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Kultur und Wissen
Der Fern-Seher - Folge 19
Pilatus und kein Ende - was ist Wahrheit?
Von Ekkes Frank

Noch vor kurzem ist mir dieses Deutschland, aus der Ferne betrachtet, mal ziemlich nahe gegangen. Was sich da zeigte, in den WM-Zeiten, an nicht gekannten Qualitäten eines Volkes, das mich jahrzehntelang zu immer neuer Skepsis und misstrauischer Vorsicht veranlasst hatte, das hat mich derart verblüfft, dass ich eine ganze Zeit lang sprachlos blieb.
Außerdem hörte ich schon so manchmal, auch von durchaus nicht angepassten oder mainstreamschwimmenden Freunden, man müsse doch nicht immer nur meckern und kritisieren und alles nur verkniffen sehen. Recht haben sie, dachte ich, und schwieg. So weit das Positive, nach dessen Verbleib Erich Kästner einst stellvertretend für Menschen meiner (Un-)Art gefragt worden war.

Fern-SeherAch ja. Aber es ist halt durch diesen WM-Sommer nicht alles anders geworden. Weder in Deutschland, noch bei mir. Und so trübt sich mein gutwilliger Fernblick doch immer mal wieder. Zum Beispiel beim Lesen eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung vom 26. August, Überschrift: "Wenn einer mal die Wahrheit spricht". Darin nimmt ein Wolf Schneider - vorgestellt als "Sprachkritiker und Ausbilder an sechs Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz" - die "prominenten SPD-Politiker" Steinbrück und Riester in Schutz gegen Angriffe. Angriffe weswegen? Weil sie, unüblich für Politiker, die Wahrheit gesagt hätten. Meint der Wolf Schneider. Die Wahrheiten: Steinbrück, Finanzminister wie man weiß, hatte gesagt, die Deutschen müssten im Zweifel auf eine Urlaubsreise verzichten, um für später vorzusorgen. Riester, Ex-Gewerkschafter, Ex-Minister, hatte für das gleiche Ziel den Verzicht auf ein neues Auto angemahnt.

Ja und? Ist das denn nicht die Wahrheit? Doch, sicher, schon. Aber damit ist der Schneider halt noch nicht aus demselben. Die immer (mal wieder) klugen Juristen haben es so formuliert: man müsse die Wahrheit sagen - und nichts als die Wahrheit, und: nichts hinzufügen und nichts weglassen. Das genau aber ist der Fehler an den beiden SPD-Männer-Wahrheiten. Nämlich die Erklärung, warum das so ist mit diesem angemahnten Verzicht. Weil nämlich dieses Deutschland in den letzten etwa 15 Jahren so verändert wurde, dass nicht mehr geht, was früher doch ging. Weil sich nämlich die Schere zwischen Armen und Reichen gewaltig geöffnet hat, so dass von dem nach wie vor bemerkenswerten Reichtum des Landes, produziert von seinen nach wie vor fleißigen und arbeitswilligen Menschen, ein immer größerer Teil in die Taschen von immer wenigeren fließt. Dass diese dann ihre dadurch ständig steigende Macht dazu nutzen, diese Entwicklung weiter voranzutreiben. Nicht zuletzt mit Hilfe jener Politiker, die ihre auch dadurch ständig schwindende Macht mit dem schlicht falschen, aber so unwiderlegbar überzeugend klingenden Argument verschleiern, es gebe keine Alternative.

Unsinn: es gibt immer eine Alternative. Es gibt z.B. Deutsche, nicht wenige sogar, die kaufen sich alle zwei Jahre ein neues Auto für 80 000 Euro, fahren darin mit ihrer Familie - mehrfach sogar - in Urlaub, und sorgen doch zugleich für später vor. Der SPD-Mann Steinbrück kam gerade aus dem Urlaub, als er seine Wahrheit absonderte. Und der Riester, vermute ich mal, muss auch keine Sorgen für sein Alter haben; und das nicht etwa deshalb, weil er seinen klapprigen VW-Käfer, Baujahr 1978 mit einem Kilometerstand von 392 551, immer noch weiter fährt und fährt und fährt...

Ob vielleicht mal einer oder eine von denen, die an den sechs Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz lernen, den Ausbilder Wolf Schneider danach fragt? Und ob dann eine Antwort kommt? Oder ob ihm oder ihr das widerfährt, was der Herr Schneider in seinem Artikel so bitter beklagt: dass der Fragende verhauen wird (so wie die wahrheitssagenden Politiker)?

Tja. Und wo bleibt das Positive? Hier: es bleibt die Hoffnung, dass auch in dieser Hinsicht, also was das Sagen der Wahrheit betrifft, ein neuer deutscher Sommer kommt. Vielleicht schon in diesem Herbst?


Unser Fern-Seher
Unser Fern-Seher
Foto: NRhZ-Archiv



Online-Flyer Nr. 61  vom 12.09.2006

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