NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 04. Dezember 2024  

zurück  
Druckversion

Globales
Zum 40. Jahrestag des Sechstagekrieges und der israelischen Besetzung
„Die israelische Gesellschaft liegt im Koma“
Von Gideon Levy

Der preisgekrönte israelische Journalist und Buchautor Gideon Levy („Schrei, geliebtes Land“, Melzer Verlag 2005) sprach am 7. März d.J. im Studienhaus Beit Josef in Jerusalem über „Israel und die Besetzung.“ Dem Vortrag wohnten neben deutschen Theologiestudenten auch viele Freundinnen und Freunde des Theologischen Studienjahres sowie interessierte Zuhörer aus Jerusalem bei. Gideon Levy war von 1978 bis 1982 Sprecher von Schimon Peres. Seit 1982 schreibt er für die israelische Tageszeitung „Ha’aretz“. Seit 1986 berichtet er Woche für Woche über das palästinensische Leben unter der Besetzung.

Als ich ein kleines Kind war, habe ich mit meinen Eltern und Großeltern deutsch gesprochen. Aber damals kannte ich das Wort Besetzung noch nicht. Und niemand hat mir erklärt, was Besetzung ist. Darum kann ich darüber nicht in Deutsch sprechen. Außerdem habe ich mein Deutsch auch weitgehend verlernt. Deshalb wechsele ich jetzt ins Englische.

Ich bin in Israel geboren. Meine Eltern waren Flüchtlinge, mein Vater stammte aus dem Sudetenland. Er lebte 60 Jahre lang in Israel und fand hier nie seinen Platz. Für mich war er das erste Beispiel eines Flüchtlings. Ich weiß nicht, wie sehr das meine Karriere und die Wege, die ich eingeschlagen habe, beeinflusst hat. Tatsache ist, dass ich in einem Haus aufwuchs, in dem der Vater der Familie entwurzelt worden war oder sich selbst entwurzelt hatte, von seinem Ort, seiner Kultur und Sprache.

 
Durch all die Jahre habe ich immer gedacht: Da gibt es Ähnlichkeiten und Unterschiede, zwischen meinem Vater, dem Flüchtling, und den palästinensischen Flüchtlingen. Auf der einen Seite musste mein Vater seine Kultur verlassen und gewöhnte sich hier nie vollständig ein. So blieb er 60 Jahre lang ein Flüchtling. Aber er hatte das Privileg, in einem freien Land zu leben, in einer Demokratie, in einem Land, das sein Land sein sollte, das Land seines Volkes. Auf der anderen Seite konnten die palästinensischen Flüchtlinge in ihrer Kultur, in ihrem Kulturkreis, in ihrer Umgebung bleiben. Aber ihr Schicksal ist auf vielerlei Weise viel brutaler und unmenschlicher. Ich wurde 1953 in Tel Aviv geboren und hatte eine schwierige israelische Kindheit. Ich wurde im israelischen Bildungssystem erzogen, das uns vielerlei Wahrheiten beibrachte, aber auch viele Lügen. Vieles wurde unter den Teppich gekehrt. Ich spreche über die 50er und 60er Jahre. Uns wurde beigebracht, dass ein Volk ohne Land in ein Land ohne Volk gekommen war; dass das jüdische Volk seinen Platz gefunden hatte; dass die Araber, die hier gelebt hatten, freiwillig oder aufgrund der Entscheidungen ihrer Führer weggelaufen waren. Ich wurde in dem Glauben erzogen, dass Israel der gerechteste Platz auf der Welt und das israelische, das jüdische Volk das auserwählte ist.
 
Ich wurde erzogen zu glauben, dass das Einzige, was Israel will, Frieden mit seinen Nachbarn sei, und dass das einzige Hindernis dabei die grausamen, unmenschlichen Nachbarn seien, vor allem die Araber, die uns umgeben. Ich wurde auch dahingehend unterrichtet zu glauben, dass David gegen Goliath stehe und Israel natürlich der David sei, der von 220 Millionen Arabern umzingelt werde, die uns nur zerstören wollten. Doch David besiegte Goliath noch einmal und gewann einen Krieg nach dem anderen. Ich wurde auch erzogen zu glauben, dass alle Kriege im Nahen Osten, wirklich alle, Israel aufgezwungen worden seien. Israel, das unschuldige, naive, friedenssuchende Land – während die Araber nur danach trachteten, uns zu zerstören und ins Meer zu werfen. Die meisten Israelis meiner Generation wurden in diesem Geiste erzogen.

Ich wurde 1953 geboren, fünf Jahre nach der Staatsgründung und acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war eine sehr junge Gesellschaft, mit vielen Überlebenden des Holocaust und vielen sozialen Problemen. Und ich glaube wirklich, dass diese 50er und 60er Jahre kein guter Zeitpunkt waren, sich all diesen Problemen zu stellen, also in den Spiegel zu schauen und sich das Gesicht wirklich anzuschauen, das da in den Spiegel blickte. Ich nehme an, wir mussten etwas Neues aufbauen. Es war keine Zeit für den Luxus moralischer Überlegungen. Der Staat musste gegründet und aufgebaut werden. Ungerechtigkeit musste begangen werden – das bin ich bereit zu glauben.
 

In ein oder zwei Jahren ist die Besatzung vorbei ...
Foto: Martina Schwarz


Aber wir leben jetzt im Jahre 2007. Vor zwei Jahren, feierte die israelische Besetzung ihr 38jähriges Bestehen. Das bedeutet, dass vor zwei Jahren der Staat Israel zweimal länger mit Besetzung existierte als ohne. 19 Jahre zwischen 1948 und 1967 und 38 Jahre von 1967 bis 2005. Warum erwähne ich das?

Es gibt immer noch eine Tendenz in der Welt und unter Israelis, die Besetzung als etwas Vorübergehendes zu betrachten. Nach dem Motto: In ein, zwei Jahren wird sie vorbei sein. Aber niemand kann diese Behauptung länger ernst nehmen. Denn wenn der Staat doppelt so viele Jahre mit der Besetzung existiert wie ohne, dann wird diese zur Normalität, und jene Jahre ohne die Besetzung waren die Ausnahme, geschichtlich gesehen.

Niemand kann außerdem behaupten, dass diese Besetzung vor ihrem Ende stehe. Ich habe mich sehr gefreut, als ich hörte, dass Sie in den besetzten Gebieten gewesen sind. Sie haben gesehen, was dort geschieht. Sie haben gesehen, dass dieses winzig kleine Land bereits zerteilt und auseinandergerissen ist. Wenn man heutzutage darüber spricht, die Gebiete zurückzugeben, dann heißt das, eine viertel Million Juden zu evakuieren. Ich sage nicht, dass dies unmöglich ist. Aber Sie müssen berücksichtigen, dass vor Ort viele Tatsachen geschaffen worden sind, allen voran die Trennmauer. Heute gibt es eine neue Wirklichkeit. Leider schenken ihr die meisten Israelis keine Beachtung. Ich bin sicher, dass Sie in den wenigen Monaten, die Sie hier leben, mehr gesehen haben von den besetzten Gebieten als der Durchschnittsisraeli. Ja, ich kann Ihnen versichern, dass Sie viel mehr über die Besetzung wissen als jeder Durchschnittsisraeli. Sie waren in Hebron, wo 99 Prozent der Israelis in Ihrem Alter noch nie gewesen sind. Meine Generation ist dorthin gefahren, aber die junge Generation fährt dort nicht hin, es sei denn, man ist Siedler oder ein orthodoxer Jude oder ein Extremist, ein Rechter. Der Durchschnittsisraeli war nie im Leben dort und hat keine Ahnung, was sich dort abspielt. Diese – und hier muss ich das schärfste Wort verwenden – ethnische Säuberung, die Sie in Hebron gesehen haben, die leeren Häuser, die leeren Geschäfte, die 25 000 Menschen dort – die meisten Israelis wissen darüber nichts, haben noch nie davon gehört. Und sie wollen davon nichts wissen. Denn Israelis ziehen ab einem gewissen Punkt einen Vorhang vor, einen eisernen Vorhang – zwischen dem, was im dunklen Hinterhof Israels vor sich geht, und dem, was in Israel selbst geschieht.
 
Die Besetzung – das Problem Nummer Eins

Israel ist, wie Sie wissen, eine wirkliche, liberale Demokratie, sehr westlich, sehr frei, ziemlich weltlich. Aber ich behaupte immer, dass man nicht halbdemokratisch sein kann. Man kann keine Demokratie von einer Gebietsgrenze bis zu einer anderen sein und dann sagen: Ich bin eine Demokratie bis dorthin, und jenseits der Linie existiert eine der brutalsten   militärischen Besetzungen, die es in der heutigen Welt gibt. Man kann auch nicht behaupten, dass man nur für ein Volk demokratisch ist, das jüdische nämlich, und die arabischen Bürger diskriminiert und die Palästinenser nicht wie Menschen behandelt. Das passt nicht zusammen. So unglücklich, wie der Vergleich nun einmal ist: Man kann nicht halbschwanger sein. Entweder man ist es oder nicht. Das Gleiche gilt für die Demokratie. Entweder bist Du demokratisch oder nicht. Zu behaupten, dass Israel heutzutage die einzige Demokratie im Nahen Osten ist, ist deshalb sehr problematisch. Dabei bin ich sehr stolz auf die israelische Demokratie. Schließlich bin ich selbst der beste Beleg dafür. Ich bin nicht sicher, ob Journalisten, die Meinungen vertreten und Geschichten erzählen, wie ich es tue, sich in anderen Ländern, einschließlich westlicher, solch einer Freiheit erfreuen können wie ich hier in Israel.
 
Das Projekt, das ich vor über 20 Jahren begonnen habe, besteht darin, die israelische Besetzung zu dokumentieren – mit all ihrer Brutalität und Unmenschlichkeit, mit all dem Töten und all der Demütigung, Dämonisierung und Entmenschlichung der Palästinenser. Es ist etwas, worüber die meisten Leser nichts lesen wollen und was die meisten Verleger nicht verlegen möchten. Die Regierung, das Militär, die Armee sind ganz sicher nicht daran interessiert. Wer will das schon wissen? Von einem moralischen Standpunkt aus ist es nicht leicht zu verdauen, dass in Deinem Namen als Israeli, der Du glaubst, Du seist Teil der freien Welt, eine halbe Stunde von Deinem Zuhause diese schrecklichen Gräueltaten geschehen. Diese schreckliche Ungerechtigkeit.


Und Deine Söhne und Töchter dienen in der Armee
Quelle: www.activestills.org


Und Deine Söhne und Töchter dienen in der Armee, von der Du glaubst, sie sei die liberalste, menschlichste Armee der Welt, die Armee des Volkes. Sie trägt den Namen IDF – die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Sie ist da, nur um Israel zu verteidigen. Sie ist selbstverständlich keine Besatzungsmacht, verfügt über keine Todeseinheiten und führt keine dreckigen Jobs aus. Wer will wissen, dass all das nicht ganz so wahr ist, wenn es um die besetzten Gebiete geht? Die Menschen in Israel wissen das nicht. Die israelische Gesellschaft wurde sehr gleichgültig, vor allem seit dem Jahr 2000. Nach dem Scheitern von „Camp David II“, nachdem Premier Ehud Barak nach Israel zurückkehrte und erfolgreich die Lüge verbreitete, es gebe keinen palästinensischen Partner, und nachdem die Busse in den Straßen von Tel Aviv, Haifa und Jerusalem explodierten, lösten sich die Israelis ganz und gar von allem, was mit der Besetzung zu tun hatte. Sie lösten sich selbst von jeglicher Verantwortung und Sorge, von Interesse und Neugierde an dem, was in den Gebieten geschieht. Das ist sehr traurig. Denn die Menschen wissen so wenig, und sie wollen so wenig von dem wissen, was meiner Meinung nach der wichtigste Bestandteil der israelischen Politik ist. Die Besetzung ist heutzutage das Problem Nummer Eins nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für die Israelis. Und dieses Problem wird nicht mehr diskutiert, es ist unter den Teppich gekehrt. Das ist eine sehr schlechte Nachricht für die Zukunft. Und es gibt noch andere schlechte Nachrichten.
 
Bis vor zehn Jahren haben sich Israelis und Palästinenser immerhin getroffen, wenn auch nicht auf gleicher Augenhöhe. Die Palästinenser kamen nach Israel, um die Straßen zu kehren, um als Bauarbeiter Häuser zu bauen, auf den Feldern zu arbeiten oder in den Restaurants Geschirr zu spülen. Sie kamen herüber und etwas geschah zwischen den beiden Völkern. Sie trafen sich, und es entstanden soziale Beziehungen und Freundschaft. Es war normal, oder sagen wir halb normal. In den letzten zehn Jahren wurden die beiden Völker jedoch vollkommen getrennt.

Ein junger Durchschnittspalästinenser hat heute noch nie einen Israeli gesehen, der kein bewaffneter Soldat ist, der ihn nicht anbellt und mit ihm spricht, als sei er kein Mensch, der ihn nicht bedroht und demütigt. Und kein junger Israeli hat jemals einen Palästinenser gesehen, der kein Selbstmordattentäter oder Terrorist war. Diese Trennung zwischen den beiden Völkern, und vor allem der jungen Generation auf beiden Seiten, ist die nächste schlechte Nachricht. Denn beide Völker tragen nun verdrehte und ausschließlich negative Bilder des Gegenübers in sich. Nicht alle Israelis sind brutale Soldaten, aber die Palästinenser kennen sonst niemanden. Und nicht alle Palästinenser sind, wie wir wissen, Terroristen, Selbstmordattentäter, gewalttätige Menschen. Aber diese Bilder können nun nicht von der einen auf die andere Seite gelangen. Es gibt keinen Treffpunkt.


Bilder an der Grenze
Quelle: www.activestills.org


In der Vergangenheit ging der Witz so: zwei Israelis, drei Ansichten. Heute haben drei Israelis eine Meinung. Sie müssen wissen, dass der eigentliche Traum, die eigentliche Vision jedes Israeli – egal ob Linker oder Rechter – der ist, keine Palästinenser vor Augen zu sehen. Etwas wird geschehen, ein Wunder oder eine Katastrophe, und dazu beitragen, damit diese Menschen aus unseren Augen verschwinden. Deshalb hat Israel die Trennmauer gebaut, um sich so weit wie möglich zu trennen. Wenn Sie die Straße 443 von Tel Aviv nach Jerusalem nehmen, oder wenn Sie in das Wohnviertel von Gilo gehen, dann sehen Sie diese surrealen Mauern, auf die russische Neueinwanderer Bäume, Berge und Pflanzen gemalt haben, um die palästinensischen Dörfer dahinter zu verstecken. Wenige Meter hinter der Mauer liegt ein palästinensisches Dorf. Aber wer will schon ein palästinensisches Dorf sehen, und wer will wissen, dass sie dort sind?

Diese systematische Anstrengung, sich zu trennen, und dieser versteckte Traum, dass sie, die Palästinenser, eines Tages nicht mehr hier sind – das ist die tatsächliche Vision der meisten Israelis. Sie würden es sogar teilweise zugeben. Aber es ist ohnehin klar, denn niemand in Israel spricht noch über Frieden. Niemand. Wenn Sie nach dem Wort Frieden in den israelischen Medien der letzten zehn Jahre suchen und das Ergebnis mit den zehn Jahren davor vergleichen, dann werden Sie sehen, dass es ein sehr seltenes Wort geworden ist. Es wird kaum benutzt. Niemand nimmt es ernst. Sehr wenige Israelis glauben, dass es Frieden geben kann. Und sehr wenige Israelis wollen Frieden mit den Palästinensern.

Die systematische Entmenschlichung und Dämonisierung der Palästinenser
 
Es gibt jedoch noch einen anderen Faktor: Das ist der systematische Prozess der Entmenschlichung und Dämonisierung der Palästinenser durch die Israelis. Ich habe Jahre gebraucht, um das zu verstehen. In den besetzten Gebieten, an den Kontrollpunkten, in den Flüchtlingslagern habe ich bei den israelischen Soldaten die Brutalität gesehen. Ich weiß, dass nicht alle Israelis so brutal sind. Ein Teil von ihnen sind Sadisten, Faschisten, Nationalisten, Rassisten, aber nicht alle, nicht einmal die Mehrheit. Ein Teil von ihnen ist in einer ganz anderen Umgebung aufgewachsen – gut gebildet, mit Werten und Moral. Sie nehmen an einer humanitären Rettungsaktion in der Türkei oder Mexiko teil, und sie werden einer alten Frau beim Überqueren der Straße helfen, selbst wenn sie nicht will, sie sind wirklich keine Ungeheuer. Was aber geschieht mit ihnen, wenn sie zur Armee gehen und die „Grüne Linie“ zu den besetzten Gebieten überqueren, um dort zu dienen?

Als ich einmal am Kalandia-Kontrollpunkt stand (nicht dem heutigen, sondern dem früheren), beobachtete ich einen Soldaten, wie er Menschen dirigierte und sie dabei anbrüllte, wie Soldaten das gewöhnlich tun. Der Kontrollpunkt sah damals aus wie ein Müllplatz: Schmutz, Schlamm, Sand, keine einzige Straße, kein Dach, um die Menschen vor Sonne oder Regen zu schützen. Die Menschen standen dort stundenlang, keine Toiletten, keine Wasserleitung. Nichts. Und urplötzlich verstand ich: Diesen Soldaten wurde beigebracht, das all die Werte, die sie in sich tragen, sehr wichtig sind. Aber sie müssen davon nur Gebrauch machen, wenn es sich um Menschen handelt.
 
Bei den Palästinensern ist das etwas anderes. Sie sind nicht richtige Menschen. Sie brauchen kein Dach als Sonnen- oder Regenschutz, sie brauchen sicher keine Toiletten, sie können einen Kontrollpunkt überqueren, der wie ein Müllplatz aussieht. Dann begriff ich – und das ist meine Erklärung – wie diese jungen Leute sich umstellen können, wenn sie zum Armeedienst gehen und die Palästinenser behandeln, wie sie es nun mal tun, da man sie glauben machte, die Palästinenser sind keine menschlichen Wesen wie wir. Einmal schrieb ich, dass wir sie wie Tiere behandeln. Dann erhielt ich einen Brief von einer Tierschutzorganisation, dass selbst die Tiere bessere Behandlung verdienten. Seitdem benutze ich das Wort Tier nicht mehr.
 
Was entscheidend ist: Die meisten Israelis sehen die Palästinenser nicht als gleichwertige menschliche Wesen. Man sieht wirklich Dinge an Kontrollpunkten, für die man Zeit braucht, um sie zu glauben. Es gibt natürlich Furcht, es gibt Gefahren, aber ich akzeptiere nicht, was Israelis gewöhnlich denken: dass die Soldaten nur aus Furcht so brutal sind und oft auch so grausam. Ich erinnere mich, wie einmal eine alte Frau einen Kontrollpunkt überqueren wollte. Sie sagte mir, sie müsse zum Krankenhaus gehen. Und sie hatte einige Röntgenbilder dabei. Da nahm der Soldat die Bilder und untersuchte sie. Ein Soldat von 19 Jahren untersuchte die Bilder, um zu sehen, ob sie wirklich krank war und das Recht hat, den Kontrollpunkt zu überqueren. Ich bin Israeli. Ich muss nicht nur an das Schicksal der alten Frau denken, die gedemütigt wird, ich muss auch an die Zukunft dieses Soldaten denken, der im Alter von 19 Jahren denkt, er sei der König der Welt. Und das ist er. Der über die Schicksale von Menschen einfach so entscheiden kann: ob der Einzelne durch darf oder nicht.


Was wird aus einem jungen Mann, der am Checkpoint arbeitet?
Foto: Antonio Gonzalez


Was wird aus einem jungen Mann von 18 oder 19 Jahren werden, der drei Wochen an einem Kontrollpunkt in einem Dorf bei Kalkilia zubrachte? Das ist ein Dorf, das jede Nacht zwischen 22 Uhr und 6 Uhr mit einem Schlüssel zugesperrt wird und niemand kann heraus, niemand hinein. Es gab einen Autounfall im Dorf, ein Mann wurde ernsthaft verletzt, und sie brachten ihn in einem Wagen zum Kontrollpunkt. Auch hier konnte der Soldat willkürlich über Leben und Tod anderer entscheiden. Und ich erinnere mich an eine meiner ersten Geschichten. Es war 1989, damals gab es noch keine Mauer und keine massiven Kontrollpunkte, wie wir sie heute haben. Es war eine Beduinin von Nabi Samuel, nicht weit von hier. Sie stand kurz vor der Niederkunft. Mitten in der Nacht kommt sie mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter an einen Kontrollpunkt. Dort lässt man sie nicht durch. Sie probieren es an einem anderen Kontrollpunkt. Wieder darf sie den Übergang nicht passieren. Sie fahren zu einem dritten Kontrollpunkt, so erzählte sie es mir später in ihrem Zelt, und wieder darf sie nicht auf die andere Seite. Am Ende entbindet sie mit der Hilfe ihrer Schwiegermutter am Kontrollpunkt. Dann bittet sie den Soldaten, wenigstens das Baby in ein Krankenhaus bringen zu dürfen. Das Ganze spielte sich dreieinhalb Kilometer vom Jerusalemer Augusta-Victoria-Krankenhaus ab. Die Soldaten lassen es nicht zu. So läuft sie in einer stürmischen und kalten Nacht die dreieinhalb Kilometer zu Fuß. Als sie im Krankenhaus ankommt, ist das Neugeborene tot. Das war 1989. Ich schrieb darüber, und der Artikel hatte einen großen Skandal in Israel zur Folge. Drei Offiziere wurden verurteilt. Dieser Vorfall wurde auch in einer Kabinettsitzung diskutiert. Es war ein Thema.
 
Wenn ich heute daran zurückdenke, geht mir der lange Weg durch den Kopf, den die israelische Gesellschaft seit damals zurückgelegt hat. Bis heute, fast 20 Jahre später, habe ich mehrfach ähnliche Geschichten veröffentlicht, über Frauen, die ihre Babys an Kontrollpunkten verloren. Ich allein weiß von mindestens fünf solcher Fälle. Doch niemand hat es gekümmert. Meiner Meinung nach ist das eine schlechte Nachricht, auch für die israelische Gesellschaft. Ich sage immer: Wenn Du ein Kind hast, und es schreit, dann solltest Du Dir keine allzu großen Sorgen machen. Du solltest aber alarmiert sein, wenn ein Baby apathisch wird, wenn es starrt und nicht reagiert. Dann solltest Du für gewöhnlich schnellstens die Intensivstation aufsuchen, denn das ist ein schlechtes Zeichen bei einem Baby. Ich denke, die israelische Gesellschaft hat aufgehört zu schreien. Sie ist im Koma, in einem Zustand der Apathie, der Gleichgültigkeit, der moralischen Gleichgültigkeit.


Alltag im besetzen Hebron
Foto: Martina Schwarz


Die Ursachen des Terrors
 
Ich bin sehr offen mit Ihnen: Ich sehe keinen Ausweg. Israel mangelt es an jeglicher Führung, die mutige Schritte gehen könnte. Und leider gibt es in Washington keinen hingebungsvollen amerikanischen Präsidenten, der der Besetzung ein Ende setzen wird, die die einzige Besetzung einer Demokratie ist – außer der amerikanischen Besetzung des Irak. Es wird auch in Zukunft vermutlich keinen solchen Präsidenten geben. Dabei könnte der amerikanische Präsident die Besetzung beenden. Europa, Ihr Europa, ist dagegen nicht einflussreich genug, sie zu beenden, und hat eigene Schwierigkeiten.

Die Israelis können sich nicht selbst helfen und sich nicht vor dem Schicksal schützen, Besatzer über so viele Jahre zu sein. Die Welt ist gleichgültig und wird immer gleichgültiger, sie ist dieser langen Auseinandersetzung überdrüssig und spricht immer weniger über Palästinenser und Israelis. Es gab einmal einen amerikanischen Außenminister, nämlich James Baker, der diesen unvergesslichen Satz geäußert hat: „Lasst sie bluten.“ Und der größte Teil der Welt denkt heute so: Wir haben es versucht, hatten aber keinen Erfolg. Es ist unmöglich, aus dieser Lage herauszukommen. Deshalb lasst sie bluten.

Dieses „Lasst sie bluten“ ist weniger fatal für Europa und die Vereinigten Staaten (obwohl ich denke, dass es auch viele Folgen im Westen hat) als für uns Israelis. Für uns ist es wirklich eine entsetzliche Nachricht. Denn ich glaube wirklich, dass, sollte die Besetzung fortbestehen, Israel mehr und mehr zu einem noch ungerechteren und unmoralischeren Ort wird. Israel ist ein Ort mit vielen moralischen Problemen. Und die Vergangenheit, die Deutsche und andere Europäer lähmt und von Kritik an Israel abhält, wird immer weiter wegrücken. Israel wird der am meisten kritisierte und am meisten diskutierte Ort in der Welt werden, ja, ist es jetzt schon, egal, ob es dafür gute Gründe gibt oder nicht. Letzte Woche sah ich eine Umfrage, die Israel als das gefährlichste Land in der Welt ermittelte – noch vor dem Iran, noch vor den Vereinigten Staaten. Ich will hier nicht diskutieren, ob Israel den ersten oder den dritten Platz oder den fünften verdient. Aber ich glaube nicht, dass Terror aus dem Nichts entsteht. Ich glaube nicht, dass die Palästinenser zum Töten geboren sind.
 
Niemand ist das. Terror hat Gründe und Wurzeln. Und er hat Ausreden und Vorwände. Die israelische Besetzung ist heutzutage ein Hauptvorwand für viele Terrororganisationen und der Hauptgrund für den palästinensischen Terrorismus.

Israelische Straßensperre im besetzten Hebron
Foto: Martina Schwarz


Ich interviewte einmal Ehud Barak, den früheren israelischen Premierminister, als er noch keiner war. Er wurde in Israel als einer der größten Kämpfer angesehen, die das Land je hatte. Er war in den besten Truppen und führte die waghalsigsten Kommandos aus. „Was täten Sie, wären Sie, General Barak, als Palästinenser geboren?“, fragte ich ihn. Er antwortete mir mit der ehrlichsten und mutigsten Antwort, die er geben konnte: „Wäre ich als Palästinenser geboren, würde ich mich einer Terrororganisation anschließen.“ Das verursachte einen Skandal in Israel. Ich schätzte seine Antwort. Denn was sonst hätte er sein können? Ein Kollaborateur mit Israel? Ein Pianist?

Die Palästinenser haben keine Armee. Sie verfügen über keine Luftwaffe. Sie haben nicht die besten Waffen in der Welt. Deshalb greifen sie zu den Waffen der Schwachen, das heißt: Terror. Es ist unmenschlich. Es ist sehr grausam. Es tötet unschuldige Zivilisten. Aber gibt es wirklich einen Unterschied zwischen einem Selbstmordattentäter, der sich in den Straßen von Tel Aviv tötet, und einem Pilot, der eine Bombe von einer Tonne Gewicht auf ein Wohnviertel von Zivilisten in Gaza abwirft? Wenn es einen Unterschied gibt, was für einer ist es? Einer moralischer Art? Oder welcher Art? Ich bin sicher, der Selbstmordattentäter in Tel Aviv würde es vorziehen, in einer F-16 zu sitzen und nur einen Knopf zu drücken. Da bin ich mir sicher. Ich rechtfertige auf keinen Fall Terror, aber ich kann die Motivation verstehen, ich kann diese furchtbare Situation verstehen, in der Menschen bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern. Wie hoffnungslos muss es sein, wenn sie bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern, das Wertvollste, was sie haben? Denn sie haben nichts zu verlieren. Was opfert heutzutage ein palästinensischer Jugendlicher von 18, 19 oder 20 Jahren, wenn er sagt, er wird Selbstmord begehen? Was? Welche Zukunft hat er? Welche Gegenwart hat er? Welche Vergangenheit? In einem Flüchtlingslager aufzuwachsen, in einem Ort eingeschlossen zu sein, gedemütigt zu werden Tag für Tag an den Kontrollpunkten, ohne Arbeit, ohne Karriere, nichts, auf das man sich freuen könnte. Was kann man ihm anbieten, um etwas Sinnvolles zu tun? Sich einer Terrorgruppe anzuschließen und für etwas zu kämpfen, das in ihren Augen eine sehr gerechte Sache ist. Und es ist eine gerechte Sache. Sie verdienen einen Staat. Sie verdienen all das, was jeder Israeli verdient.

 „Wir sind alle Kontrollpunkt-Soldaten“
 
Das, was ich Ihnen heute erzähle, ist für israelische Ohren nicht sehr angenehm, um es milde zu sagen. Es ist nicht das, was Israelis gerne hören würden. Immer wenn ich im Fernsehen oder im Radio erscheine oder meine Artikel schreibe – und all das tue ich, so oft es mir möglich ist –, versuche ich, zweierlei zu tun: Zum einen versuche ich, jeden Israeli dazu zu bewegen, sich nur für eine Minute in einen Palästinenser hineinzuversetzen, um zu sehen, was er dann tun würde.

Als ich vom Flüchtlingslager in Dschenin zurückreiste, kam ich mit meinem Wagen an einen Kontrollpunkt. Diesen gibt es heute nicht mehr. Ich hielt vor dem Kontrollpunkt hinter einem Krankenwagen mit Blaulicht.
 
Ich wartete. 15 Minuten. Eine halbe Stunde. Eine dreiviertel Stunde. Ich sah die Soldaten in einem Zelt sitzen und Backgammon spielen. Nach einer dreiviertel Stunde hielt ich es nicht mehr aus. Ich stieg aus. Dann ging ich zum Fahrer des palästinensischen Krankenwagens und fragte ih n, was los sei. „Das ist Routine“, antwortete er. „Sie lassen uns warten, sie stellen uns für eine Stunde auf die Probe, bis sie uns kriegen“, sagte er. Ich flippte wirklich aus. Dann ging ich zu den Soldaten. Und es entstand ein Streit zwischen uns. Einer richtete sein Gewehr auf mich. Das ist aber nicht wichtig. Was wichtig ist, war meine Frage: „Was wäre, wenn Euer Vater oder Eure Mutter da in diesem Krankenwagen liegen würde? Und was würde geschehen, wenn Euer Vater oder Eure Mutter in diesem Krankenwagen sterben würde, weil irgendein Soldat die Fahrt zum Krankenhaus verhindert? Was hättet Ihr getan? Welche Erinnerungen würdet Ihr mit Euch tragen?“ Sie hatten keine Ahnung, wer im Krankenwagen transportiert wurde, da sie sich ihm gar nicht genähert hatten. Sie hatten keine Ahnung und kein Interesse daran. Denn es handelte sich um Palästinenser.

Deshalb ist mein erstes Ziel, so viele Israelis wie nur möglich dazu zu bewegen, sich in die Palästinenser hineinzuversetzen. Das ist fast unmöglich, da die Entmenschlichung so tief geht, dass die Israelis sich nicht in einen Palästinenser hineinversetzen können.



Die Palästinenser werden sich von der Besetzung leichter erholen als wir Israelis. – Foto: Martina Schwarz

Mein zweites Ziel, so bescheiden es auch ist, besteht darin, so viele Israelis wie nur möglich daran zu hindern, eines Tages zu behaupten, dass sie nichts gewusst hätten. Das ist eine Behauptung, die für viele Israelis vertraut klingt – wegen der Vergangenheit. Als Behauptung anderer, dass sie nichts gewusst hätten. Israelis und Juden schöpfen immer Verdacht, wenn jemand sagt, er habe nichts gewusst. Und mir kommt es verdächtig vor, wenn Israelis sagen, sie wüssten nichts. Sie sind heute wirklich sehr abgeschirmt und können das behaupten. Sie wissen, dass etwas falsch läuft, nur eine halbe Stunde von ihren Häusern entfernt. Was genau dort geschieht, wissen sie nicht. Das ist die Hauptaufgabe von uns israelischen Journalisten, oder wenigstens einem Teil von uns: den Luxus zu verhindern, dass die Israelis behaupten können, sie wüssten nichts. Ich bin mir sicher, dass wir eines Tages danach gefragt werden, wenn nicht heute, dann in fünf oder zehn Jahren. Kinder werden ihre Eltern fragen: „Wo warst du damals? Was hast du getan? Was hast du gewusst?“ Ich bin sicher, dieser Augenblick wird kommen. Wann immer dieser Moment eintritt – es wird der einzige Moment sein, da bin ich sicher, in dem Israel aus dieser Krise herauskommt. Dann wird es eine wirkliche Chance für Frieden geben. Solange dieser Augenblick nicht kommt, und er ist noch weit entfernt, solange Israelis nichts wissen wollen und ihnen alles egal ist, ist Israel in großen Schwierigkeiten. Bis dieser Tag kommt.

 
Ich habe einmal einen Artikel geschrieben: „Wir sind alle Kontrollpunkt-Soldaten.“ Die Verantwortung liegt bei allen Israelis. Bei denen, die schweigen, bei denen, die dort Armeedienst tun, bei denen, die nichts wissen und bei denen, die nichts wissen wollen. Auf lange Sicht werden sich die Palästinenser von der Besetzung viel leichter erholen als wir Israelis, die Besatzer. (YH)

Der Beitrag stammt aus der Juni-Ausgabe der renommierten politischen Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik"  www.blaetter.de

Zum Weiterlesen empfehlen wir: „Palästina begeht Selbstmord" von Roni Ben Efrat in dieser Ausgabe der NRhZ


Online-Flyer Nr. 104  vom 18.07.2007

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE