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Arbeit und Soziales
2007 zum “Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle” erklärt
Chancengleichheit - eine Ideologie für Sieger?
Von Francois Dubet

Die Europäische Kommission hat beschlossen, das Jahr 2007 zum “Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle” zu erklären. Da in den uns bisher zugänglichen Texten weder von der Überrepräsentation von jugendlichen und erwachsenen Gefangenen mit Migrationshintergrund in den Gefängnissen der Mitgliedsländern der EU die Rede ist, und auch nicht von den tausenden Migrantinnen und Migranten, die vor den immer dichter werdenden Grenzen Europas gestorben sind und sterben, kommentieren wir den Begriff der Chancengleichheit mit einem Text von Francois Dubet, um an der Tradition der Menschenrechte, für die “Liberté, Egalité, Fraternité - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” stehen, festzuhalten. Francois Dubet ist Soziologe an der Universität Bordeaux II und Direktor der École des hautes études en sciences sociales (EHESS).
Die Redaktion.

Nach den Unruhen vom November 2005 scheint sich ein neuer Gerechtigkeitshorizont zu öffnen: die Chancengleichheit. Wie sollte man dagegen sein, ist es doch evident,dass in den demokratischen Gesellschaften, die die fundamentale Gleichheit der Individuen bejahen, die Chancengleichheit die einzige Möglichkeit ist, um gerechte Ungleichheiten zu produzieren, d.h. Ungleichheiten, die vom Verdienst eines jeden herrühren, von seiner Arbeit, seinem Vermögen und seiner Freiheit, da jeder so frei ist, beweisen zu können, was er wert ist.

Die Chancengleichheit und das Leistungsprinzip, das ihr wie eine Schwester gleicht, sind die einzigen Figuren von Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, in der wir gleich sind, obwohl wir ungleiche soziale Positionen innehaben. Die Sache ist folglich abgemacht: man muss um so mehr für die Chancengleichheit kämpfen, je mehr unsere Gesellschaft skandalöserweise „aristokratisch“ bleibt, beherrscht von der Reproduktion der Renten, der Erbschaften und der Privilegien, und durch die Reproduktion der Armut und den Ausschluss und durch all die Diskriminierungen, die den Frauen, den Minderheiten, den Kindern der Migranten, den Behinderten verbieten, sich an einem fairen Wettbewerb zu beteiligen.

Aber weil die Chancengleichheit so wichtig ist, sollten wir die Schwierigkeiten und Grenzen dieses Hauptprinzips der Gerechtigkeit nicht ignorieren. Die erste besteht darin, zu wissen, ob wir wirklich fähig sind, eine „echte“ Chancengleichheit herzustellen, die die Auswirkungen der Geburt und der sozialen Ungleichheiten auf die Verdienste der Individuen neutralisiert. Zweifellos sollte man dieses Ziel anvisieren, aber wir sollten dabei vorsichtig sein, denn schließlich zeigen die Forschungen in Frankreich und anderswo, dass es weder der Schule noch dem Arbeitsmarkt gelingt, die Wirkungen der sozialen Ungleichheiten unwirksam zu machen. Es wäre klug, nicht völlig naiv zu sein, wenn man ein bitteres Erwachen vermeiden möchte, und die Erfahrung mit der Unbeweglichkeit der Schule sollte uns Information genug sein.

Es ist unstreitig: die Chancengleichheit zielt nicht darauf, eine egalitäre Gesellschaft zu schaffen, sondern eine Gesellschaft, in der jeder an einem Wettbewerb teilnehmen kann, bei dem es darum geht, ungleiche Positionen zu erringen. Das war lange ein Thema der Rechten, die sich gegen die Ideale der Linken richtete, die zunächst danach trachtete, die Ungleichheiten zwischen den sozialen Positionen abzubauen.

Stellen wir uns vor, der unterschiedliche Zugang zu den Diplomen, zur Beschäftigung, zu den Einkommen, zum Einfluss, zum Prestige würde einer echten Chancengleichheit folgen, dem wahren Leistungsprinzip, einer strikten individuellen Leistung – wäre dann die Aufteilung all dieser Güter gleich? Wäre es gerecht, wenn die Sieger der Chancengleichheit alle Ressourcen besitzen und die Verlierer keine – unter dem einzigen Vorwand, sie hätten weniger Verdienste? Eine Gesellschaft, die auf einer wirklich perfekten Chancengleichheit aufbaut, kann gleichzeitig perfekt ungleich sein. Anders gesagt, das Prinzip der Chancengleichheit ist nur akzeptabel, wenn man es in einen Raum sozialer Ungerechtigkeiten platziert, die ihrerseits akzeptiert werden. Ohne dies kann die Chancengleichheit nur eine Ideologie von Siegern sein, die ihren Erfolg im Namen ihrer Leistung rechtfertigen. Der Stolz der Eliten, der aus wirtschaftlichen und schulischen Wettbewerben erwachsen ist, zeigt deutlich, dass die Chancengleichheit gleichzeitig eine Form der Gerechtigkeit und eine Form der Rechtfertigung der allergrößten Ungleichheiten ist, da sie von einem unbestrittenen Prinzip produziert worden sind. Damit wendet sich die Gleichheit gegen sich selbst.

In diesem Fall: wehe den Besiegten. Ihr Schicksal kann umso grausamer sein, als die Umsetzung der Chancengleichheit sie für ihre eigene Niederlage verantwortlich macht. Wenn jeder die gleiche Chance wie die anderen hatte, um erfolgreich zu sein und die Möglichkeiten wahrzunehmen, die sich allen bieten, bleibt denen, die dabei scheitern, nur, sich an sich selbst zu halten. Sie können sich nicht trösten oder revoltieren, indem sie sich auf das Schicksal, die Götter oder den Kapitalismus berufen. Sie sind nicht zu den prekärsten und den schlechtest bezahlten Arbeiten verurteilt wegen der Umstände ihrer Geburt und der Ungerechtigkeit der Gesellschaft, sondern weil sie nicht genug geleistet haben.

Dieses Szenario ist keine Fiktion. Wir müssen uns nur ansehen, wie die gescheiterten Schüler eine Verbitterung und ein Ressentiment gegen die Schule entwickeln, weil sie in aller Augen, und auch in ihren eigenen Augen, effektiv weniger Leistung, Mut, Talent und Intelligenz, als all die anderen haben, die erfolgreich sind. Gezwungen, ihre Niederlage zu erkennen, erdrückt von ihrer Würdelosigkeit, zerbrechen sie das Spiel und spielen nicht mehr mit.

Da die Chancengleichheit notwendigerweise das Leistungsprinzip impliziert, könnte man sich ragen, ob das Leistungsprinzip wirklich existiert. Muss man die objektiven Leistungen bestätigen, muss man die Anstrengungen bestätigen? Sind wir sicher, dass unsere Erfolge und unsere Misserfolge in der Chancengleichheit eher Resultat unserer Freiheit sind als Produkt unserer Gene, des Zufalls oder der Myriaden von Beziehungen und Geschichten, die uns ausmachen, ohne dass wir es wissen? Auf jeden Fall, wenn wir unsere Erfolge und unsere Misserfolge verdienen, dann bedeutet es nicht zwangsläufig, dass wir die Kraft oder die Behinderungen verdienen, die uns triumphieren oder scheitern lassen.

Dennoch, auch wenn diese wenigen Kritiken relativ stark sind, es bleibt, dass die Chancengleichheit unseren Horizont von Gerechtigkeit konstituiert, der auf der Einbildung besteht, dass wir uns weiterhin vorstellen, dass es möglich ist, gerechte Ungleichheiten zu entwickeln. Ein Lehrer kann empört über die sozialen Ungleichheiten sein, die auf die Leistungen seiner Schüler drücken. Das ändert nichts an seiner Verpflichtung, an die Chancengleichheit zu glauben, wenn er ihre Arbeiten benotet, und die meisten von uns denken, dass diejenigen mit den besten Diplomen besser bezahlt werden müssen, als diejenigen, die nicht qualifiziert sind. In der Welt des Marktes gilt derselbe Glaube: die Inkaufnahme von Risiken, die Verantwortung und die Arbeit müssen bewertet werden, weil sie den Verdienst eines jeden messen. Man glaubt umso mehr an die Chancengleichheit und den Verdienst, als man denkt, dass diese Form von Gerechtigkeit effizient ist: die Eliten sind die bestmöglichen, jeder ist auf dem Platz, der ihm gebührt, jeder hat das Interesse effizient zu sein, womit er zur kollektiven Effizienz und zum „Reichtum der Nation“ beiträgt.

Aber, ohne pervers zu werden, ohne eine elegante Form von Sozialdarwinismus anzunehmen, noch wahrscheinlicher, ohne eine Liturgie zu werden, muss die Chancengleichheit mit anderen Gerechtigkeitsprinzipien verbunden werden. Der Kampf für die Chancengleichheit muss Hand in Hand gehen mit dem Kampf für die Reduzierung der sozialen Ungleichheiten, der Ungleichheiten der Positionen und der Ressourcen. Das ist nicht nur die beste Art, um sich dem Horizont der Chancengleichheit selbst zu nähern, das ist auch die einzige Facon, Garantien und eine grundlegende soziale Gerechtigkeit denen anzubieten, die im egalitären Wettbewerb scheitern, auch wenn es dabei gerecht zuging.

Anders gesagt, man muss die tolerierbaren Ungleichheiten definieren, die durch die Chancengleichheit verursacht werden und die Güter, die Würde, die Autonomie, die Gesundheit, die Erziehung definieren, die allen unabhängig von ihrem Verdienst, und vor allem, ihrem fehlenden Verdienst, angeboten werden müssen. In diesem Sine darf die Linke ihr Projekt und ihr Schicksal nicht vollständig mit der Chancengleichheit verbinden, weil, selbst wenn es richtig wäre, dass einige schlechter bezahlt werden, schlechter untergebracht und schlechter unterrichtet werden als andere – es wäre ungerecht, dass sie zu schlecht bezahlt, zu schlecht und zu schlecht unterrichtet werden. Um gerecht zu sein müssen folglich die nichtegalitären Auswirkungen der Chancengleichheit ernsthaft begrenzt werden.

Weil die Chancengleichheit die Grundlage einer gerechten Verteilung der Individuen auf die ungleichen sozialen Positionen ist, riskiert sie, das soziale Leben in eine Art Wettkampf zu transformieren, in dem jeder der Konkurrent, wenn nicht sogar der Feind aller anderen wird beim Versuch, relative rare Positionen und Ressourcen zu erwerben. In dieser Hinsicht ist die Entwicklung des Schulwesens unzweideutig: jeder jagt dort mit Hilfe der besten Einrichtungen, der besten Studiengänge, der besten Bildungswege, d.h. der rentabelsten, nach Leistung und Nützlichkeit, bis die Schwächsten ausgesondert sind und bis die Kultur selbst auf ihre selektive Effizienz zurückgeführt worden ist.

Um gerecht und lebbar zu sein, kann sich eine Gesellschaft nicht auf diese Sorte permanenten Wettbewerbs reduzieren, und umso weniger, wenn sie gerecht sein möchte, kann sie sich nicht in eine Gesellschaft verwandeln, inder jeder nichts anderes wäre als der Unternehmer seiner selbst. Aus diesem Grund besteht die Gerechtigkeit nicht nur darin, die Ungleichheit der sozialen Positionen zu reduzieren, sie muss auch dazu führen, dass diese Positionen die bestmöglichen werden, um jedem zu ermöglichen das Leben zu gestalten, das ihm gut zu sein scheint. D.h. die „alten“ Themen der Qualität der Arbeit, der Wohnung und der Stadt, der Qualität der Erziehung, der Gesittung der Beziehungen müssen zur Bildung einer weniger ungerechten Gesellschaft beitragen.

Arbeiten wir also umso mehr an der Verwirklichung der Chancengleichheit, je weiter wir davon entfernt sind, aber fürchten wir, dass diese Losung heute unsere Konzeption von Gerechtigkeit zerbrechen kann, oder unmittelbarer, dass sie einer politische Debatte nachgeben kann, in der die Linke und die Rechte dieselben Liturgien zu teilen scheinen. Fürchten wir auch, dass ein solch ambitionierter Horizont seine eigenen Schwächen übersieht und Enttäuschungen hervorbringt, von denen wir uns nur sehr schwer erholen werden.

Auch wenn sie richtig ist, läuft die Chancengleichheit auf mechanische Weise darauf hinaus, dass es Besiegte gibt. Die soziale Gerechtigkeit besteht aber darin, sich auf ihre Seite zu stellen, und nicht darin, ihren Misserfolg als Gerechtigkeit zu verkaufen.


Der Artikel erschien unter dem Titel „Redoutable égalité des chances“ am 12.01.2006 in der französischen Tageszeitung Libération.
Übersetzung: Klaus Jünschke.
Mehr zum Thema unter
http://www.jugendliche-in-haft.de/



Online-Flyer Nr. 77  vom 10.01.2007

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