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Anonyme Rede von der Matinée im Kölner Schauspielhaus
"Wir sind Hunderttausende"
Von Patricio Z., Köln/Bonn
Ich heiße Patricio Z. Ich komme aus Lateinamerika und lebe schon seit etwas mehr als 14 Jahren in Deutschland. Ich bin einer derjenigen, die aus Vorsicht ihren Namen nicht in der Öffentlichkeit nennen und ihn auch nicht auf das Klingelschild oder den Briefkasten schreiben, es sei denn, sie erwarten einen wichtigen Brief.
Ich bin einer von Hunderttausenden, die anonym in diesem Land leben, mit illegalem Status. Das zu erzählen, was ich erzähle, ist belastend für mich. Die, die selbst als Illegale leben, verstehen meine Nervosität. Es ist die Angst, festgenommen und abgeschoben zu werden. Diese Angst begleitet uns, seit wir hier sind. Sie ist den Schmerzen unseres Aufbruchs ähnlich: Derjenige, der geht, leidet ebenso wie die Lieben, die zurückbleiben. Und für diejenigen, die es nicht schaffen, sich wieder zu treffen, kommt das Vergessen, mit diesem bitteren Geschmack, den die plötzliche Erinnerung, die Liebesbriefe oder die Hilferufe auslösen. Ich habe das am eigenen Leib erfahren und ich kenne die Erfahrungen vieler meiner Freunde. Nicht alle haben das Glück, noch mit ihren Familien zusammen zu sein, so wie ich. Die Deportation hat ihre Familien vielleicht für immer auseinander gerissen.
"Mein Freund Jorge wurde von der Polizei entdeckt"
Jorge heißt der Freund, der vor einigen Jahren von der Polizei entdeckt wurde. Er arbeitete, genauso wie meine Frau und ich, in Jobs, die die etablierten Leute ablehnen. Er war ein vorbildlicher Vater und sehr verantwortungsbewusst, überzeugt davon, dass man nur die Regeln einhalten müsste und Problemen aus dem Wege gehen solle. Das bedeutet, sich nicht an öffentlichen Orten aufzuhalten und kein Sozialleben zu haben, um Streit zu vermeiden und sich nicht zu beschweren, wenn man ausgebeutet oder gedemütigt wird. Wenn man diese Disziplin an den Tag legte, meinte er, könne man sich vor einer möglichen Denunziation und der Neugierde oder den Ermittlungen der Polizei schützen und auf diese Weise weiterleben, so wie es Tausende in diesem Land tun. Bis dahin konnten seine Töchter zur Schule gehen, erst mal nur in die Grundschule, weil die Schulleiter in seinem Fall glücklicherweise ein Auge zugedrückt haben. "Und danach sehen wir weiter", sagte er, "die Zeiten ändern sich, und eines Tages wird uns Deutschland anerkennen und uns ein Aufenthaltsrecht geben, so wie es auch in anderen Ländern gemacht wird"

CDU/FDP-Containerlager für Flüchtlinge 2002
Foto: Arbeiterfotografie
"Sie haben sich seit fünf Jahren nicht berührt"
Seine Abschiebung hat die Familie zerrissen - er wurde mit einer Tochter abgeschoben, seine Frau, die der Polizei entgehen konnte, blieb mit der anderen. Manchmal treffe ich Luca, die Ehefrau von Jorge mit ihrer Tochter in einem Callshop oder einem Internetcafé, Orte, die wir häufig aufsuchen, um zu telefonieren und per e-mail mit denen zu kommunizieren, die in unserem Heimatland geblieben sind. Jeny, die Tochter, begeistert von der neuen Technologie, sagte mir bei einer dieser Gelegenheiten, dass sie über das Internet ihren Vater und ihre Schwester sehen konnte. Als ihre Schwester sie auf dem Bildschirm sah, habe sie gesagt: "Ein bisschen fehlt nur, und ich kann dich berühren". Ich merkte ihr an, wie ergriffen sie war. "Ich will sie wieder hier haben", hat Jenny noch traurig gesagt. Luca, ihre Mutter, still und apathisch, fügte hinzu, dass sie die beiden hatte wiederherholen wollen, aber sie seien nach der Landung schon auf dem Flughafen wieder zurückgeschickt worden. Das habe sie soviel Geld gekostet! Und sie stecken ohnehin schon bis zum Hals in Schulden, dass sie es nicht wieder versuchen würden. Sie haben sich seit fünf Jahren nicht "berührt".
"Katy hat sich mit Baygon vergiftet"
Katy lebt in unserem Heimatland. Sie ist die Tochter von Rocío, einer Frau die hier schon seit fast vier Jahren unter denselben Bedingungen lebt. Rocío hörte nicht auf zu weinen, als sie eines Nachts über das Telefon erfuhr, dass ihre Tochter Katy Baygon genommen hatte, ein Insektengift. Am nächsten Morgen ist sie sofort in ein Reisebüro geeilt. Sie wollte nach Hause zu ihrer Tochter, die im Krankenhaus lag, koste es, was es wolle. Aber es ging nicht so schnell, erst in zwei bis drei Tagen hätte sie fliegen können - oder sie hätte das Geld für ein Erste Klasse-Ticket haben müssen. Geld, das sie nicht hatte. Gott sei Dank entwickelte sich Katys Gesundheitszustand positiv und am dritten Tag traf die Familie die Entscheidung, dass Rocío, ihre Mutter, nicht reisen sollte. Eigentlich hat es die Großmutter entschieden: Katy sei dabei, sich zu erholen und es sei besser, wenn Rocío nicht reisen würde. Denn sie könne als Illegale ja nicht wieder nach Deutschland einreisen, dorthin, wo sie Geld verdient, zum Beispiel, um das Krankenhaus zu bezahlen. Und außerdem müsse man, "dass das Leben weitergeht" und das bedeute Ausgaben. Rocío ist geblieben und schickt regelmäßig etwas Geld für die Schulkosten und die Ernährung ihrer Kinder. Am Telefon bittet sie die Großmutter inständig, dass sie gut auf ihre Tochter aufpasst, damit sie nicht noch einmal "Dummheiten" begeht. Katy hatte ihrer Mutter gesagt, sie hätte sich ergiften wollen, weil Rocío sie verlassen hätte und sie also nicht lieben würde. Seit vier Jahren hätten sie einander schon nicht mehr gesehen.
"Viktoria erträgt die Erniedrigungen"
Viktoria ist inzwischen mit einem Mann verheiratet, der Papiere hat. Man könnte sagen, ihre Verlobung war ein wenig übereilt, aber glücklich. So vergingen auch die ersten Monate ihrer Ehe, ihr Mann war eine Seele von Mensch. War er, denn jetzt ist er es nicht mehr, sagt sie: Er misshandelt sie, er demütigt sie, bedrängt sie, und wenn er zornig wird, dann erinnert er sie daran, dass er jederzeit ein paar von uns denunzieren könnte, die sich naiver Weise auf eine Freundschaft mit ihm eingelassen hatten - zu der Zeit, als er sich noch wie eine zahme Taube solidarisch mit unserem Anliegen gab. Sie erträgt die Erniedrigungen und erwartet sehnsüchtig den Tag, an dem sie sich von ihm trennen kann. Mir hat sie gesagt, dass sie es nicht tun wird, ehe die erforderliche Zeit abgelaufen ist, um Aufenthaltspapiere zu bekommen. Dem Anwalt zufolge wird es noch zwei Jahre dauern, und ein Arzt sagt, dass sie, wenn sie ihren Plan so weiter verfolgt, schließlich eine Psychotherapie benötigen wird, um wieder Selbstbewusstsein zu erlangen. Aber die braucht sie schon jetzt, um mit so viel Demütigung und Bedrängnis fertig zu werden. Vielleicht hat sie auch die Liebe mit der Sehsucht nach Aufenthaltspapieren verwechselt.

Roma-Kinder im Containerlager
Foto: Arbeiterfotografie
"Illegal ist auf Deutsch Synonym für "kriminell"
Illegal ist unsozial, heißt es auf einem kleinen Plakat, das auf einer Polizeiwache hängt. Das habe ich gelesen, als sie mich abgeschoben haben - möglicherweise, weil wir in der Apartheid leben. Illegal ist auf Deutsch Synonym für "kriminell". Miguel, einer der unsichtbaren Aktivisten unserer Initiative und Vater von zwei Kindern, wirkte einmal in einer Fernsehsendung mit, in der es um uns "sin papeles" und um unseren Kampf um Aufenthaltspapiere ging. Während dieser Sendung besaß er den Mut oder die Naivität - wie man es auch immer nennen will - einen ganzen Haufen von Schlüsseln zu zeigen: von Büros, von Wohnhäusern, in denen er und seine Frau beauftragt sind, regelmäßig nachts oder an den Wochenenden für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Ich frage Sie: Würden Sie Ihre Haustürschlüssel einem Kriminellen anvertrauen?
"Eure Vorfahren haben genau das gleiche gemacht"
Viele meinen sarkastisch: wenn es Euch so schlecht geht, warum geht Ihr dann nicht zurück in Euer Heimatland? Wir sind hierher gekommen auf der Suche nach einem besseren Leben. Wenn es zu Hause schlecht läuft, dann muss man sich eine bessere Perspektive suchen - das ist ein natürliches Ziel für jeden Menschen, und Eure Vorfahren haben genau das gleiche gemacht, wann immer es notwendig war. Anita sagt wie fast alle "sin papeles": "Es ist doch gut, dass wir vorankommen und trotz aller Schwierigkeiten Arbeit haben. Allein das genügt mir schon, um den Deutschen dankbar zu sein, und ich bete zu Gott, das mir nichts Schlimmes zustößt, um so weitermachen zu können."
Mit dieser Art zu denken, tröstet sich die Mehrheit von uns. Aber wie ich diese Situation hasse, weil Armut mehr bedeutet als knappe oder fehlende Einkünfte. Armut ist auch, wenn einem Lebensqualität, Freiheit, Würde, Selbstbewusstsein und der Respekt der anderen Menschen verweigert werden. Auch die Verweigerung von sozialen, politischen und physischen Möglichkeiten, um ein gesundes und kreatives Leben zum Wohle der Gesellschaft führen zu können, bedeutet Armut.

'Runder Tisch' besucht Flüchtlinge
Foto: Arbeiterfotografie
"Wir tragen zur Entwicklung der armen Länder bei"
Wir sind Hunderttausende, das heißt, dass es auch Hunderttausende gibt, die uns Arbeit geben. Nicht alle von ihnen sind Ausbeuter, unter ihnen gibt es auch gerechte und solidarische Menschen. Weil wir hier Arbeit haben, können wir unser Land und unsere Familien zuhause unterstützen. Die Beträge der Rücküberweisungen erlauben es Tausenden von Familien, ihre prekäre wirtschaftliche Situation zu überwinden und die Armut zu bekämpfen. Sie tragen einen großen Teil zur Entwicklung der armen Länder bei, denn sie ermöglichen eine Zunahme der Investitionen von Haushalten in Bildung und Gesundheit oder auch in die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das reicht vom Erwerb eines Telefons, das die Verkäufe eines Kunsthandwerksladens verbessern hilft, bis zur Einrichtung einer kleinen Werkstatt oder Investitionen in die Landwirtschaft. Damit kommen diese Gelder den einfachen Leuten zugute, den Kindern, Ehepartnern, Eltern oder Geschwister der Abwesenden.
Eine solche Wirkung haben nicht einmal die Millionen der internationalen Entwicklungshilfe oder die Kredite, die unsere verschuldeten Länder aufnehmen, denn diese Gelder kommen letztlich fast immer den großen Unternehmen zugute. Um die Schulden zurückzuzahlen werden immer die Armen belangt, ihre Gehälter werden gekürzt, Bildung und Gesundheitsversorgung verschlechtert.

'Holt uns hier raus!'
Foto: Arbeiterfotografie
"Nicht den verrückten Ideen von Herrn Schily folgen"
Die "sin papeles" sind eine weltweite Realität, und Deutschland sollte anerkennen, dass wir auch hier existieren. Es sollte nach einer menschlichen Lösung suchen und nicht den verrückten Ideen von Herrn Schily und seinen Anhängern folgen, Auffanglager für Menschen ohne Aufenthaltsstatus zu errichten oder Exklusiv-Flüge für Abschiebungen zu chartern. Es kann nicht angehen, dass eine so zivilisierte Gesellschaft keine andere Lösung als die Abschiebung und das Stillschweigen findet. Uns in Flugzeuge zu stecken und sich anschließend die Hände in Unschuld zu waschen, ist unmenschlich und eine in keiner Weise rationale Lösung. Welch ein Gegensatz, dass hier einerseits der Innenminister von nötigen Massenabschiebungen spricht, während der Wirtschaftsminister von Globalisierung und der Sozialminister von Integration reden und das Parlament überhaupt kein Wort über das Thema verliert.
"Schweigen ist das Übertünchen eines Verbrechens"
Für uns ist es die Regel, dass Straftaten gegen uns ungestraft bleiben und dass über die Opfer hinweggesehen wird. Aber einen Missbrauch ungestraft zu lassen bedeutet, dass man zulässt, dass er sich wiederholt. Die Straflosigkeit beraubt die Schwächsten aller Möglichkeiten. So sieht unsere Realität aus! Und diese Realität sollte man bekannt machen und ins Bewusstsein rufen. Kein Schweigen mehr! Das Schweigen lässt zu, das Schweigen ist Synonym für Bequemlichkeit, für verschleierte Komplizenschaft und für das Übertünchen eines Verbrechens.
Ich grüße herzlich und möchte mich bedanken bei..., ...und bei allen Organisationen und Personen, die mit unserem Anliegen solidarisch sind.
Online-Flyer Nr. 22 vom 14.12.2005
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Anonyme Rede von der Matinée im Kölner Schauspielhaus
"Wir sind Hunderttausende"
Von Patricio Z., Köln/Bonn
Ich heiße Patricio Z. Ich komme aus Lateinamerika und lebe schon seit etwas mehr als 14 Jahren in Deutschland. Ich bin einer derjenigen, die aus Vorsicht ihren Namen nicht in der Öffentlichkeit nennen und ihn auch nicht auf das Klingelschild oder den Briefkasten schreiben, es sei denn, sie erwarten einen wichtigen Brief.
Ich bin einer von Hunderttausenden, die anonym in diesem Land leben, mit illegalem Status. Das zu erzählen, was ich erzähle, ist belastend für mich. Die, die selbst als Illegale leben, verstehen meine Nervosität. Es ist die Angst, festgenommen und abgeschoben zu werden. Diese Angst begleitet uns, seit wir hier sind. Sie ist den Schmerzen unseres Aufbruchs ähnlich: Derjenige, der geht, leidet ebenso wie die Lieben, die zurückbleiben. Und für diejenigen, die es nicht schaffen, sich wieder zu treffen, kommt das Vergessen, mit diesem bitteren Geschmack, den die plötzliche Erinnerung, die Liebesbriefe oder die Hilferufe auslösen. Ich habe das am eigenen Leib erfahren und ich kenne die Erfahrungen vieler meiner Freunde. Nicht alle haben das Glück, noch mit ihren Familien zusammen zu sein, so wie ich. Die Deportation hat ihre Familien vielleicht für immer auseinander gerissen.
"Mein Freund Jorge wurde von der Polizei entdeckt"
Jorge heißt der Freund, der vor einigen Jahren von der Polizei entdeckt wurde. Er arbeitete, genauso wie meine Frau und ich, in Jobs, die die etablierten Leute ablehnen. Er war ein vorbildlicher Vater und sehr verantwortungsbewusst, überzeugt davon, dass man nur die Regeln einhalten müsste und Problemen aus dem Wege gehen solle. Das bedeutet, sich nicht an öffentlichen Orten aufzuhalten und kein Sozialleben zu haben, um Streit zu vermeiden und sich nicht zu beschweren, wenn man ausgebeutet oder gedemütigt wird. Wenn man diese Disziplin an den Tag legte, meinte er, könne man sich vor einer möglichen Denunziation und der Neugierde oder den Ermittlungen der Polizei schützen und auf diese Weise weiterleben, so wie es Tausende in diesem Land tun. Bis dahin konnten seine Töchter zur Schule gehen, erst mal nur in die Grundschule, weil die Schulleiter in seinem Fall glücklicherweise ein Auge zugedrückt haben. "Und danach sehen wir weiter", sagte er, "die Zeiten ändern sich, und eines Tages wird uns Deutschland anerkennen und uns ein Aufenthaltsrecht geben, so wie es auch in anderen Ländern gemacht wird"

CDU/FDP-Containerlager für Flüchtlinge 2002
Foto: Arbeiterfotografie
"Sie haben sich seit fünf Jahren nicht berührt"
Seine Abschiebung hat die Familie zerrissen - er wurde mit einer Tochter abgeschoben, seine Frau, die der Polizei entgehen konnte, blieb mit der anderen. Manchmal treffe ich Luca, die Ehefrau von Jorge mit ihrer Tochter in einem Callshop oder einem Internetcafé, Orte, die wir häufig aufsuchen, um zu telefonieren und per e-mail mit denen zu kommunizieren, die in unserem Heimatland geblieben sind. Jeny, die Tochter, begeistert von der neuen Technologie, sagte mir bei einer dieser Gelegenheiten, dass sie über das Internet ihren Vater und ihre Schwester sehen konnte. Als ihre Schwester sie auf dem Bildschirm sah, habe sie gesagt: "Ein bisschen fehlt nur, und ich kann dich berühren". Ich merkte ihr an, wie ergriffen sie war. "Ich will sie wieder hier haben", hat Jenny noch traurig gesagt. Luca, ihre Mutter, still und apathisch, fügte hinzu, dass sie die beiden hatte wiederherholen wollen, aber sie seien nach der Landung schon auf dem Flughafen wieder zurückgeschickt worden. Das habe sie soviel Geld gekostet! Und sie stecken ohnehin schon bis zum Hals in Schulden, dass sie es nicht wieder versuchen würden. Sie haben sich seit fünf Jahren nicht "berührt".
"Katy hat sich mit Baygon vergiftet"
Katy lebt in unserem Heimatland. Sie ist die Tochter von Rocío, einer Frau die hier schon seit fast vier Jahren unter denselben Bedingungen lebt. Rocío hörte nicht auf zu weinen, als sie eines Nachts über das Telefon erfuhr, dass ihre Tochter Katy Baygon genommen hatte, ein Insektengift. Am nächsten Morgen ist sie sofort in ein Reisebüro geeilt. Sie wollte nach Hause zu ihrer Tochter, die im Krankenhaus lag, koste es, was es wolle. Aber es ging nicht so schnell, erst in zwei bis drei Tagen hätte sie fliegen können - oder sie hätte das Geld für ein Erste Klasse-Ticket haben müssen. Geld, das sie nicht hatte. Gott sei Dank entwickelte sich Katys Gesundheitszustand positiv und am dritten Tag traf die Familie die Entscheidung, dass Rocío, ihre Mutter, nicht reisen sollte. Eigentlich hat es die Großmutter entschieden: Katy sei dabei, sich zu erholen und es sei besser, wenn Rocío nicht reisen würde. Denn sie könne als Illegale ja nicht wieder nach Deutschland einreisen, dorthin, wo sie Geld verdient, zum Beispiel, um das Krankenhaus zu bezahlen. Und außerdem müsse man, "dass das Leben weitergeht" und das bedeute Ausgaben. Rocío ist geblieben und schickt regelmäßig etwas Geld für die Schulkosten und die Ernährung ihrer Kinder. Am Telefon bittet sie die Großmutter inständig, dass sie gut auf ihre Tochter aufpasst, damit sie nicht noch einmal "Dummheiten" begeht. Katy hatte ihrer Mutter gesagt, sie hätte sich ergiften wollen, weil Rocío sie verlassen hätte und sie also nicht lieben würde. Seit vier Jahren hätten sie einander schon nicht mehr gesehen.
"Viktoria erträgt die Erniedrigungen"
Viktoria ist inzwischen mit einem Mann verheiratet, der Papiere hat. Man könnte sagen, ihre Verlobung war ein wenig übereilt, aber glücklich. So vergingen auch die ersten Monate ihrer Ehe, ihr Mann war eine Seele von Mensch. War er, denn jetzt ist er es nicht mehr, sagt sie: Er misshandelt sie, er demütigt sie, bedrängt sie, und wenn er zornig wird, dann erinnert er sie daran, dass er jederzeit ein paar von uns denunzieren könnte, die sich naiver Weise auf eine Freundschaft mit ihm eingelassen hatten - zu der Zeit, als er sich noch wie eine zahme Taube solidarisch mit unserem Anliegen gab. Sie erträgt die Erniedrigungen und erwartet sehnsüchtig den Tag, an dem sie sich von ihm trennen kann. Mir hat sie gesagt, dass sie es nicht tun wird, ehe die erforderliche Zeit abgelaufen ist, um Aufenthaltspapiere zu bekommen. Dem Anwalt zufolge wird es noch zwei Jahre dauern, und ein Arzt sagt, dass sie, wenn sie ihren Plan so weiter verfolgt, schließlich eine Psychotherapie benötigen wird, um wieder Selbstbewusstsein zu erlangen. Aber die braucht sie schon jetzt, um mit so viel Demütigung und Bedrängnis fertig zu werden. Vielleicht hat sie auch die Liebe mit der Sehsucht nach Aufenthaltspapieren verwechselt.

Roma-Kinder im Containerlager
Foto: Arbeiterfotografie
"Illegal ist auf Deutsch Synonym für "kriminell"
Illegal ist unsozial, heißt es auf einem kleinen Plakat, das auf einer Polizeiwache hängt. Das habe ich gelesen, als sie mich abgeschoben haben - möglicherweise, weil wir in der Apartheid leben. Illegal ist auf Deutsch Synonym für "kriminell". Miguel, einer der unsichtbaren Aktivisten unserer Initiative und Vater von zwei Kindern, wirkte einmal in einer Fernsehsendung mit, in der es um uns "sin papeles" und um unseren Kampf um Aufenthaltspapiere ging. Während dieser Sendung besaß er den Mut oder die Naivität - wie man es auch immer nennen will - einen ganzen Haufen von Schlüsseln zu zeigen: von Büros, von Wohnhäusern, in denen er und seine Frau beauftragt sind, regelmäßig nachts oder an den Wochenenden für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Ich frage Sie: Würden Sie Ihre Haustürschlüssel einem Kriminellen anvertrauen?
"Eure Vorfahren haben genau das gleiche gemacht"
Viele meinen sarkastisch: wenn es Euch so schlecht geht, warum geht Ihr dann nicht zurück in Euer Heimatland? Wir sind hierher gekommen auf der Suche nach einem besseren Leben. Wenn es zu Hause schlecht läuft, dann muss man sich eine bessere Perspektive suchen - das ist ein natürliches Ziel für jeden Menschen, und Eure Vorfahren haben genau das gleiche gemacht, wann immer es notwendig war. Anita sagt wie fast alle "sin papeles": "Es ist doch gut, dass wir vorankommen und trotz aller Schwierigkeiten Arbeit haben. Allein das genügt mir schon, um den Deutschen dankbar zu sein, und ich bete zu Gott, das mir nichts Schlimmes zustößt, um so weitermachen zu können."
Mit dieser Art zu denken, tröstet sich die Mehrheit von uns. Aber wie ich diese Situation hasse, weil Armut mehr bedeutet als knappe oder fehlende Einkünfte. Armut ist auch, wenn einem Lebensqualität, Freiheit, Würde, Selbstbewusstsein und der Respekt der anderen Menschen verweigert werden. Auch die Verweigerung von sozialen, politischen und physischen Möglichkeiten, um ein gesundes und kreatives Leben zum Wohle der Gesellschaft führen zu können, bedeutet Armut.

'Runder Tisch' besucht Flüchtlinge
Foto: Arbeiterfotografie
"Wir tragen zur Entwicklung der armen Länder bei"
Wir sind Hunderttausende, das heißt, dass es auch Hunderttausende gibt, die uns Arbeit geben. Nicht alle von ihnen sind Ausbeuter, unter ihnen gibt es auch gerechte und solidarische Menschen. Weil wir hier Arbeit haben, können wir unser Land und unsere Familien zuhause unterstützen. Die Beträge der Rücküberweisungen erlauben es Tausenden von Familien, ihre prekäre wirtschaftliche Situation zu überwinden und die Armut zu bekämpfen. Sie tragen einen großen Teil zur Entwicklung der armen Länder bei, denn sie ermöglichen eine Zunahme der Investitionen von Haushalten in Bildung und Gesundheit oder auch in die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das reicht vom Erwerb eines Telefons, das die Verkäufe eines Kunsthandwerksladens verbessern hilft, bis zur Einrichtung einer kleinen Werkstatt oder Investitionen in die Landwirtschaft. Damit kommen diese Gelder den einfachen Leuten zugute, den Kindern, Ehepartnern, Eltern oder Geschwister der Abwesenden.
Eine solche Wirkung haben nicht einmal die Millionen der internationalen Entwicklungshilfe oder die Kredite, die unsere verschuldeten Länder aufnehmen, denn diese Gelder kommen letztlich fast immer den großen Unternehmen zugute. Um die Schulden zurückzuzahlen werden immer die Armen belangt, ihre Gehälter werden gekürzt, Bildung und Gesundheitsversorgung verschlechtert.

'Holt uns hier raus!'
Foto: Arbeiterfotografie
"Nicht den verrückten Ideen von Herrn Schily folgen"
Die "sin papeles" sind eine weltweite Realität, und Deutschland sollte anerkennen, dass wir auch hier existieren. Es sollte nach einer menschlichen Lösung suchen und nicht den verrückten Ideen von Herrn Schily und seinen Anhängern folgen, Auffanglager für Menschen ohne Aufenthaltsstatus zu errichten oder Exklusiv-Flüge für Abschiebungen zu chartern. Es kann nicht angehen, dass eine so zivilisierte Gesellschaft keine andere Lösung als die Abschiebung und das Stillschweigen findet. Uns in Flugzeuge zu stecken und sich anschließend die Hände in Unschuld zu waschen, ist unmenschlich und eine in keiner Weise rationale Lösung. Welch ein Gegensatz, dass hier einerseits der Innenminister von nötigen Massenabschiebungen spricht, während der Wirtschaftsminister von Globalisierung und der Sozialminister von Integration reden und das Parlament überhaupt kein Wort über das Thema verliert.
"Schweigen ist das Übertünchen eines Verbrechens"
Für uns ist es die Regel, dass Straftaten gegen uns ungestraft bleiben und dass über die Opfer hinweggesehen wird. Aber einen Missbrauch ungestraft zu lassen bedeutet, dass man zulässt, dass er sich wiederholt. Die Straflosigkeit beraubt die Schwächsten aller Möglichkeiten. So sieht unsere Realität aus! Und diese Realität sollte man bekannt machen und ins Bewusstsein rufen. Kein Schweigen mehr! Das Schweigen lässt zu, das Schweigen ist Synonym für Bequemlichkeit, für verschleierte Komplizenschaft und für das Übertünchen eines Verbrechens.
Ich grüße herzlich und möchte mich bedanken bei..., ...und bei allen Organisationen und Personen, die mit unserem Anliegen solidarisch sind.
Online-Flyer Nr. 22 vom 14.12.2005
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