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Aktueller Online-Flyer vom 19. August 2025  

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Globales
Carl-von-Ossietzky-Medaille für zwei Lehrerinnen
"Nachahmung dringend empfohlen"
Von Percy MacLean

Am Wochenende hat die Internationale Liga für Menschenrechte, die nicht nur die klassisch-bürgerlichen, sondern auch die sozialen Menschenrechte einklagt, auf die soziale Kälte in unserer Gesellschaft und den fortschreitenden Abbau des Sozialstaates aufmerksam gemacht. Sie verlieh den Berliner Lehrerinnen Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat für ihr entschlossenes und mutiges Handeln, durch das sie die Abschiebung einer 13jährigen Schülerin nach Bosnien verhindern konnten, die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Gleichzeitig wurde das christliche Kinder- und Jugendwerk "Die Arche" für sein Engagement zur Bekämpfung der Armut von Kindern und Jugendlichen in sozial benachteiligten Berliner Stadtteilen geehrt. Wir veröffentlichen Teile der Laudatio von Verwaltungsrichter Percy MacLean, der die Medaille 2004 erhalten hat.

"Sehr geehrte, liebe Frau Niesen-Bolm und Frau Wannagat,

Sie Beide haben etwas getan, was vorbildlich ist und zahlreiche Menschen zur Nachahmung anregen sollte: In einem ganz konkreten Fall, der sich in Ihrem Schulalltag ereignet hat, sind Sie aktiv geworden und haben sich gemeinsam mit den Ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern der 8. Klasse erfolgreich gegen ein behördliches Handeln, das Ihnen als Unrecht erschien, engagiert.

13-Jährige von Polizisten aus dem Unterricht geholt

Was war geschehen? Am 10. August 2004 gegen 11.00 Uhr wurde die damals 13-jährige Tanja Ristic, Schülerin Ihrer 8. Klasse in der Fritz-Karsen-Schule, für sie völlig unerwartet von zwei Polizeibeamten aus dem Unterricht abgeholt, um die Abschiebung mit ihren inzwischen ebenfalls verhafteten Eltern und der 16-jährigen, in Ausbildung befindlichen Schwester Sanja nach Bosnien vorzubereiten. Im Jahr 1995 hatte die gemischt ethnische Familie (Vater Serbe, Mutter Kroatin) in Deutschland Zuflucht vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat gesucht, wo sich orthodoxe Serben, katholische Kroaten und muslimische Bosniaken gegenseitig niedermetzelten. Bis zum 13. Juli 2004 erhielt die Familie so genannte Duldungen, und als sie zur erneuten Verlängerung vorsprachen, passierte das, was Sie Beide auf den Plan rief: Der Vater und die ältere Tochter werden abgeschoben, während es der Mutter und Sanja nach einer dramatischen Nacht im Polizeigewahrsam gelingt, durch eine Asylantrag Aufschub zu erzwingen.

Ich muss zugeben, dass sich selbst mir als erfahrenem Verwaltungsrichter, der ständig mit Klagen von Bürgerkriegsflüchtlingen befasst ist, nicht recht erschließt, wie es zu dieser Aktion der Ausländerbehörde kommen konnte. Nach den mir vorliegenden Unterlagen leidet die Mutter nach dem mehrfachen Anblick von im Krieg zerfetzten Körpern an einer posttraumatischen Belastungsstörung und war deshalb bereits seit März 1996 in fachärztlicher Behandlung. Schon daraus folgte nach der damaligen Behördenpraxis ein Anspruch der gesamten Familie auf eine zwölfmonatige Duldung. Ein entsprechender Antrag wurde von der in dieser Materie sehr kompetenten Rechtsanwältin der Familie noch am 8. Juni 2004 gestellt, und am 14. Juni erfolgte die Verlängerung der Duldung, wenngleich nur für einen Monat...

Carl von Ossietzky - Friedensnobelpreisträger und Pazifist
Carl von Ossietzky -
Friedensnobelpreisträger und Pazifist

Foto: ilmr


Solidarität in der Bevölkerung ausgelöst

Sie, die beiden heutigen Preisträgerinnen, haben sich empört gegen das Auseinanderreißen der Familie und in Zusammenarbeit mit den Fachleuten des Berliner Flüchtlingsrates, den Sie alarmiert hatten, durch zahlreiche offene Briefe an Entscheidungsträger und sonstige öffentlichkeitswirksame Aktionen sowie durch konkrete materielle Unterstützung der Familie (z.B. für das Fachgutachten einer Trauma-Expertin) eine eindrucksvolle Woge von Solidarität in der Bevölkerung ausgelöst. Ihre Klasse hat dafür den 1. Preis des von der GEW und dem Türkischen Elternverein gegründeten Mete-Eksi-Fonds 2004 erhalten, und die Jury des von der Theodor-Heuss-Stiftung und der Akademie für Bildungsreform getragenen Förderprogramms "Demokratisch Handeln" hat Ihrem Beitrag "Tanja muss bleiben" im Juni 2005 ihre besondere Anerkennung ausgesprochen. Das Grips-Theater, das ebenfalls zu den Trägern der Carl-von-Ossietzky-Medaille gehört, hat aus dem Stoff sogar ein eigenes Stück geschaffen mit dem Titel: "Hier geblieben!"...

Umgang mit Flüchtlingen grundlegend verändern

Vielen Menschen in unserer Stadt ist durch all diese Aktionen und das unterstützende Medien-Echo erstmals bewusst geworden, dass sich am Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland grundlegend etwas ändern muss. Aber eines freut mich ganz besonders: Selbst in der Politik hat ein Umdenken begonnen. So hatte der Berliner Innensenator, selbst Vater mehrerer Kinder, gemäß einem entsprechenden Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses vom 3. Juni 2004 bereits in der ersten Hälfte diesen Jahres - sogar im Einvernehmen mit dem Bundesinnenminister - seinen Kollegen aus den anderen Bundesländern den Vorschlag für eine Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Familien mit Kindern unterbreitet...

Inzwischen haben Mutter und Tochter nach einer entsprechenden Empfehlung der Härtefallkommission sogar eine Aufenthaltserlaubnis und damit endlich eine langfristige Lebensperspektive erhalten. Nun gilt es nur noch, schnellstmöglich auch die beiden abgeschobenen Familienmitglieder wieder nach Berlin zurückkehren zu lassen. Und auch insoweit scheinen die Behörden kooperationsbereit zu sein.

Also letztlich ein "happy end"? Vielleicht, wenn die Familie wieder zusammen ist. Aber es bleiben Wunden, z.B. eine Retraumatisierung der gesamten Familie durch die mit einer Ohnmachtserfahrung verbundene gewaltsame Trennung, wie eine Gutachterin angedeutet hat. Es geht also darum, derartige Tragödien für die Zukunft zu verhindern, und deshalb muss man auf die Ursachen achten...

Die Carl von Ossietzky-Medaille - Vorderseite
Carl von Ossietzky-Medaille - Vorderseite
Foto: ilmr


Carl von Ossietzky würde sich darüber freuen

In meiner Dankesrede im vergangenen Jahr habe ich an dieser Stelle u.a. die These aufgestellt, dass die Arbeit mit Flüchtlingen ein gutes Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit sei. Wenn man diese Menschen privat oder über eine Hilfsorganisation treffe und ihnen Unterstützung dabei geben könne, sich trotz ihrer Schutzbedürftigkeit mit Selbstbewusstsein in der fremden Umwelt zu orientieren und ihr Recht zu finden, wie es im Grundgesetz und in internationalen Abkommen verankert ist, werde man ein für uns völlig ungewohntes Maß an Dankbarkeit, Herzlichkeit und Zuwendung zurückerhalten. Ich weiß, dass Sie Beide diese Erfahrung bestätigen können. Daraus lässt sich eine allgemeine Erkenntnis ableiten: Wer einem Flüchtling in einer existentiellen Notlage unmittelbar begegnet, bleibt langfristig immun gegen fremdenfeindliche Ideen. Also: Nachahmung dringend empfohlen!...

Gelebte Zivilcourage - Carl von Ossietzky würde sich darüber freuen."

Die Internationale Liga für Menschenrechte erreichen Sie unter: www.ilmr.de

Online-Flyer Nr. 22  vom 14.12.2005

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