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Glossen
Gedanken eines ehemaligen SPD-Unterstützers
Warum denn keine Visionen mehr?
Von Karl C. Fischer

Natürlich sind mir einige mediengeile Utopisten bekannt, doch Visionäre scheint es heute nicht mehr zu geben - was den Unterschied zwischen den siebziger Jahren und heute ausmacht und die Hoffnungslosigkeit verschärft.

Vor Jahrzehnten inspirierten uns Visionäre wie Mahatma Gandhi (1869-1948), der mit seiner Methode des gewaltlosen Widerstandes die britische Kolonialherrschaft in Indien beendete. Auch Albert Schweitzer (1878-1965), Arzt und entschiedener Gegner des atomaren Wettrüstens, beflügelte ganze Generationen, worauf ihm der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Martin Luther King (1929-1968), Kämpfer für die Rechte der farbigen US-Bürger und Friedensnobelpreisträger, feuerte die Menschen in aller Welt an, während Robert Jungk (1913-1994), Journalist und Zukunftsforscher, entsprechende Werkstätten schuf, um Nachfolger auszubilden, und Bernt Engelmann (1921-1994), Antifaschistund Widerstandskämpfer im Dritten Reich, alle anregte, die gegen die Neonazis aufstanden.

Diese und weitere Persönlichkeiten ließen in mir eine Richtschnur reifen, die sich in den Worten zusammenfassen lässt: Ein politisch tätiger Mensch muss in erster Linie der von ihm für richtig gehaltenen gesellschaftspolitischen Vision folgen und vor diesem Hintergrund Tagespolitik machen.

Das symbolisieren die Kanzler Willy Brand und Helmut Schmidt, wobei Brandt als Visionär gilt und Schmidt als Tagespolitiker. Während die SPD von 1972 bis 1974 diesen politischen Spagat unternahm, war dieser Satz aber auch meine Leitlinie als demokratischer Sozialist in der SPD in Frankfurt am Main.

Damals setzte ich mich am aktivsten für die SPD ein. Neben der Arbeit in Funktionen, in die ich gewählt wurde, warb ich bei zwei Landtags- und einer Bundestagswahl an Infoständen, machte Wahlkampf für Kommunalpolitiker, Landtags- und Bundestagskandidaten, verteilte Zehntausende von Flugblättern und steigerte die Zahl der SPD-Wähler und Mitglieder in den Straßen des Stadtteils, für die ich im Auftrag meines Ortsvereins verantwortlich war.

Nachdem mich dafür meine Erfahrungen in der Endphase der Diktatur, der leidliche Neubeginn danach sowie die schädlichen Auswüchse geprägt hatten, die die Grundstücksspekulation in den Metropolen und der Ausbau der Kernenergie verursachten, ließ meine Bereitschaft für die SPD mit aller Kraft zu kämpfen, ab 1979 nach. Der Grund:  Helmut Schmidt wurde zum international anerkannten Motor der Stationierung von Atomraketen auf deutschem Boden, obwohl die Mehrheit der SPD-Mitglieder in die entgegen gesetzte Richtung drängte. Doch die Visionen demokratischer Sozialisten interessierten den Kanzler nicht.

Dieses abschätzige Verhalten gegenüber mühsam erkämpften Werten nahm in den vergangenen 25 Jahren in allen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen so rasant zu, dass der nun abgetretene Kanzler Gerhard Schröder es von Beginn an als Selbstverständlichkeit ansah, Schmidts Arroganz gegenüber der SPD noch zu überbieten.

Daher kenne ich heute keinen politisch tätigen Menschen mehr, der Tagespolitik betreibt und gleichzeitig sagen kann, er versuche, gesellschaftspolitische Visionen als Richtschnur seiner Parteiarbeit zu nutzen. So sagte Michael Glos, der neue Wirtschaftsminister, in einer Talk-Show zum Haushaltsloch von 35 Milliarden Euro: Deutschland kann kein Geld drucken, wie die Vereinigten Staaten, weil diese die stärkte Militärmacht sind. Mir fielen dazu die vor dreißig Jahren von namhaften Wirtschaftsexperten getroffenen Feststellungen ein, die der SPD-Abgeordnete Karl-Heinz Berkemeyer damals vor Wählern zitierte, während ich ihm half, sein Mandat zu erringen: Ein Staat kann sich nicht überschulden, weil es Pflicht der öffentlichen Hand ist, sich zu verschulden, wenn Katastrophen oder Massenarbeitslosigkeit abgewendet werden müssen.

Haben wir heute etwa keine Massenarbeitslosigkeit oder haben die Fachleute und der Abgeordnete damals nur gelogen?

Daher setzt sich auch niemand mehr visionär mit dem inzwischen inflationär gebrauchten Begriff  "Reformen" auseinander und nennt ihn - wie es sich gehören würde - menschenverachtend, weil unter diesem Schlagwort immer mehr Not leidende Menschen zu Sklaven des immer krimineller werdenden Kapitalismus abgewertet werden.

Eine echte Reform wäre die Entschuldung aller Länder von ihren Gläubiger-Banken, was staatliche  Aufbauprogramme auslösen könnte, die die Not lindern und einen globalen basis-demokratischen Neubeginn möglich machen würden. Mir scheint dies durchführbar, weil die USA die einzige Nation sind, die sich seit 1973 - als der Dollar den Status der internationalen Leitwährung wegen dessen Überschuldung verlor -  weiter höher verschulden, jährlich riesigere Haushaltslöcher reißen und die Inflation im Dollar-Raum fast täglich anheizen, während der Rest der Welt angeblich gezwungen ist, seine Etats in kürzester Zeit in Ordnung zu bringen.

Online-Flyer Nr. 21  vom 07.12.2005

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