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Krieg und Frieden
Interview mit Meron Benvenisti über Israel als "Fremdkörper in der Region"
"Je weniger heroisch, desto besser"
Von Roni Ben Efrat und Stephen Langfur
Benvenisti behauptete, aufgrund der Siedlungen (im Vergleich zu heute damals kaum der Rede wert) würde die Lage unumkehrbar. Als logische Konsequenz hat er lange behauptet, angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten, was Bevölkerung und Ressourcen anginge, könne das Land zwischen Jordan und Mittelmeer keine zwei Staaten beherbergen.
Meron Benvenisti: "Ich bin für das, was man "soft borders" nennt."
Frage: In der Ha´aretz vom 26. Juli 2006 haben Sie in einem Artikel mit der Überschrift "Die Wende kommt" geschrieben: "Der größte Verlierer wird das israelische Volk sein, das durch eine überzogene Reaktion auf eine Provokation seine Stellung als Fremdkörper in der Region verfestigt hat, als der Tyrann der Nachbarschaft, das Objekt ohnmächtigen Hasses." Meinen Sie, der Krieg wurde ihm nicht durch die Umstände aufgezwungen?
Antwort: Natürlich wurde er das nicht. Kein Krieg wird einem durch äußere Umstände aufgezwungen. In diesem Fall waren die Antwort und ihr Ausmaß in keiner Weise zwingend erforderlich. Aber unsere Antwort ist immer dieselbe und wir lassen sie sich dann immer selbst rechtfertigen und nennen es einen Kampf ums Überleben. Und jemand wie ich, der siebzig Jahre in diesem Land gesessen hat, hat es ziemlich satt. Wenn das wirklich unser Schicksal sein soll, jedes Mal einen Krieg zu führen, bei dem es um unsere Existenz geht, jedes Mal einen Feind finden zu müssen, der sich pünktlich erhebt, um uns zu zerstören, so dass wir uns erheben und ihn zerstören müssen - und wenn das ewig so weitergehen muss - dann war das ganze Unternehmen ein Fehler. Eine Gesellschaft kann nicht so lange in solchen Kämpfen leben, und die Wahrheit ist, dass sie auch nicht wirklich so lebt. Eines der Dinge, von denen ich denke, dass sie vielleicht das zionistische Unternehmen retten werden, ist die Tatsache, dass die jüdische Öffentlichkeit nicht bereit ist, dies zu ertragen. Sie ist nicht bereit, sich um die Vorstellungen einer Generation zu versammeln, die mit diesem Staat aufgewachsen ist, Leuten wie (Premierminister Ehud) Olmert und anderen. Die Öffentlichkeit hat ein völlig anderes Bild von der Welt, darum reagiert sie anders. Z.B. sagt man von Tel Aviv, es lebe in einer Seifenblase. Im Gegenteil, es lebt ein normales Leben Die Tatsache, dass andere Leute die Bevölkerung zwingen wollen, in steter Mobilisierung zu leben, als müsse sie immer ums Überleben kämpfen, bedeutet nicht, dass sie jedes Mal gehorchen muss. Da hoffe ich, dass die Bevölkerung klüger ist als ihre Anführer und das gerade aufgrund weniger heroischer Vorstellungen. Je weniger heroisch, desto besser.
Ich stehe auch nicht hinter der Auffassung, wir müssten irgendwas irgendwem in sein Bewusstsein einbrennen. Wir werden ständig aufgefordert, irgendwas in das Bewusstsein unserer Feinde einzubrennen. Wir haben in das Bewusstsein des Feindes Sachen bis zu einem Punkt eingebrannt, wo wir als Nation schlicht geistesgestört sind. Der Tyrann der Nachbarschaft. Will ich den Libanon zerstören? Ich will ein Freund des Libanons sein. Für mein Leben gern würde ich in den Libanon fahren. Ich möchte in Verbindung mit seiner Kultur treten. Was soll das dann? Muss ich sie töten?
Während der Wahlkampagne hat Ehud Olmert, dass, was wir anstreben, als "ein Land" definiert, "in dem es Spaß macht zu leben". Man hatte das Gefühl, dass er die obere Mittelschicht repräsentiert, die weiterkommen und die Wirtschaft und sich selbst voranbringen will - egal, was mit den Armen oder den Arabern ist. Einer bestimmten sozialen Schicht macht das Leben hier Spaß. Jetzt kommt plötzlich der Krieg und wirft das ganze Projekt zurück. Es ist eindeutig nicht gut für die Wirtschaft, für Israel. Wie analysieren Sie diesen Richtungswechsel?
Wenn Sie sich die israelische Geschichte anschauen, werden Sie sehen, dass jedes Mal, wenn sich die Fahne sozialer Veränderung zu erheben begann, irgendetwas von außen kam, dass die Führungsgruppe als Bedrohung wahrnehmen konnte. Es liegt ihnen in den Genen. Sie sind das klassische Produkt der zionistischen Erziehung der 1950er und 60er Jahre, die das Prinzip etabliert hat, dass jeder Haltung annimmt, wenn die Armee pfeift.
Doch dieses Prinzip basiert (um Ihre Metapher des Nachbarschaftstyrannen weiterzuführen) auf einem bestimmten Verständnis davon, was in der Nachbarschaft los ist. Ist dieses Verständnis nicht richtig?
Ist es nicht. Hören Sie sich z.B. an, wie man (Israel) darüber spricht, die arabischen Länder "abzuschrecken". Wie viele arabische Länder befinden sich noch mit uns im Krieg? Haben wir heute ein Problem mit Ägypten? Mit Jordanien, Saudi Arabien, Irak? Mit Syrien? Es gibt nicht mehr "die arabische Welt" gegen uns. Also erfinden sie ein neues Schreckgespenst: Iran! Jetzt müssen wir uns mit dieser neuen Sache auseinandersetzen - aber was willst Du mit den arabischen Ländern machen, die Dich letztlich gegen den Iran auf ihrer Seite haben wollen? Warum muss man weiter auf "der arabischen Welt" herumreiten? Warum kehrt man zu den Ideen der 50er und 60er Jahre zurück? Weil es zweckdienlich ist. Es rückt die Realität wieder in die gewohnte Bahn zurück: Es gibt einen Krieg ums Überleben, Du stehst allein gegen die arabische Welt und darum kannst Du hingehen und jeden Araber töten. Bei diesem ganzen Gerede über die arabische Welt, kannst Du das wirkliche Problem umgehen: die Sache mit den Palästinensern. Der Libanonfeldzug ist zweitrangig. Danny Rubinstein hat ihn heute in der Ha´aretz eine Metastase des palästinensischen Konflikts genannt.
Warum braucht man dann (einen Krieg gegen) die arabischen Staaten? Weil man damit die Bevölkerung einen kann. Der Krieg gegen die Palästinenser spaltet uns in rechts und links. Kämpfen im Libanon, da schwelgt man im nationalen Konsens. Schau nur, wie die Leute neulich auf Olmert losgegangen sind, als er wagte, seinen Convergence Plan wieder zu erwähnen. "Wir genießen grade den schönen warmen Whirlpool eines Libanonkriegs" Warum sollen wir an diesen anderen Konflikt denken?"
Heute, am 7. August 2006, erfreuen sich Olmert und (Verteidigungsminister) Amir Peretz breiter öffentlicher Unterstützung, aber das Interessante ist, dass selbst stramme Linke den Krieg unterstützen, Leute wie der Dramatiker Yehoshua Sobol und der Dichter Ilan Sheinfeld, die sich sehr gegen die Besatzung von Westbank und Gaza wenden. Auch sie schlagen die Hacken zusammen -
Sehen Sie, die Linke will Teil des Konsens sein, wie im letzten Libanonkrieg, und hier bekommt sie die Möglichkeit, sich auf die Seite der Bevölkerung zu stellen, statt mit ihr zu streiten. Wer kann dieser Versuchung widerstehen? Und die Kriegsgegner haben ständig das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, Gründe finden zu müssen, um ihre Haltung zu untermauern. Ich suche ständig nach Bestärkung. Ich hasse diesen Krieg instinktiv. Er ist unmoralisch. Aber immer wieder kriegt man das Gefühl ... jedes Mal, wenn jemand getötet wird, fühlt man es ... was kannst Du machen, Du bist Teil einer Gemeinschaft, und die Kriegstrommeln haben immer ihre Wirkung gehabt. Daher bin ich über die Leute auf der Linken nicht überrascht.
Roni Ben Efrat im Interview mit Meron Benvenisti
Fotos: Challenge
Betrachten wir noch einmal Ihre Analyse, so frage ich mich, ob Sie nicht etwas übersehen, das wirklich neu ist. Bis heute hat Israel in allen Kriegen gegen arabischen Nationalismus gekämpft. Die jetzigen Kriege im Libanon und in Gaza gehen gegen fundamentalistische islamistische Strömungen. Ist das nicht neu?
Ich halte das für eine Erfindung aller möglichen Arabisten, die es zweckdienlich fanden, einen Zusammenstoß der Kulturen zu erfinden. Ich akzeptiere das nicht.
Warum?
Hamas ist, was sie ist, aber deshalb ist es noch nicht nötig, sie aufzuwerten, um die Behauptung zu rechtfertigen, man würde gegen den islamistischen Fundamentalismus kämpfen.
Aber vielleicht sind sie nicht rational!
Dann stell sie auf die Probe. Man sucht nach nicht-rationalen Anteilen, aber man hat nie nach den rationalen gesucht.
Nimm z.B. die Provokation durch (den Führer der Hizb´ollah Hassan) Nasrallah.
Auch diese kann man als rational betrachten. Israel hatte ihm Kuntar versprochen. (Samir Kuntar, ein libanesischer Untergrundkämpfer ist seit 1979 wegen des Mordes an drei Mitgliedern einer Familie in der nordisraelischen Stadt Nahariya in Haft.) Sie haben Kuntar versprochen und ihr Versprechen nicht gehalten. In den Verhandlungen über die Freilassung von (Elhanan) Tennenbaum hat Israel über den deutschen Vermittler versprochen, Kuntar würde bei der nächsten Runde freigelassen. Aber man wollte den Eindruck vermeiden, es gebe einen direkten Zusammenhang. Seitdem hat die Hizb´ollah weiter versucht Soldaten zu entführen, um seine Freilassung zu erreichen. Wenn Sie also eine rationale Begründung finden wollen, haben Sie jetzt eine. Aber Israel will das nicht als rationalen Grund anerkennen.
Oder nehmen Sie eine andere Reaktion. Was ist mit der Geschichte, sie hätten den Krieg damit begonnen, uns zu beschießen. Als Ablenkungsmanöver haben sie (während ihres Angriffs am 12. Juli) zwei Moshaws beschossen. Aber es war die israelische Regierung, die in derselben Nacht beschlossen hat, den internationalen Flughafen in Beirut zu bombardieren. Sehen Sie, bei dieser Art Diskussion ist die Frage immer: "Wer hat angefangen?" Was ist die Ursache und was ist die Folge? Da gibt es keine Gleichzeitigkeit. Was wir "Ursache" nennen, nennen sie "Folge und umgekehrt. Ihre Reihenfolge ist eine andere als unsere. Die Tatsachen sind dieselben, aber die Ursachen werden zu Konsequenzen und die Konsequenzen zu Ursachen.
Sicher hat es eine Provokation durch die Hizb´ollah gegeben, aber die Frage betrifft die Reaktion. Zunächst gab es eine begrenzte Reaktion. Dann hat sich am Abend die Regierung zusammengesetzt und entschieden, Beirut zu bombardieren. Angenommen, wir lassen die Sequenz mit dieser Entscheidung in Israel beginnen. Niemand in Israel fängt auch nur damit an, die Sequenz auf diese Art zu denken, aber das ist genau die Art, wie die Hizb´ollah sie sieht. Sie sagen bis heute, der Krieg habe begonnen, weil wir angefangen haben, Beirut zu bombardieren.
Es gibt die eine Darstellung und die andere. Ich behaupte, dass man auch bei Spinnern wie der Hizb´ollah rationale Einstellungen findet. Ich bin nicht gezwungen, den Konflikt in einen Zusammenstoß der Kulturen zu übersetzen, wenn ich nicht sicher bin, dass dies eine Erklärung bietet und nicht nur als Vorwand dient. Im vorliegenden Fall sage ich, es ist ein Vorwand.
Einige behaupten, die Hizb´ollah wolle den Konflikt anheizen, weil sie, nachdem Israel den Libanon verlassen hat, ihre Rechtfertigung verloren habe, als unabhängig von der libanesischen Armee agierende bewaffnete Miliz zu existieren.
Sehen Sie, ich sag den Leuten nicht, was sie machen sollen. Ich finde es amüsant, dass wir hingehen, um den Libanesen beizubringen, was Souveränität ist. Alle unsere Konzepte von Souveränität sind künstlich, wie die Annahme, dass diese Grenzlinie "unsere Souveränität" repräsentiert, als sei das einzige denkbare System das, in dem wir leben. Sie haben ein anderes. Sie haben die Vereinbarung von Taif (1989), die die Macht zwischen ihnen aufteilt. Für sie ist nationale Souveränität nichts Heiliges. Auch nicht die Armee. Im Libanon war die Armee immer ohne Wert. Das militärische Ethos interessiert sie nicht. Nun sind im Libanon mindestens 40 % Shiiten und das libanesische System behandelt sie als Menschen zweiter Klasse. So ist es gemäß dem Nationalpakt [1] aufgebaut, der eine demographische Fiktion zu einer nationalen verwandelt hat. Die Shiiten haben die Hizb´ollah als ihre Vertretung; die haben wir übrigens erfunden, weil die frühere Repräsentantin der Shiiten, die Amal, uns nicht gut genug war. Wir haben sie genauso erfunden, wie wir Hamas erfunden haben. Jetzt erhebt sich der Golem plötzlich und, sieh an, er ist fundamentalistisch! Er besteht aus einer Armee und einem Netz sozialer Dienstleistungen, eine Folge der Tatsache, dass es keinen libanesischen Staat gibt, der solche Dinge anbietet. Dann finden wir 18 Volksgruppen, die in Frieden oder einem quasi-Frieden leben nach Jahren des Bürgerkriegs und das, was sie alle wollen, ist keine Gewalt mehr. Und dann soll ich ihnen beibringen, sie sollten eine Armee haben? Man will ihre Politik manipulieren? Weil man dachte, man könne dies tun, hat man diesen Krieg angefangen. Es hat mit der Annahme angefangen, wir könnten, indem wir die Leute zu Flüchtlingen machen und als Hebel benutzen, soviel Druck aufbauen, dass sich alle gegen Nasrallah wenden. Viermal haben wir diesen Stunt probiert, aber er funktioniert nicht. Warum nicht? Weil dieser Mann, Nasrallah, tief im libanesischen System verwurzelt ist. Welchem souveränen Staat ist es egal, ob seine Fahne an der Grenze weht? Aber ihnen ist es wirklich egal.
Wie hätte eine kluge israelische Reaktion auf die Provokation ausgesehen?
Der Hizb´ollah begrenzt und regional eins auf den Kopf zu geben. Hätten wir einige ihrer Stellungen zerstört, hätten sie keine Katyushas abgeschossen. Aber das hat ihnen (den Israelis) nicht gereicht. Sie mussten ihre Abschreckungsmacht wiederherstellen! Abschreckung von wem? Und wie will man sie wiederherstellen? Entweder hat man sie oder man hat sie nicht. Als man versucht hat, die Palästinenser abzuschrecken, sind sie in Panik verfallen? 2002 (bei der Operation, die Israel "Schutzschild" genannt hat) hat man versucht, ihnen Furcht ins Bewusstsein zu brennen. Hat das funktioniert? In Wirklichkeit ist man aufs Kreuz gelegt worden. Jedes Mal ist man aufs Kreuz gelegt worden. Und trotz der Veränderungen in den arabischen Haltungen lebt man weiter mit der fixen Idee, jeder sei gegen einen. Das ist eine extrem rationale Herangehensweise, die israelische Herangehensweise, nicht wahr? Im Gegensatz zu dem, was man über Nasrallah sagt, sind wir natürlich immer die Rationalen.
Hier kommt die große Vernunft der israelischen Regierung: Überhöhe weiter die Bedeutung des Krieges, damit er dem Preis an Menschenleben entspricht, und hoffe, dass die Leute es glauben. Das Geschwätz vom Fundamentalismus soll letztlich das Lagerfeuer des Stammes schüren.
Was ist mit der Theorie des Stellvertreterkriegs - dass es sich hier um eine Generalprobe für einen zukünftigen Krieg zwischen USA und Iran handelt?
(Abwehrende Geste) Verschwörungstheorien kann man sich immer ausdenken. Aber angenommen, wir nehmen das ernst, warum muss man ein amerikanischer Söldner sein? Muss man der sein, der den Kampf gegen den Iran anführt?
Vielleicht will Israel dem Iran zeigen, was es kostet, mit ihm zu spielen?
Weiß der Iran das nicht schon? Wir haben keine Grenze mit dem Iran. Wir können ihn angreifen, aber sie werden uns nicht angreifen. So sehe ich das. Vor einigen Monaten hat Olmert über den Iran gesagt: "Das ist nicht mein Krieg. Hier stehen wir an der Seite der ganzen westlichen Welt." Und jetzt ist es plötzlich unser Krieg?
Und wenn es uns gelingt, eine Verbindung mit dem Iran nachzuweisen? Hilft das, die Hizb´ollah zu besiegen? Aus meiner Sicht kommt dieses ganze Gerede über den Iran daher, dass es unangenehm ist zuzugeben, dass man von einer idiotischen Organisation wie Hizb´ollah mit 3.000 Kämpfern besiegt wird. Also muss man nach einem globalen Zusammenhang suchen.
Hätte Israel irgendein Gespür dafür, hätte es von Anfang an gewusst, dass es sie nicht schlagen kann, denn es ist ein Guerillakrieg. Die Guerilla sitzt nicht rum und wartet auf Dich. Sie verschwindet und taucht wieder auf. Gerade heute wurden zwei weitere israelische Soldaten in Bint Jbeil getötet. Die Armee hatte es bereits dreimal "gesäubert". Wie erklärt man die Tatsache, dass sie immer wieder auftauchen? Und jetzt gibt es eine neue Entschuldigung: Das ist nicht, weil sie große Helden sind, es sind die Panzerabwehrraketen, die sie vom Iran bekommen haben. Sie kämpfen nicht mit Schwertern gegen uns!
Wir würden jetzt gern die palästinensische Seite des Konflikts betrachten. Der Krieg ist auf zwei Schauplätzen ausgebrochen, Gaza und Libanon. Von beiden hatte sich Israel unilateral zurückgezogen. Denken Sie, der Krieg hat das Konzept unilateralen Rückzugs beerdigt?
Rückzug interessiert mich nicht, der Unilateralismus beschäftigt mich. Unilateralismus ist eine arrogante israelische Konzeption, derzufolge ich tun kann, was mir gefällt, und die Araber werden es einfach ertragen müssen - wenn nicht, sind sie Antisemiten. Dieser Krieg ist geschehen, weil die Israelis keinen Preis bezahlen wollen. Sich auf Grundlage eines Abkommens aus dem Libanon zurückzuziehen, hätte einen Vertrag mit Syrien erfordert. Hätten sie einen Vertrag mit Syrien geschlossen (oder im Falle Gazas mit den Palästinensern) würden wir nicht erleben, was wir heute erleben. Aber sie wollten den Preis für einen Vertrag mit Syrien (nämlich die Golanhöhen) nicht zahlen, darum haben sie gesagt: "Wir ziehen uns auf die internationale blaue Grenze zurück. Wir geben den Libanon bis auf den letzten Zentimeter zurück!"
Das israelische Konzept definiert Souveränität nach israelischen Bedingungen. Wir können nicht auf ewig Syriens Souveränität auf dem Golan verweigern und im gleichen Atemzug darüber jammern, dass die Hizb´ollah über die blaue Grenze kommt. Wie kann man das tun, ohne rot zu werden?
Diese ganze Geschichte mit der blauen Grenze, der internationalen Grenze - warum muss ich zwischen ihnen und uns trennen? Lass uns ein Verfahren entwickeln, wie ich nicht aufteilen muss. Was wird der Preis dafür sein? Ein Abkommen mit Syrien? Prima. Eine Libanon-interne Vereinbarung, in der sie die Shiiten nicht aufs Kreuz legen? Prima. Warum müssen diese fetten Katzen in Junia meine Verbündeten sein? Warum fühle ich mich nicht den Shiiten in Nabatia mehr verbunden? Wer hat die Shiiten zu meinem Feind gemacht? Warum?
Die gleichen Überlegungen gelten für Gaza. Man gibt vor, indem man sich auf die internationale Grenze zurückgezogen hat, sei man vor 1,5 Millionen Palästinensern geflüchtet, die das demographische Gleichgewicht verändern (noch ein Schreckgespenst!),. Aber was ist Gaza? Ein Staat von Flüchtlingen? Woher sind sie gekommen? Man selbst hat sie 1948 zu Flüchtlingen gemacht. Man kann nicht plötzlich sagen: "Für mich sind sie wie Inder in Kalkutta." Solche Worte sind Heuchelei und wir treffen auf sie, nebenbei gesagt, auch unter Linken. Das ist eine Haltung, die alle Israelis vereint, außer jenen ganz außen. Das Wort "Besatzung" ist eine Ausflucht, denn Besatzung ist etwas vorübergehendes, etwas, was einmal endet.
Was würden Sie stattdessen sagen?
Vorherrschaft, quasi-permanent. Dies ist ein integraler Bestandteil des Herrschaftsapparats, der uns de facto zu einem binationalen Staat gemacht hat. Es gibt eine binationale Realität, die man umgeht, etwas quasi Dauerhaftes, das man umgeht, indem man es "Besatzung" nennt oder "Algerien" oder "Kolonialismus". Ich sage, es macht keinen echten Unterschied, ob man einen Zaun baut oder nicht, weil man sowieso auf beiden Seiten regiert. Oder wenn man auf der anderen Seite die Kontrolle aufgibt, geschieht das nur, wenn man sicher ist, dass dort nicht das entsteht, was man einen "terroristischen Staat" nennen würde, der die eigene Dominanz behindert. Der gegenwärtige Krieg schreibt dies fort. Zeig mir heute jemand, der gegen meine These eines de facto Binationalismus argumentiert, gegen die Unumkehrbarkeit, dessen, was getan wurde. Es wird lange dauern, diesen nationalen Konsens abzubauen, der Sobol und Bibi verbindet.
Aber macht dies die Lage unumkehrbar?
Schauen Sie, vielleicht, nur vielleicht hätte es (in der Westbank - d.Ü.) eine Entwicklung wie in Gaza geben können. Die Leute haben nicht darüber gesprochen, bevor der Krieg ausbrach. Jeder war sicher, dass der Convergence Plan durchgeführt würde. Jetzt gibt es nicht mehr die geringste Chance. Sie werden sich die Wunden dieses Krieges lecken und sich im nationalen Konsens suhlen.
Aber Sie schreiben, der Umschwung würde schnell kommen. Dann würde es keinen nationalen Konsens geben.
Die Diskussion wird darum gehen, wie der Krieg geführt wurde, nicht um seine Ziele oder Gründe. Sie werden sagen, er war gerechtfertigt, aber er wurde entsetzlich durchgeführt. Sehr wenige werden bereit sein, sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Krieg und der Sache der Palästinenser zu beschäftigen.
Und es gibt noch einen anderen Grund sich nicht mit diesem Thema zu beschäftigen. Geld. Es wird Jahre dauern, diesen Krieg zu bezahlen. Wer wird die Kosten tragen? Wird man ihn gleichzeitig mit dem convergence plan finanzieren können? Der convergence plan hätte 70 Milliarden Schekel (ca. 16 Milliarden US-$) gekostet. Wer wird jetzt das Geld dafür geben?
Und es gibt noch einen weiteren Faktor: Die Legitimierung von Orange! (Orange ist die Farbe der rechten Protestbewegung gegen die Räumung der Siedlungen.) Sie, diese Orangen, kämpfen dort, sie werden dort getötet, diese Orangen. Sie kämpfen für Dich und Du willst sie aus ihren Häusern vertreiben? All diese Faktoren schaffen eine Situation, in der - falls irgendwas hätte geschehen sollen, dann ist es jetzt um weitere 20 Jahre nach hinten gestellt. Wie viele 20er Reihen hat man? Wenn man bei Hundert ist, kann man das dann immer noch eine vorübergehende Besatzung nennen? 40 hat man bereits erreicht.
In einem vor dem Krieg erschienenen Artikel mit der Überschrift "Ich Glücklicher, ich bin Waise" (Ha´aretz, 15.06.2006) haben Sie behauptet, in Anbetracht des demographischen Drucks von 12 Millionen Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer gäbe es keine Möglichkeit mehr, den Konflikt mit einer Zwei-Staaten-Lösung zu beenden. Sie haben auf die begrenzten natürlichen Ressourcen hingewiesen, die unter allen aufgeteilt werden müssen, aber Sie haben auch ein weiteres Hindernis erwähnt: die über die Jahre gewachsene große ökonomische Kluft zwischen Israelis und Palästinensern. Was soll dann die Lösung sein? Auch wenn wir statt dessen über einen Staat sprechen, bliebe die Kluft.
Wir müssen uns alles als eine einzige Einheit vorstellen, mit enormen Klüften in jedem Bereich des Lebens und wir müssen diese Klüfte angehen. Wir müssen uns verhalten, als gehe es um ein Armutsproblem, als hätten wir mit Leuten zu tun, denen die Bürgerrechte vorenthalten werden. Anfangen, mit den jetzt vorhandenen Problemen zu arbeiten, wie sie es in Südafrika gemacht haben. Ich spreche von dem Standpunkt, den man einnehmen muss. Es ist klar, dass sich der israelische Staat so etwas widersetzen wird, aber wenn es eine Linke gibt, die wachsam auf Ungleichheit reagiert, dann muss das deren Standpunkt sein.
Aber da gibt es natürlich ein Problem: die Palästinenser wollen es nicht. Sie wollen Selbstbestimmung. Sie wollen nicht gleich sein. Und diese Entscheidung kann man nicht für sie treffen. Doch dieses Problem wird kleiner, weil viele anfangen, die Situation so zu sehen. Nach dem Krieg wird man mehr Palästinenser finden, die sagen, dass es keine Chance für zwei Staaten gibt. Es soll nicht sein. Der nächste Schritt wird sein zu sagen: "Annektiert uns! Wir wollen Bürgerrechte!" Dann wird ein klassischer Kampf der radikalen, sozialistischen und liberalen Öffentlichkeiten beginnen, die Gleichheit erreichen wollen. Und dann werden alle möglichen Probleme auftreten, Alltagsprobleme, die viel schwieriger und komplizierter sind als die Parole "Zwei Staaten für zwei Völker". Wenn es zwei Staaten gibt, kann man sagen: "Was geht mich Gaza an? Das ist ein anderes Land. Interessiert mich Bangladesh?" Aber wenn Du anfängst zu begreifen, dass Gaza ein Teil von Dir ist, ein Teil, mit dem Du zu Rande kommen musst, dann musst Du mit dem umgehen, was dort jeden Tag passiert. Du kannst es nicht zurückstellen, Dich selbst damit reinlegen, dass es eine koloniale Besatzung ist und dass Du, wenn diese vorbei ist, eine Grenze ziehst.
Doch es hat eine Zeit gegeben, in der Sie gesagt haben, Westbank und Gaza seien die Verantwortung der PLO und sich um diese zu kümmern, sei deren Angelegenheit.
Ja, aber wir haben den Zug verpasst.
Schon in den 80ern, noch bevor die PLO zu einer korrupten Regierung wurde, haben Sie die Situation irreversibel genannt.
Die PLO hat noch eine Chance bekommen und sie verpatzt.
Meinen Sie wirklich, Oslo habe der PLO noch eine Chance gegeben?
Schauen Sie, die PLO hat etwas bekommen. Wenn sie die Dinge ordentlich geregelt hätte, hätten wir vielleicht so was bekommen wie in Belgien. Dort hat sich der französische Süden gegenüber den Flamen verhalten, als wären sie Dreck. Doch mit einer vernünftigen Führung hat Schritt für Schritt eine Veränderung stattgefunden: Die Franzosen wichen zurück und die Flamen traten hervor. Aus meiner Sicht war der Schritt, der besagte: "Ich gebe diesen Leuten eine kommunale Identität", genannt die Palästinensische Autonomiebehörde, eine positive Entwicklung, aus der man mehr hätte machen können.
Könnten wir uns wieder der Frage nach der Zukunft zuwenden?
Alles, was ich sage, ist Folgendes: Nur um des Arguments Willen wollen wir es mit einem anderen Paradigma versuchen. Ich sage nicht, ich habe Recht, aber wenn sie die Realität nicht als eine Frage der Besatzung sondern der Vorherrschaft betrachten, in der eine Gemeinschaft, die jüdische, eine andere, die Palästinenser, in einer quasi-permanenten Art und Weise dominiert, und dies nicht beseitigt werden kann, indem man einen eisernen Vorhang herablässt, dann muss man sich um die alltäglichen Probleme kümmern, die viel schwieriger sind.
Für die Linke ist es schwer zu ertragen festzustellen, dass sie den Prozess hätte umkehren können und es jetzt zu spät ist. Deshalb ist ein großer Teil der Linken nicht bereit, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen. Und dann passt es gut, sich hinter dem alten Konzept der Besatzung zu verstecken. Im 40. Jahr, das nur noch neun Monate entfernt ist, brauchen wir jemanden, der aufsteht und sagt, "Hey, Freunde, wisst Ihr was? Lasst uns mal die Möglichkeit betrachten, dass dieses Konzept den Status Quo unterstützt, und lasst uns versuchen, das Programm zu wechseln." Zu meinem großen Bedauern habe ich damit keinen Erfolg. Es ist zu schwierig.
Ich bin für das, was man "soft borders" [2] nennt. Feste, internationale Grenzen sind das unflexibelste auf der Welt und wenn man sie öffnet, schafft man Probleme. Wenn man z.B. feste Grenzen zieht, um einen kurdischen Staat im Irak zu bilden, dann schafft man Probleme in Syrien, der Türkei und dem Iran. Meine Philosophie handelt von soft borders. In der jetzigen Situation gibt es Grenzen, aber sie definieren keine Souveränität, verpflichten nicht zu einer eindeutigen Unterscheidung zwischen dem, was hier getan wird, und dem, was dort getan wird. Im Falle von "soft borders", sind die Leute verpflichtet, ein Gleichgewicht zwischen den Interessen der verschiedenen Gruppen zu schaffen. Doch heute ist das alles nur ein Traum. Der Krieg führt uns genau in die entgegen gesetzte Richtung.
Das Interview wurde am 7. August 2006, dem 27. Tag des zweiten Libanonkriegs geführt und erscheint in "Challenge" 99, Sept./Okt. 2006.
Meron Benvenisti hat u.a. die Bücher Jerusalem: The Torn City (1977); Conflicts and Contradictions: Israel, the Arabs and the West Bank (1986); Intimate Enemies: Jews and Arabs in a Shared Land (1995); City of Stone: The Hidden History of Jerusalem (1996); and Sacred Landscape: The Buried History of the Holy Land since 1948 (2000) veröffentlicht. Sein neuestes Werk Son of the Cypresses: Memoirs, Reflections and Regrets soll im April 2007 bei UC Press erscheinen.
Aus dem Englischen von Endy Hagen
[1] Mit dem Nationalpakt wurde 1943 die politische Macht nach einem noch heute gültigen konfessionellen Proporz verteilt. Damals stellten Christen und Sunniten die größten Bevölkerungsgruppen, während die Schiiten nur eine Nebenrolle spielten. - d.Ü.
[2] Der Begriff "soft borders" wurde im April 2005 geprägt, als eine Buslinie zwischen zwei Grenzstädten Indiens und Pakistans eröffnet wurde. Sie erlauben leichten Zugang für Menschen und Waren und die unkomplizierte Erteilung von Einreisevisa. - d.Ü.
Online-Flyer Nr. 61 vom 12.09.2006
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Krieg und Frieden
Interview mit Meron Benvenisti über Israel als "Fremdkörper in der Region"
"Je weniger heroisch, desto besser"
Von Roni Ben Efrat und Stephen Langfur
Benvenisti behauptete, aufgrund der Siedlungen (im Vergleich zu heute damals kaum der Rede wert) würde die Lage unumkehrbar. Als logische Konsequenz hat er lange behauptet, angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten, was Bevölkerung und Ressourcen anginge, könne das Land zwischen Jordan und Mittelmeer keine zwei Staaten beherbergen.
Meron Benvenisti: "Ich bin für das, was man "soft borders" nennt."
Frage: In der Ha´aretz vom 26. Juli 2006 haben Sie in einem Artikel mit der Überschrift "Die Wende kommt" geschrieben: "Der größte Verlierer wird das israelische Volk sein, das durch eine überzogene Reaktion auf eine Provokation seine Stellung als Fremdkörper in der Region verfestigt hat, als der Tyrann der Nachbarschaft, das Objekt ohnmächtigen Hasses." Meinen Sie, der Krieg wurde ihm nicht durch die Umstände aufgezwungen?
Antwort: Natürlich wurde er das nicht. Kein Krieg wird einem durch äußere Umstände aufgezwungen. In diesem Fall waren die Antwort und ihr Ausmaß in keiner Weise zwingend erforderlich. Aber unsere Antwort ist immer dieselbe und wir lassen sie sich dann immer selbst rechtfertigen und nennen es einen Kampf ums Überleben. Und jemand wie ich, der siebzig Jahre in diesem Land gesessen hat, hat es ziemlich satt. Wenn das wirklich unser Schicksal sein soll, jedes Mal einen Krieg zu führen, bei dem es um unsere Existenz geht, jedes Mal einen Feind finden zu müssen, der sich pünktlich erhebt, um uns zu zerstören, so dass wir uns erheben und ihn zerstören müssen - und wenn das ewig so weitergehen muss - dann war das ganze Unternehmen ein Fehler. Eine Gesellschaft kann nicht so lange in solchen Kämpfen leben, und die Wahrheit ist, dass sie auch nicht wirklich so lebt. Eines der Dinge, von denen ich denke, dass sie vielleicht das zionistische Unternehmen retten werden, ist die Tatsache, dass die jüdische Öffentlichkeit nicht bereit ist, dies zu ertragen. Sie ist nicht bereit, sich um die Vorstellungen einer Generation zu versammeln, die mit diesem Staat aufgewachsen ist, Leuten wie (Premierminister Ehud) Olmert und anderen. Die Öffentlichkeit hat ein völlig anderes Bild von der Welt, darum reagiert sie anders. Z.B. sagt man von Tel Aviv, es lebe in einer Seifenblase. Im Gegenteil, es lebt ein normales Leben Die Tatsache, dass andere Leute die Bevölkerung zwingen wollen, in steter Mobilisierung zu leben, als müsse sie immer ums Überleben kämpfen, bedeutet nicht, dass sie jedes Mal gehorchen muss. Da hoffe ich, dass die Bevölkerung klüger ist als ihre Anführer und das gerade aufgrund weniger heroischer Vorstellungen. Je weniger heroisch, desto besser.
Ich stehe auch nicht hinter der Auffassung, wir müssten irgendwas irgendwem in sein Bewusstsein einbrennen. Wir werden ständig aufgefordert, irgendwas in das Bewusstsein unserer Feinde einzubrennen. Wir haben in das Bewusstsein des Feindes Sachen bis zu einem Punkt eingebrannt, wo wir als Nation schlicht geistesgestört sind. Der Tyrann der Nachbarschaft. Will ich den Libanon zerstören? Ich will ein Freund des Libanons sein. Für mein Leben gern würde ich in den Libanon fahren. Ich möchte in Verbindung mit seiner Kultur treten. Was soll das dann? Muss ich sie töten?
Während der Wahlkampagne hat Ehud Olmert, dass, was wir anstreben, als "ein Land" definiert, "in dem es Spaß macht zu leben". Man hatte das Gefühl, dass er die obere Mittelschicht repräsentiert, die weiterkommen und die Wirtschaft und sich selbst voranbringen will - egal, was mit den Armen oder den Arabern ist. Einer bestimmten sozialen Schicht macht das Leben hier Spaß. Jetzt kommt plötzlich der Krieg und wirft das ganze Projekt zurück. Es ist eindeutig nicht gut für die Wirtschaft, für Israel. Wie analysieren Sie diesen Richtungswechsel?
Wenn Sie sich die israelische Geschichte anschauen, werden Sie sehen, dass jedes Mal, wenn sich die Fahne sozialer Veränderung zu erheben begann, irgendetwas von außen kam, dass die Führungsgruppe als Bedrohung wahrnehmen konnte. Es liegt ihnen in den Genen. Sie sind das klassische Produkt der zionistischen Erziehung der 1950er und 60er Jahre, die das Prinzip etabliert hat, dass jeder Haltung annimmt, wenn die Armee pfeift.
Doch dieses Prinzip basiert (um Ihre Metapher des Nachbarschaftstyrannen weiterzuführen) auf einem bestimmten Verständnis davon, was in der Nachbarschaft los ist. Ist dieses Verständnis nicht richtig?
Ist es nicht. Hören Sie sich z.B. an, wie man (Israel) darüber spricht, die arabischen Länder "abzuschrecken". Wie viele arabische Länder befinden sich noch mit uns im Krieg? Haben wir heute ein Problem mit Ägypten? Mit Jordanien, Saudi Arabien, Irak? Mit Syrien? Es gibt nicht mehr "die arabische Welt" gegen uns. Also erfinden sie ein neues Schreckgespenst: Iran! Jetzt müssen wir uns mit dieser neuen Sache auseinandersetzen - aber was willst Du mit den arabischen Ländern machen, die Dich letztlich gegen den Iran auf ihrer Seite haben wollen? Warum muss man weiter auf "der arabischen Welt" herumreiten? Warum kehrt man zu den Ideen der 50er und 60er Jahre zurück? Weil es zweckdienlich ist. Es rückt die Realität wieder in die gewohnte Bahn zurück: Es gibt einen Krieg ums Überleben, Du stehst allein gegen die arabische Welt und darum kannst Du hingehen und jeden Araber töten. Bei diesem ganzen Gerede über die arabische Welt, kannst Du das wirkliche Problem umgehen: die Sache mit den Palästinensern. Der Libanonfeldzug ist zweitrangig. Danny Rubinstein hat ihn heute in der Ha´aretz eine Metastase des palästinensischen Konflikts genannt.
Warum braucht man dann (einen Krieg gegen) die arabischen Staaten? Weil man damit die Bevölkerung einen kann. Der Krieg gegen die Palästinenser spaltet uns in rechts und links. Kämpfen im Libanon, da schwelgt man im nationalen Konsens. Schau nur, wie die Leute neulich auf Olmert losgegangen sind, als er wagte, seinen Convergence Plan wieder zu erwähnen. "Wir genießen grade den schönen warmen Whirlpool eines Libanonkriegs" Warum sollen wir an diesen anderen Konflikt denken?"
Heute, am 7. August 2006, erfreuen sich Olmert und (Verteidigungsminister) Amir Peretz breiter öffentlicher Unterstützung, aber das Interessante ist, dass selbst stramme Linke den Krieg unterstützen, Leute wie der Dramatiker Yehoshua Sobol und der Dichter Ilan Sheinfeld, die sich sehr gegen die Besatzung von Westbank und Gaza wenden. Auch sie schlagen die Hacken zusammen -
Sehen Sie, die Linke will Teil des Konsens sein, wie im letzten Libanonkrieg, und hier bekommt sie die Möglichkeit, sich auf die Seite der Bevölkerung zu stellen, statt mit ihr zu streiten. Wer kann dieser Versuchung widerstehen? Und die Kriegsgegner haben ständig das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, Gründe finden zu müssen, um ihre Haltung zu untermauern. Ich suche ständig nach Bestärkung. Ich hasse diesen Krieg instinktiv. Er ist unmoralisch. Aber immer wieder kriegt man das Gefühl ... jedes Mal, wenn jemand getötet wird, fühlt man es ... was kannst Du machen, Du bist Teil einer Gemeinschaft, und die Kriegstrommeln haben immer ihre Wirkung gehabt. Daher bin ich über die Leute auf der Linken nicht überrascht.
Roni Ben Efrat im Interview mit Meron Benvenisti
Fotos: Challenge
Betrachten wir noch einmal Ihre Analyse, so frage ich mich, ob Sie nicht etwas übersehen, das wirklich neu ist. Bis heute hat Israel in allen Kriegen gegen arabischen Nationalismus gekämpft. Die jetzigen Kriege im Libanon und in Gaza gehen gegen fundamentalistische islamistische Strömungen. Ist das nicht neu?
Ich halte das für eine Erfindung aller möglichen Arabisten, die es zweckdienlich fanden, einen Zusammenstoß der Kulturen zu erfinden. Ich akzeptiere das nicht.
Warum?
Hamas ist, was sie ist, aber deshalb ist es noch nicht nötig, sie aufzuwerten, um die Behauptung zu rechtfertigen, man würde gegen den islamistischen Fundamentalismus kämpfen.
Aber vielleicht sind sie nicht rational!
Dann stell sie auf die Probe. Man sucht nach nicht-rationalen Anteilen, aber man hat nie nach den rationalen gesucht.
Nimm z.B. die Provokation durch (den Führer der Hizb´ollah Hassan) Nasrallah.
Auch diese kann man als rational betrachten. Israel hatte ihm Kuntar versprochen. (Samir Kuntar, ein libanesischer Untergrundkämpfer ist seit 1979 wegen des Mordes an drei Mitgliedern einer Familie in der nordisraelischen Stadt Nahariya in Haft.) Sie haben Kuntar versprochen und ihr Versprechen nicht gehalten. In den Verhandlungen über die Freilassung von (Elhanan) Tennenbaum hat Israel über den deutschen Vermittler versprochen, Kuntar würde bei der nächsten Runde freigelassen. Aber man wollte den Eindruck vermeiden, es gebe einen direkten Zusammenhang. Seitdem hat die Hizb´ollah weiter versucht Soldaten zu entführen, um seine Freilassung zu erreichen. Wenn Sie also eine rationale Begründung finden wollen, haben Sie jetzt eine. Aber Israel will das nicht als rationalen Grund anerkennen.
Oder nehmen Sie eine andere Reaktion. Was ist mit der Geschichte, sie hätten den Krieg damit begonnen, uns zu beschießen. Als Ablenkungsmanöver haben sie (während ihres Angriffs am 12. Juli) zwei Moshaws beschossen. Aber es war die israelische Regierung, die in derselben Nacht beschlossen hat, den internationalen Flughafen in Beirut zu bombardieren. Sehen Sie, bei dieser Art Diskussion ist die Frage immer: "Wer hat angefangen?" Was ist die Ursache und was ist die Folge? Da gibt es keine Gleichzeitigkeit. Was wir "Ursache" nennen, nennen sie "Folge und umgekehrt. Ihre Reihenfolge ist eine andere als unsere. Die Tatsachen sind dieselben, aber die Ursachen werden zu Konsequenzen und die Konsequenzen zu Ursachen.
Sicher hat es eine Provokation durch die Hizb´ollah gegeben, aber die Frage betrifft die Reaktion. Zunächst gab es eine begrenzte Reaktion. Dann hat sich am Abend die Regierung zusammengesetzt und entschieden, Beirut zu bombardieren. Angenommen, wir lassen die Sequenz mit dieser Entscheidung in Israel beginnen. Niemand in Israel fängt auch nur damit an, die Sequenz auf diese Art zu denken, aber das ist genau die Art, wie die Hizb´ollah sie sieht. Sie sagen bis heute, der Krieg habe begonnen, weil wir angefangen haben, Beirut zu bombardieren.
Es gibt die eine Darstellung und die andere. Ich behaupte, dass man auch bei Spinnern wie der Hizb´ollah rationale Einstellungen findet. Ich bin nicht gezwungen, den Konflikt in einen Zusammenstoß der Kulturen zu übersetzen, wenn ich nicht sicher bin, dass dies eine Erklärung bietet und nicht nur als Vorwand dient. Im vorliegenden Fall sage ich, es ist ein Vorwand.
Einige behaupten, die Hizb´ollah wolle den Konflikt anheizen, weil sie, nachdem Israel den Libanon verlassen hat, ihre Rechtfertigung verloren habe, als unabhängig von der libanesischen Armee agierende bewaffnete Miliz zu existieren.
Sehen Sie, ich sag den Leuten nicht, was sie machen sollen. Ich finde es amüsant, dass wir hingehen, um den Libanesen beizubringen, was Souveränität ist. Alle unsere Konzepte von Souveränität sind künstlich, wie die Annahme, dass diese Grenzlinie "unsere Souveränität" repräsentiert, als sei das einzige denkbare System das, in dem wir leben. Sie haben ein anderes. Sie haben die Vereinbarung von Taif (1989), die die Macht zwischen ihnen aufteilt. Für sie ist nationale Souveränität nichts Heiliges. Auch nicht die Armee. Im Libanon war die Armee immer ohne Wert. Das militärische Ethos interessiert sie nicht. Nun sind im Libanon mindestens 40 % Shiiten und das libanesische System behandelt sie als Menschen zweiter Klasse. So ist es gemäß dem Nationalpakt [1] aufgebaut, der eine demographische Fiktion zu einer nationalen verwandelt hat. Die Shiiten haben die Hizb´ollah als ihre Vertretung; die haben wir übrigens erfunden, weil die frühere Repräsentantin der Shiiten, die Amal, uns nicht gut genug war. Wir haben sie genauso erfunden, wie wir Hamas erfunden haben. Jetzt erhebt sich der Golem plötzlich und, sieh an, er ist fundamentalistisch! Er besteht aus einer Armee und einem Netz sozialer Dienstleistungen, eine Folge der Tatsache, dass es keinen libanesischen Staat gibt, der solche Dinge anbietet. Dann finden wir 18 Volksgruppen, die in Frieden oder einem quasi-Frieden leben nach Jahren des Bürgerkriegs und das, was sie alle wollen, ist keine Gewalt mehr. Und dann soll ich ihnen beibringen, sie sollten eine Armee haben? Man will ihre Politik manipulieren? Weil man dachte, man könne dies tun, hat man diesen Krieg angefangen. Es hat mit der Annahme angefangen, wir könnten, indem wir die Leute zu Flüchtlingen machen und als Hebel benutzen, soviel Druck aufbauen, dass sich alle gegen Nasrallah wenden. Viermal haben wir diesen Stunt probiert, aber er funktioniert nicht. Warum nicht? Weil dieser Mann, Nasrallah, tief im libanesischen System verwurzelt ist. Welchem souveränen Staat ist es egal, ob seine Fahne an der Grenze weht? Aber ihnen ist es wirklich egal.
Wie hätte eine kluge israelische Reaktion auf die Provokation ausgesehen?
Der Hizb´ollah begrenzt und regional eins auf den Kopf zu geben. Hätten wir einige ihrer Stellungen zerstört, hätten sie keine Katyushas abgeschossen. Aber das hat ihnen (den Israelis) nicht gereicht. Sie mussten ihre Abschreckungsmacht wiederherstellen! Abschreckung von wem? Und wie will man sie wiederherstellen? Entweder hat man sie oder man hat sie nicht. Als man versucht hat, die Palästinenser abzuschrecken, sind sie in Panik verfallen? 2002 (bei der Operation, die Israel "Schutzschild" genannt hat) hat man versucht, ihnen Furcht ins Bewusstsein zu brennen. Hat das funktioniert? In Wirklichkeit ist man aufs Kreuz gelegt worden. Jedes Mal ist man aufs Kreuz gelegt worden. Und trotz der Veränderungen in den arabischen Haltungen lebt man weiter mit der fixen Idee, jeder sei gegen einen. Das ist eine extrem rationale Herangehensweise, die israelische Herangehensweise, nicht wahr? Im Gegensatz zu dem, was man über Nasrallah sagt, sind wir natürlich immer die Rationalen.
Hier kommt die große Vernunft der israelischen Regierung: Überhöhe weiter die Bedeutung des Krieges, damit er dem Preis an Menschenleben entspricht, und hoffe, dass die Leute es glauben. Das Geschwätz vom Fundamentalismus soll letztlich das Lagerfeuer des Stammes schüren.
Was ist mit der Theorie des Stellvertreterkriegs - dass es sich hier um eine Generalprobe für einen zukünftigen Krieg zwischen USA und Iran handelt?
(Abwehrende Geste) Verschwörungstheorien kann man sich immer ausdenken. Aber angenommen, wir nehmen das ernst, warum muss man ein amerikanischer Söldner sein? Muss man der sein, der den Kampf gegen den Iran anführt?
Vielleicht will Israel dem Iran zeigen, was es kostet, mit ihm zu spielen?
Weiß der Iran das nicht schon? Wir haben keine Grenze mit dem Iran. Wir können ihn angreifen, aber sie werden uns nicht angreifen. So sehe ich das. Vor einigen Monaten hat Olmert über den Iran gesagt: "Das ist nicht mein Krieg. Hier stehen wir an der Seite der ganzen westlichen Welt." Und jetzt ist es plötzlich unser Krieg?
Und wenn es uns gelingt, eine Verbindung mit dem Iran nachzuweisen? Hilft das, die Hizb´ollah zu besiegen? Aus meiner Sicht kommt dieses ganze Gerede über den Iran daher, dass es unangenehm ist zuzugeben, dass man von einer idiotischen Organisation wie Hizb´ollah mit 3.000 Kämpfern besiegt wird. Also muss man nach einem globalen Zusammenhang suchen.
Hätte Israel irgendein Gespür dafür, hätte es von Anfang an gewusst, dass es sie nicht schlagen kann, denn es ist ein Guerillakrieg. Die Guerilla sitzt nicht rum und wartet auf Dich. Sie verschwindet und taucht wieder auf. Gerade heute wurden zwei weitere israelische Soldaten in Bint Jbeil getötet. Die Armee hatte es bereits dreimal "gesäubert". Wie erklärt man die Tatsache, dass sie immer wieder auftauchen? Und jetzt gibt es eine neue Entschuldigung: Das ist nicht, weil sie große Helden sind, es sind die Panzerabwehrraketen, die sie vom Iran bekommen haben. Sie kämpfen nicht mit Schwertern gegen uns!
Wir würden jetzt gern die palästinensische Seite des Konflikts betrachten. Der Krieg ist auf zwei Schauplätzen ausgebrochen, Gaza und Libanon. Von beiden hatte sich Israel unilateral zurückgezogen. Denken Sie, der Krieg hat das Konzept unilateralen Rückzugs beerdigt?
Rückzug interessiert mich nicht, der Unilateralismus beschäftigt mich. Unilateralismus ist eine arrogante israelische Konzeption, derzufolge ich tun kann, was mir gefällt, und die Araber werden es einfach ertragen müssen - wenn nicht, sind sie Antisemiten. Dieser Krieg ist geschehen, weil die Israelis keinen Preis bezahlen wollen. Sich auf Grundlage eines Abkommens aus dem Libanon zurückzuziehen, hätte einen Vertrag mit Syrien erfordert. Hätten sie einen Vertrag mit Syrien geschlossen (oder im Falle Gazas mit den Palästinensern) würden wir nicht erleben, was wir heute erleben. Aber sie wollten den Preis für einen Vertrag mit Syrien (nämlich die Golanhöhen) nicht zahlen, darum haben sie gesagt: "Wir ziehen uns auf die internationale blaue Grenze zurück. Wir geben den Libanon bis auf den letzten Zentimeter zurück!"
Das israelische Konzept definiert Souveränität nach israelischen Bedingungen. Wir können nicht auf ewig Syriens Souveränität auf dem Golan verweigern und im gleichen Atemzug darüber jammern, dass die Hizb´ollah über die blaue Grenze kommt. Wie kann man das tun, ohne rot zu werden?
Diese ganze Geschichte mit der blauen Grenze, der internationalen Grenze - warum muss ich zwischen ihnen und uns trennen? Lass uns ein Verfahren entwickeln, wie ich nicht aufteilen muss. Was wird der Preis dafür sein? Ein Abkommen mit Syrien? Prima. Eine Libanon-interne Vereinbarung, in der sie die Shiiten nicht aufs Kreuz legen? Prima. Warum müssen diese fetten Katzen in Junia meine Verbündeten sein? Warum fühle ich mich nicht den Shiiten in Nabatia mehr verbunden? Wer hat die Shiiten zu meinem Feind gemacht? Warum?
Die gleichen Überlegungen gelten für Gaza. Man gibt vor, indem man sich auf die internationale Grenze zurückgezogen hat, sei man vor 1,5 Millionen Palästinensern geflüchtet, die das demographische Gleichgewicht verändern (noch ein Schreckgespenst!),. Aber was ist Gaza? Ein Staat von Flüchtlingen? Woher sind sie gekommen? Man selbst hat sie 1948 zu Flüchtlingen gemacht. Man kann nicht plötzlich sagen: "Für mich sind sie wie Inder in Kalkutta." Solche Worte sind Heuchelei und wir treffen auf sie, nebenbei gesagt, auch unter Linken. Das ist eine Haltung, die alle Israelis vereint, außer jenen ganz außen. Das Wort "Besatzung" ist eine Ausflucht, denn Besatzung ist etwas vorübergehendes, etwas, was einmal endet.
Was würden Sie stattdessen sagen?
Vorherrschaft, quasi-permanent. Dies ist ein integraler Bestandteil des Herrschaftsapparats, der uns de facto zu einem binationalen Staat gemacht hat. Es gibt eine binationale Realität, die man umgeht, etwas quasi Dauerhaftes, das man umgeht, indem man es "Besatzung" nennt oder "Algerien" oder "Kolonialismus". Ich sage, es macht keinen echten Unterschied, ob man einen Zaun baut oder nicht, weil man sowieso auf beiden Seiten regiert. Oder wenn man auf der anderen Seite die Kontrolle aufgibt, geschieht das nur, wenn man sicher ist, dass dort nicht das entsteht, was man einen "terroristischen Staat" nennen würde, der die eigene Dominanz behindert. Der gegenwärtige Krieg schreibt dies fort. Zeig mir heute jemand, der gegen meine These eines de facto Binationalismus argumentiert, gegen die Unumkehrbarkeit, dessen, was getan wurde. Es wird lange dauern, diesen nationalen Konsens abzubauen, der Sobol und Bibi verbindet.
Aber macht dies die Lage unumkehrbar?
Schauen Sie, vielleicht, nur vielleicht hätte es (in der Westbank - d.Ü.) eine Entwicklung wie in Gaza geben können. Die Leute haben nicht darüber gesprochen, bevor der Krieg ausbrach. Jeder war sicher, dass der Convergence Plan durchgeführt würde. Jetzt gibt es nicht mehr die geringste Chance. Sie werden sich die Wunden dieses Krieges lecken und sich im nationalen Konsens suhlen.
Aber Sie schreiben, der Umschwung würde schnell kommen. Dann würde es keinen nationalen Konsens geben.
Die Diskussion wird darum gehen, wie der Krieg geführt wurde, nicht um seine Ziele oder Gründe. Sie werden sagen, er war gerechtfertigt, aber er wurde entsetzlich durchgeführt. Sehr wenige werden bereit sein, sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Krieg und der Sache der Palästinenser zu beschäftigen.
Und es gibt noch einen anderen Grund sich nicht mit diesem Thema zu beschäftigen. Geld. Es wird Jahre dauern, diesen Krieg zu bezahlen. Wer wird die Kosten tragen? Wird man ihn gleichzeitig mit dem convergence plan finanzieren können? Der convergence plan hätte 70 Milliarden Schekel (ca. 16 Milliarden US-$) gekostet. Wer wird jetzt das Geld dafür geben?
Und es gibt noch einen weiteren Faktor: Die Legitimierung von Orange! (Orange ist die Farbe der rechten Protestbewegung gegen die Räumung der Siedlungen.) Sie, diese Orangen, kämpfen dort, sie werden dort getötet, diese Orangen. Sie kämpfen für Dich und Du willst sie aus ihren Häusern vertreiben? All diese Faktoren schaffen eine Situation, in der - falls irgendwas hätte geschehen sollen, dann ist es jetzt um weitere 20 Jahre nach hinten gestellt. Wie viele 20er Reihen hat man? Wenn man bei Hundert ist, kann man das dann immer noch eine vorübergehende Besatzung nennen? 40 hat man bereits erreicht.
In einem vor dem Krieg erschienenen Artikel mit der Überschrift "Ich Glücklicher, ich bin Waise" (Ha´aretz, 15.06.2006) haben Sie behauptet, in Anbetracht des demographischen Drucks von 12 Millionen Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer gäbe es keine Möglichkeit mehr, den Konflikt mit einer Zwei-Staaten-Lösung zu beenden. Sie haben auf die begrenzten natürlichen Ressourcen hingewiesen, die unter allen aufgeteilt werden müssen, aber Sie haben auch ein weiteres Hindernis erwähnt: die über die Jahre gewachsene große ökonomische Kluft zwischen Israelis und Palästinensern. Was soll dann die Lösung sein? Auch wenn wir statt dessen über einen Staat sprechen, bliebe die Kluft.
Wir müssen uns alles als eine einzige Einheit vorstellen, mit enormen Klüften in jedem Bereich des Lebens und wir müssen diese Klüfte angehen. Wir müssen uns verhalten, als gehe es um ein Armutsproblem, als hätten wir mit Leuten zu tun, denen die Bürgerrechte vorenthalten werden. Anfangen, mit den jetzt vorhandenen Problemen zu arbeiten, wie sie es in Südafrika gemacht haben. Ich spreche von dem Standpunkt, den man einnehmen muss. Es ist klar, dass sich der israelische Staat so etwas widersetzen wird, aber wenn es eine Linke gibt, die wachsam auf Ungleichheit reagiert, dann muss das deren Standpunkt sein.
Aber da gibt es natürlich ein Problem: die Palästinenser wollen es nicht. Sie wollen Selbstbestimmung. Sie wollen nicht gleich sein. Und diese Entscheidung kann man nicht für sie treffen. Doch dieses Problem wird kleiner, weil viele anfangen, die Situation so zu sehen. Nach dem Krieg wird man mehr Palästinenser finden, die sagen, dass es keine Chance für zwei Staaten gibt. Es soll nicht sein. Der nächste Schritt wird sein zu sagen: "Annektiert uns! Wir wollen Bürgerrechte!" Dann wird ein klassischer Kampf der radikalen, sozialistischen und liberalen Öffentlichkeiten beginnen, die Gleichheit erreichen wollen. Und dann werden alle möglichen Probleme auftreten, Alltagsprobleme, die viel schwieriger und komplizierter sind als die Parole "Zwei Staaten für zwei Völker". Wenn es zwei Staaten gibt, kann man sagen: "Was geht mich Gaza an? Das ist ein anderes Land. Interessiert mich Bangladesh?" Aber wenn Du anfängst zu begreifen, dass Gaza ein Teil von Dir ist, ein Teil, mit dem Du zu Rande kommen musst, dann musst Du mit dem umgehen, was dort jeden Tag passiert. Du kannst es nicht zurückstellen, Dich selbst damit reinlegen, dass es eine koloniale Besatzung ist und dass Du, wenn diese vorbei ist, eine Grenze ziehst.
Doch es hat eine Zeit gegeben, in der Sie gesagt haben, Westbank und Gaza seien die Verantwortung der PLO und sich um diese zu kümmern, sei deren Angelegenheit.
Ja, aber wir haben den Zug verpasst.
Schon in den 80ern, noch bevor die PLO zu einer korrupten Regierung wurde, haben Sie die Situation irreversibel genannt.
Die PLO hat noch eine Chance bekommen und sie verpatzt.
Meinen Sie wirklich, Oslo habe der PLO noch eine Chance gegeben?
Schauen Sie, die PLO hat etwas bekommen. Wenn sie die Dinge ordentlich geregelt hätte, hätten wir vielleicht so was bekommen wie in Belgien. Dort hat sich der französische Süden gegenüber den Flamen verhalten, als wären sie Dreck. Doch mit einer vernünftigen Führung hat Schritt für Schritt eine Veränderung stattgefunden: Die Franzosen wichen zurück und die Flamen traten hervor. Aus meiner Sicht war der Schritt, der besagte: "Ich gebe diesen Leuten eine kommunale Identität", genannt die Palästinensische Autonomiebehörde, eine positive Entwicklung, aus der man mehr hätte machen können.
Könnten wir uns wieder der Frage nach der Zukunft zuwenden?
Alles, was ich sage, ist Folgendes: Nur um des Arguments Willen wollen wir es mit einem anderen Paradigma versuchen. Ich sage nicht, ich habe Recht, aber wenn sie die Realität nicht als eine Frage der Besatzung sondern der Vorherrschaft betrachten, in der eine Gemeinschaft, die jüdische, eine andere, die Palästinenser, in einer quasi-permanenten Art und Weise dominiert, und dies nicht beseitigt werden kann, indem man einen eisernen Vorhang herablässt, dann muss man sich um die alltäglichen Probleme kümmern, die viel schwieriger sind.
Für die Linke ist es schwer zu ertragen festzustellen, dass sie den Prozess hätte umkehren können und es jetzt zu spät ist. Deshalb ist ein großer Teil der Linken nicht bereit, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen. Und dann passt es gut, sich hinter dem alten Konzept der Besatzung zu verstecken. Im 40. Jahr, das nur noch neun Monate entfernt ist, brauchen wir jemanden, der aufsteht und sagt, "Hey, Freunde, wisst Ihr was? Lasst uns mal die Möglichkeit betrachten, dass dieses Konzept den Status Quo unterstützt, und lasst uns versuchen, das Programm zu wechseln." Zu meinem großen Bedauern habe ich damit keinen Erfolg. Es ist zu schwierig.
Ich bin für das, was man "soft borders" [2] nennt. Feste, internationale Grenzen sind das unflexibelste auf der Welt und wenn man sie öffnet, schafft man Probleme. Wenn man z.B. feste Grenzen zieht, um einen kurdischen Staat im Irak zu bilden, dann schafft man Probleme in Syrien, der Türkei und dem Iran. Meine Philosophie handelt von soft borders. In der jetzigen Situation gibt es Grenzen, aber sie definieren keine Souveränität, verpflichten nicht zu einer eindeutigen Unterscheidung zwischen dem, was hier getan wird, und dem, was dort getan wird. Im Falle von "soft borders", sind die Leute verpflichtet, ein Gleichgewicht zwischen den Interessen der verschiedenen Gruppen zu schaffen. Doch heute ist das alles nur ein Traum. Der Krieg führt uns genau in die entgegen gesetzte Richtung.
Das Interview wurde am 7. August 2006, dem 27. Tag des zweiten Libanonkriegs geführt und erscheint in "Challenge" 99, Sept./Okt. 2006.
Meron Benvenisti hat u.a. die Bücher Jerusalem: The Torn City (1977); Conflicts and Contradictions: Israel, the Arabs and the West Bank (1986); Intimate Enemies: Jews and Arabs in a Shared Land (1995); City of Stone: The Hidden History of Jerusalem (1996); and Sacred Landscape: The Buried History of the Holy Land since 1948 (2000) veröffentlicht. Sein neuestes Werk Son of the Cypresses: Memoirs, Reflections and Regrets soll im April 2007 bei UC Press erscheinen.
Aus dem Englischen von Endy Hagen
[1] Mit dem Nationalpakt wurde 1943 die politische Macht nach einem noch heute gültigen konfessionellen Proporz verteilt. Damals stellten Christen und Sunniten die größten Bevölkerungsgruppen, während die Schiiten nur eine Nebenrolle spielten. - d.Ü.
[2] Der Begriff "soft borders" wurde im April 2005 geprägt, als eine Buslinie zwischen zwei Grenzstädten Indiens und Pakistans eröffnet wurde. Sie erlauben leichten Zugang für Menschen und Waren und die unkomplizierte Erteilung von Einreisevisa. - d.Ü.
Online-Flyer Nr. 61 vom 12.09.2006
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