die Terroristen wie Taliban und Al-Qaida", so der Chef des Bundeswehrverbands Bernhard Gertz.



ISAF bezeichnet sich gern als Friedenseinsatz
Quelle: pixelio | Foto: Norbert Höller


Aufbauunwesen und humanitäre Situation
 
Die NATO gab die Zahl der von ISAF im Laufe des Jahres 2006 getöteten Zivilisten mit 1.000 an; die Dunkelziffer ist erfahrungsgemäß hoch. Die OEF macht keinerlei Angaben zur Zahl der Opfer ihrer Einsätze. Verlässliche Angaben zur Gesamtzahl gibt es nicht. Der britische Guardian kam nach Umfragen bei den Hilfsorganisationen vor Ort bereits im Mai 2002 auf 20.000 bis 50.000 Tote.

Derweil leidet die Bevölkerung an Krankheit und Unterernährung – ein Viertel hat keinen Zugang zu Trinkwasser, nur 10 Prozent zu elektrischem Strom. Die Militärausgaben zwischen 2002 und 2006 betrugen 82,5 Mrd. Dollar, die Entwicklungshilfe belief sich im selben Zeitraum auf jämmerliche 7,3 Mrd. Der Großteil der westlichen Gelder versickert zudem in völlig sinnlosen Projekten. Andere Beträge fließen in sicherheitsrelevante Bereiche; so wird etwa der Aufbau der afghanischen Polizei aus dem deutschen Entwicklungshilfeetat finanziert.

Die westlichen Besatzer haben altbekannte Warlords wieder an die Macht gebracht und tolerieren Korruption und Vetternwirtschaft, auch in Vorzeigeprojekten wie der neu aufgebauten und ausgerüsteten afghanischen Polizei. Folter und Rechtsbeugung sind dort an der Tagesordnung.

2006 diskutierte die internationale Presse die Verstrickung von Vize-Innenminister Mohammed Daoud in den Drogenhandel, für dessen Bekämpfung er qua Amt zuständig wäre. Die Koalitionstruppen gehen aus Gründen politischer Opportunität nicht gegen den Bruder Karzais vor. Lothar Rühl, ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium, erklärte, die westliche Sicherheitspolitik müsse „das Einvernehmen mit den regionalen Machthabern, den Stammesfürsten und Clanchefs, von denen einige auch Drogenbarone und Warlords sind, suchen." Frauenrechte durchzusetzen sei hingegen unrealistisch und der Versuch beschade die Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluss des Afghanistan-Einsatzes.


Frauenrechte durchzusetzen sei unrealistisch
Quelle: pixelio | Foto: Jerzy Sawluk


Wachsender Widerstand und militärische Eskalation

 
Tatsächlich sind die Auseinandersetzungen seit 2006 dramatisch eskaliert. Der Widerstand gegen die Besatzer wächst – ebenso die Unterstützung für diesen Widerstand in der Bevölkerung. Der Grund liegt in der zunehmenden Zahl toter Zivilisten, der fehlenden Entwicklungsperspektive, aber auch in der Arroganz und Ignoranz der Besatzer. Mittlerweile sollen über 50 Prozent der afghanischen Bevölkerung politisch motivierte Selbstmordattentate gegen die Besatzer befürworten. Eine Reduzierung auf Taliban oder Al-Kaida ist in diesem Zusammenhang eine grobe Verkürzung, die der Realität nicht gerecht wird.
 
Deutsche Kriegsinteressen

Als eine Aufgabe der Bundeswehr bezeichnet Lothar Rühl die „Sicherung der westlichen Investitionen in das neue Afghanistan". Im Rahmen der Besatzung wurden Afghanistan hierfür umfangreiche „Wirtschaftsreformen" diktiert und ein „Investitionsschutzabkommen" verabschiedet, das hundertprozentigen Firmenbesitz von Ausländern, Schutz vor Enteignung, Steuerbefreiung in den ersten acht Jahren, Zollreduzierung und hundertprozentigen Gewinntransfer ins Ausland vorsieht.
 
Ein weiteres eher grundsätzliches Interesse der Bundesregierung besteht darin, durch militärisches Engagement mehr Gewicht in den internationalen Beziehungen zu erlangen. Schon vor Langem gab CDU-Vordenker Karl Lamers die Devise aus, dass die „Teilnahme an internationalen Militäraktionen eine notwendige Voraussetzung für deutschen Einfluss in der Weltpolitik" sei. Diese Überlegung bestimmt seit Jahren die deutsche Kriegsbeteiligung wesentlich mit.
 
Zudem wäre der „Krieg gegen den Terror“ im Falle des schnellen Abzugs deutscher Truppen aus Afghanistan zum Scheitern verurteilt. Dies würde die NATO als weltweit agierendes Bündnis auch für künftige Angriffskriege in Frage stellen. Den Erhalt dieser NATO sieht auch Lothar Rühl als zentrales Motiv des deutschen Engagements: vor allem „[d]ie alliierten Seestreitkräfte der NATO sind im deutschen Interesse unersetzlich", denn: "Um die Energiesicherheit und die Sicherheit des Seeverkehrs mit Tankern wie der Überland-Leitungen durch krisengeschütteltes Gebiet zu gewährleisten, bedarf es weiträumig mobiler und flexibler militärischer Kapazitäten, die kriseninterventionsfähig und koalitionsfähig sind." Aus Sicht westlicher Interessenten würde die Pakistan-Route zu einer besseren Risikoverteilung beitragen, „doch dafür braucht man ein stabiles Afghanistan", so zu lesen im Magazin „Europäische Sicherheit".


Wo Deutschland seine Interessen verteidigt
Quelle: pixelio | Foto: Jerzy Sawluk

 
Afghanistan – Prototyp künftiger Kriegseinsätze
 
Um trotz der derzeitigen Eskalation „siegreich" aus dem Krieg hervorzugehen, kommt in Afghanistan erstmals das Konzept der „vernetzten Sicherheit" zur Anwendung, das im Weißbuch der Bundeswehr vom 25.10.2006 als neues sicherheitspolitisches Leitbild propagiert wird: „Staatliches Handeln bei der Sicherheitsvorsorge wird künftig eine noch engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher Instrumente der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung voraussetzen."
 
In Afghanistan operieren diese zivil-militärischen Besatzungstruppen als sogenannte „Regionale Wiederaufbauteams", die, überspitzt formuliert, morgens Nahrungsmittel verteilen, mittags bombardieren und abends ein Krankenhaus aufbauen. Soldaten der Bundeswehr und anderer Armeen benutzen in Afghanistan unter anderem weiße Geländewagen, ein traditionelles Erkennungszeichen ausländischer Hilfsorganisationen. Zivile Akteure verlieren damit ihre politische Neutralität, sie werden für die afghanische Bevölkerung zu einem integralen Bestandteil der Besatzung und damit zu Gegnern – vermehrt fallen Mitarbeiter humanitärer Organisationen Anschlägen zum Opfer.

Tornado-Urteil: endgültiger Abschied vom Grundgesetz

In Deutschland machte das Bundesverfassungsgericht im Juli 2007 endgültig den Weg für eine deutsche Beteiligung an der Umstrukturierung der NATO zu einer globalen Kriegs- und Besatzungstruppe frei. „Bei einem Angriff muss die Verteidigung nicht an der Bündnisgrenze enden, sondern kann auf dem Territorium des Angreifers stattfinden, wobei auch dessen langfristige und stabile Pazifizierung der Sicherung eines dauerhaften Friedens des Bündnisses dient. [...] Krisenreaktionseinsätze können auch unabhängig von einem äußeren Angriff oder ergänzend zur dauerhaften Befriedung eines Angreifers dem Zweck des NATO-Vertrags entsprechen." Damit folgt das Gericht implizit der Aussage Strucks, dass Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird, obwohl sich nach Aussage des deutschen und auch des bayrischen Innenministeriums sowie Einschätzungen aus Geheimdienstkreisen die Terrorgefahr in Deutschland durch das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan erhöht hat. (YH)

Der vollständige Artikel ist zu finden auf der Website der Informationsstelle Militarismus

Claudia Haydt wird am 04. September, 19:30 Uhr, auf dem Kölner Vorbereitungstreffen zur Großdemonstration in Berlin im Projektraum der Alten Feuerwache am Ebertplatz sprechen



Online-Flyer Nr. 110  vom 29.08.2007

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE