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Kultur und Wissen
Günther Bernd Ginzels Erinnerungen an Simon Wiesenthal
"Ein Freund und Lehrer ist gegangen"
Text-Interview: Hans-Detlev v. Kirchbach
"Der große Schmerz, dass mit Simon Wiesenthal ein weiterer Eckstein einer Generation von uns gegangen ist", bewegt den Kölner Publizisten Günther Bernd Ginzel anlässlich des Todes von Simon Wiesenthal, der am Dienstag im Alter von 96 Jahren gestorben ist. "Es ist die Verabschiedung der Generation der Überlebenden", sagt Ginzel. "Es ist ungemein schmerzhaft, dass Menschen, die man über Jahrzehnte kennt und schätzt, Menschen, die eben nicht nur überlebt, sondern auch den Kampf um das Leben danach gewonnen haben, uns eines Tages verlassen. Man fühlt sich dadurch ein Stückchen allein gelassen."
Der gelernte Architekt Wiesenthal, der die Hölle von Auschwitz überlebte, erlangte als "Nazijäger" internationale Berühmtheit. Durch seine unermüdliche Ermittlungsarbeit gegen Naziverbrecher, an denen die offizielle Justiz allzu oft gezielt vorbei sah, wurde er eher wider Willen zu einem Mythos, dessen sich sogar Hollywood annahm. Günther Bernd Ginzel aber hat den realen Simon Wiesenthal als Freund und Mentor gekannt, und dessen Einfluss prägte seinen Weg als Aufklärer über Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Im Interview erinnert sich Günther Bernd Ginzel an Simon Wiesenthal.
Wie begann Ihre Bekanntschaft mit Simon Wiesenthal?
Sie begann eigentlich mit den Erzählungen meiner Mutter, schon lange, bevor ich ihn persönlich kennen gelernt habe. Ich bin ja in Innsbruck geboren, weil meine Eltern in Tirol untergetaucht waren. Und ich wäre im Prinzip auch mit meinen Eltern in Innsbruck geblieben, hätte es nicht den katholischen Antisemitismus gegeben und die Ritualmordlegende vom "Anderle", die Geschichte vom "Judenstein". Damals hat mein Vater verzweifelt angekämpft gegen die antisemitische Legende, dass die Juden "aus Haß gegen Christus", wie es wörtlich in einem unmittelbar nach 1945 wieder aufgelegten Kirchenführer hieß, "kleine christliche Kinder mordeten". Er fand einen Bündnisgenossen in einem Kommunisten in Innsbruck und in Simon Wiesenthal in Wien.
Diese drei Männer versuchten, gegen diese antisemitische Legende anzukämpfen und sie zum Verschwinden zu bringen - und sie scheiterten. Und so wurde ich von dieser Legende als Fünfjähriger mit meinen Eltern aus dem schönen Tirol vertrieben. Aber die Geschichte, dass da ein Simon Wiesenthal war, der mit aller Macht gekämpft hat, die begleitete mich. Und so war es für mich eine unglaubliche Freude, als ich ihn dann fünfzehn Jahre später kennen gelernt habe, in einem Alter, in dem man sich bereits über die Kontinuitäten nationalsozialistischer Karrieren im Adenauer-Deutschland und über die wieder erstarkenden rechtsextremen Tendenzen in der jungen Bundesrepublik ärgerte.

Simon Wiesenthal: 1908-2005
Foto: Simon Wiesenthal-Centre
Man kennt Simon Wiesenthal in verschiedenen Rollen - als Zeitzeugen und Überlebenden, als unbequemen Mahner und moralische Instanz, und vor allem als unermüdlichen kriminalistischen Ermittler, der nach Nazitätern fahndete, nach denen die offizielle Justiz oft ja nicht so gern fahnden wollte. In welcher dieser Rollen liegt denn für Sie die historische Bedeutung Simon Wiesenthals?
Alles von dem ist zutreffend, und doch erlebte ich ihn als fast väterlichen Freund. Wenn jemand wie ich ohne Vater, der bald gestorben ist, aufgewachsen ist, und Simon Wiesenthal ohne Kinder, dann fühlten sich diese Generationen, der jüdische Nachgeborene und der jüdische Überlebende, aufeinander zugezogen. Und für mich war SW ein "Herole", einer, der sich nicht hat unterkriegen lassen, ein großer, starker, stattlicher Mann, der dem Hass, der ihm in Österreich entgegenschlug, widerstand, der seinen Weg unbeirrbar weiterging, und der in gewisser Weise für mich zum Vorbild wurde, was seine Stärke anbelangt, aber auch durch die Tatsache, dass er nie im eigentlichen Sinne zu einem Fanatiker geworden ist. Er blieb immer das, was man im Jüdischen einen Menschen nannte.
Er hatte gütige Augen, er hatte viel Humor, er konnte sehr zornig sein, wenn er an all die Nazis dachte, von denen er glaubte, dass sie die eigentlichen Gewinner des Zweiten Weltkrieges sein könnten, wenn es nicht Menschen wie ihn gäbe, die sie stoppten. Seine große Bedeutung lag eben darin - nicht nur, dass er Gerechtigkeit forderte, sondern dass er die Solidarität, die Freundschaft zu den vielen Menschen in Deutschland und Österreich suchte, die gleich ihm dachten und meistens jünger waren als er. Er wurde für uns zu einem Vorbild, zu einer gewissen Leitfigur, er hat uns unterstützt, wann immer wir ihn brauchten, und ich weiß gar nicht, auf wie viel Podien ich mit ihm zusammen saß, auf wie vielen Seminaren wir zusammen aufgetreten sind, wenn es um Rechtsextremismus ging, wenn es ums "Dritte Reich" ging, wenn es um die Aufarbeitung der Vergangenheit ging; immer war Simon Wiesenthal derjenige, der sofort und unbeirrbar dem Ruf folgte: Wir brauchen Dich, Simon, komm, hier gibt es eine Tagung; wir brauchen Deinen großen klangvollen Namen, damit die Menschen kommen. Simon Wiesenthal war zur Stelle, unermüdlich.
Das ist eine Rolle, die mir heute in den Nachrufen zu wenig gewürdigt wird, dass er eine Riesendokumentation aufbaute, dass er Gerechtigkeit, nicht Rache, forderte, dass er nicht Bestrafung sinnlos oder blind forderte, sondern eben den normalen juristischen Prozess von der deutschen Justiz einforderte. Und sein Zorn war eben so groß auf diese Justiz, die diesen juristischen Prozess verweigerte, ebenso groß wie auf die Mörder, die es zu jagen galt.
Was das betrifft, eine Justiz, die nur unter äußerstem Druck überhaupt gegen längst bekannte Naziverbrecher verhandelte: Da kennen wir aus Köln ja auch Fälle wie die Lischka-Affäre aus den 70er Jahren, wo es ja Geistesverwandte Wiesenthals waren, nämlich u.a. das Ehepaar Serge und Beate Klarsfeld, die mit ihren Aktivitäten und dem öffentlichen Druck, den sie über die Medien herstellten, die Verhandlung gegen den ehemaligen Gestapo-Chef von Lyon erzwangen. Glauben Sie, dass die Justiz doch irgendetwas von Simon Wiesenthal und seiner unbeirrbaren Suche nach Recht gelernt hat, oder hat sie ihn nur als unvermeidliches Übel hingenommen?
Mein subjektiver Eindruck war, dass die Justiz ihn am Anfang nicht nur als lästig empfand, sondern als Bedrohung. Und dass sie sich ihm und seinem Anliegen verweigerte. Da waren die Lehrer der Nazijuristen, die selbst Nazis waren und nun immer noch weiter an den Universitäten unterrichteten, da waren die jüngeren Juristen, die als Staatsanwälte, als hohe Polizeibeamte, als Richter im Dritten Reich fungierten und oft selbst Täter geworden sind, die mitnichten bereit waren, über ihre eigene Täterschaft nachzudenken, und die auf diese Art und Weise geradezu automatisch so etwas wurden wie Schutzpatrone der eigentlichen Massenmörder.
Es war ein großer Unwille in der Justiz, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und sie empfanden Simon Wiesenthal als lästig, ja schlimmer noch: Sie empfanden, dass die Nazis irgendwo recht hatten. War dieser Simon Wiesenthal nicht tatsächlich der typische Vertreter des alttestamentarischen Rachegedankens? So wurde er von denen, die Täter waren, immer wieder verunglimpft. Daneben gab es immer wieder einzelne deutsche Juristen, die glücklich waren, dass es diesen Simon Wiesenthal gab, und die nicht zuletzt mit Berufung auf seinen nicht nachlassenden Druck, was die Öffentlichkeit, was die Presse anging, dann selbst ein "Alibi" fanden, sich dem Verweigerungsdruck in ihren eigenen Reihen zu entziehen und die dann mit Simon Wiesenthal eine Partnerschaft eingingen, eine Partnerschaft auf dem Weg des Aufbaus einer neuen gerechten deutschen Gesellschaft.
Was bleibt denn dann von Simon Wiesenthal und letztlich auch von der Generation, die er repräsentiert hat, in einer Zeit, in der offensichtlich doch wieder die bequeme historische Entsorgung auf der Tagesordnung steht?
Ich denke, es bleibt zweierlei. Zum einen: Simon Wiesenthal war ja nicht nur derjenige, der die großen Verbrecher jagte, nicht die kleinen Mitläufer, sondern die Großtäter; der dem Auswärtigen Amt mit seinen Blaublütern die Maske vom Gesicht riss und deutlich machte, in welchem Ausmaß ein beträchtlicher Teil des deutschen Adels gerade im Auswärtigen Amt mit den Nazis kollaborierte. Das war der eine Wiesenthal. Der andere Wiesenthal, das war der Zärtliche, der Väterliche, der unermüdlich daran erinnerte, wer eigentlich die Opfer waren. Der als einer der ersten daran erinnert hat, dass es über eine Million Kinder waren, die den Nazis zum Opfer gefallen sind. Es war ihm wichtig, diesen anonymen Zahlen ein Gesicht zu geben. Mindestens so wichtig wie das Aufspüren der Täter war ihm, die Erinnerung an die Opfer wach zu halten: an die untergegangenen Gemeinden, an die vielen Menschen, die eben vernichtet worden sind mit ihren Träumen, mit ihren Hoffnungen.
Aber ebenso wichtig wie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war ihm, den Gefahren der Gegenwart zu begegnen, dem Nachleben des Nazismus im Nachkriegsdeutschland, den Verharmlosungen und Verleugnungen, und nicht zuletzt dem offenen Auftreten des Neonazismus. Dass seit den sechziger Jahren etwa eine NPD immer wieder in diverse Landtage einziehen konnte, hat ihn nicht ruhen lassen, immer wieder hat er vor den Gefahren des anhaltenden Rechtsextremismus gewarnt. Er wird bleiben als derjenige, der immer zur Stelle war, wenn wir Nachgeborenen ihn brauchten, gerade um über Bedrohungen der Gegenwart aufzuklären und uns im Kampf für eine demokratische Zukunft zu helfen.
Und es hat ja auch durchaus etwas gefruchtet; so gibt es doch zum Beispiel in einer jüngeren Juristengeneration eine recht starke Gruppe, die sich sehr wohl mit den Verbrechen der Vergangenheit, gerade auch der eigenen juristischen Zunft, auseinandersetzt und Konsequenzen für ein neues humanes Rechtsverständnis ziehen will. In vielen von uns wird Simon Wiesenthal weiterleben, denn die Aufgabe, der er sich gewidmet hat, ist längst noch nicht erfüllt.
Foto: Günther Bernd Ginzel - Arbeiterfotografie
Online-Flyer Nr. 10 vom 21.09.2005
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Kultur und Wissen
Günther Bernd Ginzels Erinnerungen an Simon Wiesenthal
"Ein Freund und Lehrer ist gegangen"
Text-Interview: Hans-Detlev v. Kirchbach
"Der große Schmerz, dass mit Simon Wiesenthal ein weiterer Eckstein einer Generation von uns gegangen ist", bewegt den Kölner Publizisten Günther Bernd Ginzel anlässlich des Todes von Simon Wiesenthal, der am Dienstag im Alter von 96 Jahren gestorben ist. "Es ist die Verabschiedung der Generation der Überlebenden", sagt Ginzel. "Es ist ungemein schmerzhaft, dass Menschen, die man über Jahrzehnte kennt und schätzt, Menschen, die eben nicht nur überlebt, sondern auch den Kampf um das Leben danach gewonnen haben, uns eines Tages verlassen. Man fühlt sich dadurch ein Stückchen allein gelassen."
Der gelernte Architekt Wiesenthal, der die Hölle von Auschwitz überlebte, erlangte als "Nazijäger" internationale Berühmtheit. Durch seine unermüdliche Ermittlungsarbeit gegen Naziverbrecher, an denen die offizielle Justiz allzu oft gezielt vorbei sah, wurde er eher wider Willen zu einem Mythos, dessen sich sogar Hollywood annahm. Günther Bernd Ginzel aber hat den realen Simon Wiesenthal als Freund und Mentor gekannt, und dessen Einfluss prägte seinen Weg als Aufklärer über Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Im Interview erinnert sich Günther Bernd Ginzel an Simon Wiesenthal.
Wie begann Ihre Bekanntschaft mit Simon Wiesenthal?
Sie begann eigentlich mit den Erzählungen meiner Mutter, schon lange, bevor ich ihn persönlich kennen gelernt habe. Ich bin ja in Innsbruck geboren, weil meine Eltern in Tirol untergetaucht waren. Und ich wäre im Prinzip auch mit meinen Eltern in Innsbruck geblieben, hätte es nicht den katholischen Antisemitismus gegeben und die Ritualmordlegende vom "Anderle", die Geschichte vom "Judenstein". Damals hat mein Vater verzweifelt angekämpft gegen die antisemitische Legende, dass die Juden "aus Haß gegen Christus", wie es wörtlich in einem unmittelbar nach 1945 wieder aufgelegten Kirchenführer hieß, "kleine christliche Kinder mordeten". Er fand einen Bündnisgenossen in einem Kommunisten in Innsbruck und in Simon Wiesenthal in Wien.
Diese drei Männer versuchten, gegen diese antisemitische Legende anzukämpfen und sie zum Verschwinden zu bringen - und sie scheiterten. Und so wurde ich von dieser Legende als Fünfjähriger mit meinen Eltern aus dem schönen Tirol vertrieben. Aber die Geschichte, dass da ein Simon Wiesenthal war, der mit aller Macht gekämpft hat, die begleitete mich. Und so war es für mich eine unglaubliche Freude, als ich ihn dann fünfzehn Jahre später kennen gelernt habe, in einem Alter, in dem man sich bereits über die Kontinuitäten nationalsozialistischer Karrieren im Adenauer-Deutschland und über die wieder erstarkenden rechtsextremen Tendenzen in der jungen Bundesrepublik ärgerte.

Simon Wiesenthal: 1908-2005
Foto: Simon Wiesenthal-Centre
Man kennt Simon Wiesenthal in verschiedenen Rollen - als Zeitzeugen und Überlebenden, als unbequemen Mahner und moralische Instanz, und vor allem als unermüdlichen kriminalistischen Ermittler, der nach Nazitätern fahndete, nach denen die offizielle Justiz oft ja nicht so gern fahnden wollte. In welcher dieser Rollen liegt denn für Sie die historische Bedeutung Simon Wiesenthals?
Alles von dem ist zutreffend, und doch erlebte ich ihn als fast väterlichen Freund. Wenn jemand wie ich ohne Vater, der bald gestorben ist, aufgewachsen ist, und Simon Wiesenthal ohne Kinder, dann fühlten sich diese Generationen, der jüdische Nachgeborene und der jüdische Überlebende, aufeinander zugezogen. Und für mich war SW ein "Herole", einer, der sich nicht hat unterkriegen lassen, ein großer, starker, stattlicher Mann, der dem Hass, der ihm in Österreich entgegenschlug, widerstand, der seinen Weg unbeirrbar weiterging, und der in gewisser Weise für mich zum Vorbild wurde, was seine Stärke anbelangt, aber auch durch die Tatsache, dass er nie im eigentlichen Sinne zu einem Fanatiker geworden ist. Er blieb immer das, was man im Jüdischen einen Menschen nannte.
Er hatte gütige Augen, er hatte viel Humor, er konnte sehr zornig sein, wenn er an all die Nazis dachte, von denen er glaubte, dass sie die eigentlichen Gewinner des Zweiten Weltkrieges sein könnten, wenn es nicht Menschen wie ihn gäbe, die sie stoppten. Seine große Bedeutung lag eben darin - nicht nur, dass er Gerechtigkeit forderte, sondern dass er die Solidarität, die Freundschaft zu den vielen Menschen in Deutschland und Österreich suchte, die gleich ihm dachten und meistens jünger waren als er. Er wurde für uns zu einem Vorbild, zu einer gewissen Leitfigur, er hat uns unterstützt, wann immer wir ihn brauchten, und ich weiß gar nicht, auf wie viel Podien ich mit ihm zusammen saß, auf wie vielen Seminaren wir zusammen aufgetreten sind, wenn es um Rechtsextremismus ging, wenn es ums "Dritte Reich" ging, wenn es um die Aufarbeitung der Vergangenheit ging; immer war Simon Wiesenthal derjenige, der sofort und unbeirrbar dem Ruf folgte: Wir brauchen Dich, Simon, komm, hier gibt es eine Tagung; wir brauchen Deinen großen klangvollen Namen, damit die Menschen kommen. Simon Wiesenthal war zur Stelle, unermüdlich.
Das ist eine Rolle, die mir heute in den Nachrufen zu wenig gewürdigt wird, dass er eine Riesendokumentation aufbaute, dass er Gerechtigkeit, nicht Rache, forderte, dass er nicht Bestrafung sinnlos oder blind forderte, sondern eben den normalen juristischen Prozess von der deutschen Justiz einforderte. Und sein Zorn war eben so groß auf diese Justiz, die diesen juristischen Prozess verweigerte, ebenso groß wie auf die Mörder, die es zu jagen galt.
Was das betrifft, eine Justiz, die nur unter äußerstem Druck überhaupt gegen längst bekannte Naziverbrecher verhandelte: Da kennen wir aus Köln ja auch Fälle wie die Lischka-Affäre aus den 70er Jahren, wo es ja Geistesverwandte Wiesenthals waren, nämlich u.a. das Ehepaar Serge und Beate Klarsfeld, die mit ihren Aktivitäten und dem öffentlichen Druck, den sie über die Medien herstellten, die Verhandlung gegen den ehemaligen Gestapo-Chef von Lyon erzwangen. Glauben Sie, dass die Justiz doch irgendetwas von Simon Wiesenthal und seiner unbeirrbaren Suche nach Recht gelernt hat, oder hat sie ihn nur als unvermeidliches Übel hingenommen?
Mein subjektiver Eindruck war, dass die Justiz ihn am Anfang nicht nur als lästig empfand, sondern als Bedrohung. Und dass sie sich ihm und seinem Anliegen verweigerte. Da waren die Lehrer der Nazijuristen, die selbst Nazis waren und nun immer noch weiter an den Universitäten unterrichteten, da waren die jüngeren Juristen, die als Staatsanwälte, als hohe Polizeibeamte, als Richter im Dritten Reich fungierten und oft selbst Täter geworden sind, die mitnichten bereit waren, über ihre eigene Täterschaft nachzudenken, und die auf diese Art und Weise geradezu automatisch so etwas wurden wie Schutzpatrone der eigentlichen Massenmörder.
Es war ein großer Unwille in der Justiz, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und sie empfanden Simon Wiesenthal als lästig, ja schlimmer noch: Sie empfanden, dass die Nazis irgendwo recht hatten. War dieser Simon Wiesenthal nicht tatsächlich der typische Vertreter des alttestamentarischen Rachegedankens? So wurde er von denen, die Täter waren, immer wieder verunglimpft. Daneben gab es immer wieder einzelne deutsche Juristen, die glücklich waren, dass es diesen Simon Wiesenthal gab, und die nicht zuletzt mit Berufung auf seinen nicht nachlassenden Druck, was die Öffentlichkeit, was die Presse anging, dann selbst ein "Alibi" fanden, sich dem Verweigerungsdruck in ihren eigenen Reihen zu entziehen und die dann mit Simon Wiesenthal eine Partnerschaft eingingen, eine Partnerschaft auf dem Weg des Aufbaus einer neuen gerechten deutschen Gesellschaft.
Was bleibt denn dann von Simon Wiesenthal und letztlich auch von der Generation, die er repräsentiert hat, in einer Zeit, in der offensichtlich doch wieder die bequeme historische Entsorgung auf der Tagesordnung steht?

Aber ebenso wichtig wie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war ihm, den Gefahren der Gegenwart zu begegnen, dem Nachleben des Nazismus im Nachkriegsdeutschland, den Verharmlosungen und Verleugnungen, und nicht zuletzt dem offenen Auftreten des Neonazismus. Dass seit den sechziger Jahren etwa eine NPD immer wieder in diverse Landtage einziehen konnte, hat ihn nicht ruhen lassen, immer wieder hat er vor den Gefahren des anhaltenden Rechtsextremismus gewarnt. Er wird bleiben als derjenige, der immer zur Stelle war, wenn wir Nachgeborenen ihn brauchten, gerade um über Bedrohungen der Gegenwart aufzuklären und uns im Kampf für eine demokratische Zukunft zu helfen.
Und es hat ja auch durchaus etwas gefruchtet; so gibt es doch zum Beispiel in einer jüngeren Juristengeneration eine recht starke Gruppe, die sich sehr wohl mit den Verbrechen der Vergangenheit, gerade auch der eigenen juristischen Zunft, auseinandersetzt und Konsequenzen für ein neues humanes Rechtsverständnis ziehen will. In vielen von uns wird Simon Wiesenthal weiterleben, denn die Aufgabe, der er sich gewidmet hat, ist längst noch nicht erfüllt.
Foto: Günther Bernd Ginzel - Arbeiterfotografie
Online-Flyer Nr. 10 vom 21.09.2005
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