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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Krieg und Frieden
Fünf Jahre neue Weltordnung nach dem 11. September
Der "Quantensprung" und seine Folgen
Von Emma Weiß

Dass sich am Montag die Anschläge auf das World Trade Center zum fünften Mal gejährt haben, dürfte dank der Medien niemand verpasst haben. Noch immer ist vom "Angriff auf das Herz der Zivilisation" die Rede. Als Antwort auf die Angst, die damit weiter geschürt wird, hat Franz-Josef Degenhardt das Lied "Quantensprung" herausgebracht, das Gründe und Folgen der Anschläge beleuchtet. Mir hat dieses Lied zu denken gegeben über "nine eleven", und was daraus gemacht wurde

"Hi, sieh da, der Degenhardt.
In die Jahre auch gekommen, wie?
Doch immer noch ein Auge auf die Zeitläufe.
So ist es recht.
Na, was sagen Sie denn nun:
11. September.
Angriff auf das Herz unserer Zivilisation.
World Trade Center.
Pentagon.
Da ist doch wohl auch Euereins die Spucke weggeblieben,
bei so was völlig Unerwartetem.
Nichts ist seitdem mehr so wie vorher.
Das meinen Sie doch auch,
oder?,
Refr.: Nach diesem Quantensprung in eine neue Zeit,
in eine neue Dimension."


Genau das will man uns weismachen. Das Herz unserer Zivilisation liege im Welthandelszentrum. Wirtschaft, Profit und Ausbeutung, das seien die Größen und die Richtschnur unserer Gesellschaft. Menschlichkeit, Achtung vor Leben oder Freiheit des Einzelnen gehören also nicht zum Herzen.

Völlig unerwartet waren die Anschläge, da wir uns in Sicherheit wiegen ließen. Man hätte es kommen sehen können. Viele Analysen und Berichte zeigen, dass die Geheimdienste z. T. informiert waren. Wenn man realistisch auf die Ungerechtigkeiten des Welthandels blickt, ist es eher ein Wunder, dass nicht schon viel früher "Angriffe auf das Herz unserer Zivilisation" stattgefunden haben. Aber wenn man den Menschen einredet, sie seien überrascht worden, dann sitzt der Schock viel tiefer. Ein argloses Opfer - wie die USA vorgeben zu sein - von hinten zu überfallen, ist moralisch leichter zu verurteilen als einem übermächtigen Gegner - was sie tatsächlich sind - entgegenzutreten. Und nach solch einem verstärkten Schock ist es dann auch leicht, von einer neuen Zeit, von einem Quantensprung in eine neue Dimension zu sprechen.

Ironischerweise bedeutet "Quantensprung" ursprünglich physikalisch eine winzig kleine Veränderung. Wenn man z.B. Milch erhitzt, dann nimmt die Temperatur nicht kontinuierlich zu, sondern springt z.B. bei 15,763° auf 15,767°. Diesen minimal sprunghaften Anstieg, der sich in allen natürlichen Prozessen beobachten lässt, nennt die Physik "Quantensprung". Aber in der politischen Rhetorik hat sich der Quantensprung als Synonym für eine riesige Veränderung durchgesetzt.

'Angriff auf das Herz der Zivilisation'
'Angriff auf das Herz der Zivilisation'
Foto: Wikipedia



Keine Ursachenforschung mehr

"Yes, Sir.
Ein neues Zeitalter ist angebrochen,
und das ist mehr als ein Gezeitenwechsel.
Die Theorien, Werte und Begriffe von dunnemals:
Erledigt.
Zum Beispiel nichts mehr da mit so einem Geschwafel:
Wie konnte es dazu überhaupt nur kommen?
Was sind die Ursachen für solche Wahnsinnstaten?
Eure Sprüche aus der Mottenkiste aus dem vorigen
Jahrhundert:
Imperialismus, Ausbeutung,
jahrzehntelange, ja jahrhundertlange Unterdrückung,
hier die Superreichen, dort das Heer der Bitterarmen,
die will keiner jetzt mehr hören.
Und schon gar nicht solche Selbstanklagen wie:
Wir haben denen schließlich auch was angetan
und pipapo."

Ursachen werden nicht mehr analysiert, und kaum ein Journalist traut sich, den Mund aufzumachen und auf die zunehmenden Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Diese Verdrängung der Ursachen des Terrors rächt sich. Durch die angeblichen Antiterrorkriege in Afghanistan, im Irak und im Libanon werden diese Ursachen noch verstärkt: massenhaft unschuldige Opfer in der Zivilbevölkerung, Perspektivlosigkeit und wachsende Armut. Wer Wohnbezirke im Libanon bombardiert, muss sich nicht wundern, dass die Hisbollah dort Unterstützung und Zuflucht findet. Im Irak sind seit Beendigung der offiziellen Kriegshandlungen mehr Menschen getötet worden als in den beiden Twin towers, und inzwischen hören wir sogar vom US-Senat, dass Bush auch mit diesem "Grund" - dass Hussein Alkaida unterstützt hätte - für seinen Irak-Krieg gelogen hat.

"Nein!
Entschlossenheit, gesunde Rache, Kampfbereitschaft.
Das sind die neuen Energien
nach diesem Quantensprung in eine neue Zeit,
in eine neue Dimension."

"Gesunde Rache", was für eine seltsame Kombination. `Rache ist ein Gericht, das besser kalt genossen werden sollte´. Das Sprichwort weiß, wie gefährlich Rache ist. Aufgeklärten Menschen ist bewusst, dass Rache die Spirale der Gewalt nicht beenden kann, sondern sie immer weiter hochschraubt. Trotzdem sind Entschlossenheit, Rache und Kampfbereitschaft die Antworten der so genannten Westlichen Welt, die so stolz ist auf ihre Zivilisation und ihre angeblich intellektuell so hoch entwickelte Kultur.

Krieg dem Krieg - Quantensprung-CD
Krieg dem Krieg - Quantensprung-CD
Foto: Eulenspiegelverlag



Differenzierung statt Schwarz-Weiß-Schema

"Klare Konturen gibt es wieder.
Schluss mit der Unübersichtlichkeit,
den Differenzen und den ewigen Bedenken:
Vielleicht ja, vielleicht nein,
wer weiß denn überhaupt....
Eindeutigkeit,
jawohl Eindeutigkeit,
da haben sich alle nach gesehnt."


Eindeutigkeit kann vordergründig entlasten. In der immer komplexer werdenden Welt wünscht man sich manchmal einfache Lösungen. Aber leider führen die nicht zum Erfolg. Differenzierung ist der Lösungsweg. Genaues Hinsehen, Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln und auch mit den Augen des vermeintlichen Gegners ermöglicht erst Lösungen kreativ zu entwickeln, die auf Dauer tragen und allen Beteiligten nutzen. Differenzierung ist angesichts der Verstrickungen in mannigfache Abhängigkeiten wohl auch der einzige Weg, Rückgrat zu bewahren.

"Das Gute und das Böse,
das ewige Schema allen Lebens, Fühlens, Denkens
und der Politik.
Freund - Feind,
und Letzterer ist klar erkennbar für die Leute.
Diesmal mit Kaftan, Rauschebart und Turban.
So wie Karl May ihn schon beschrieben hat:
Der alte Mürbarek, so hieß der damals.
Und heute heißt er?
Na?,

Refr. nach diesem Quantensprung in eine neue Zeit,
in eine neue Dimension?"


Alle Militärs brauchen Feindbilder. Menschen werden zu Unmenschen gemacht, denn sonst würde kein vernünftiger Mensch auf sie schießen. Der 11.9. war ein Glücksfall für die Militärs und die Rüstungskonzerne, so zynisch das klingen mag. Nach dem Ende des kalten Kriegs war das Feindbild des bösen Russen verschwunden und ein Vakuum entstanden. Mit der von Bush propagierten "Achse des Bösen" konnte wieder ein klarer Trennungsstrich durch die Menschheit gezogen werden.

Die Religion war dabei noch ein praktischer Unterschied. Auch wenn die meisten Menschen hier mit Religion nichts am Hut haben, ließ sich der Islam als negative Größe bestens vermarkten. Schlimm ist, dass die Trennungslinie sich auch mitten durch die deutsche Gesellschaft zieht. Alle Menschen mit dunklen Haaren, alle bekennenden Muslime stehen unter Terrorverdacht. Die Toleranz gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland in den letzten fünf Jahren auf einen nicht zu verantwortenden Tiefstand gesunken. Wir scheinen wirklich noch nicht weiter zu sein als Karl May mit seinem auf Vorurteilen aufgebauten Rassismus.

'Hi, sieh da, der Degenhardt.'
'Hi, sieh da, der Degenhardt.'
Foto: Eulenspiegelverlag



Der einzige Weg zur Sicherheit: keine Bedrohung darstellen

"Ja - Es ist ein Kreuzzug gegen das Böse, den Terror,
mit Bomben, Brot und bald Atomraketen.
Und warum wohl nicht!
Ein jeder hier in diesen Breiten weiß im Grunde doch, worum es geht.
Jawohl, ein Kreuzzug."


Ja, jeder weiß, dass es darum geht, wirtschaftliche Vormachtstellungen zu demonstrieren und auszubauen. Dem eigenen Land durch Entsendung von Soldaten die fremden Bodenschätze zu sichern - wie im Kongo. Schon im Mittelalter ging es bei den Kreuzzügen nicht in erster Linie um Glaubensauseinandersetzungen, sondern um den wirtschaftlich wichtigen Zugang zu den Stätten im Nahen Osten. Nur als Warnung: die Kreuzzüge haben die Christen letztendlich verloren.

"Und er wird länger dauern als der von Barbarossa.
Und wir Deutsche machen wieder mit.
Und das ist auch gut so.
Nie wieder Krieg von deutschem Boden,
das sind olle Kamellen,
kommunistische Parolen.
Der Pazifismus ist ja Gott sei Dank passe."


Pazifismus - also keine Bedrohung darstellen - ist der einzig effektive Weg, den Terror aus dem eigenen Land herauszuhalten. Die Friedensforschung betont seit Jahrzehnten, dass Staaten, die bedrohen, auch die man meisten bedrohten Staaten sind. Je höher ein Staat aufrüstet und an je mehr Kriegen er sich beteiligt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Terrorattentate auf seine Menschen verübt werden. Die Terrorgefahr in Deutschland wächst, aber nicht weil unsere fast schon Orwellsche Überwachung Lücken hätte, sondern weil unsere Regierungschefin bereit ist, ihre Soldaten überall hinzuschicken und weil sie auch gegen den geplanten Iran-Krieg der USA kein Veto einlegen wird.
 
Opposition geht verloren

"Die liberale Linke sieht das alles eher ironisch
und macht ihre Witzchen.
Nun - Degenhardt, old Chap,
Sie kennen unsere Landsleute doch auch!
Wenn erst mal wieder alle einer Meinung sind
- und das ist schon erreicht -,"


Wenn alle einer Meinung sind - und da muss man Degenhardt recht geben: wenn man die herrschende Presse betrachtet, gibt es nur noch eine Meinung -, dann geht die Opposition verloren. Dann werden Freiheiten, die Grundlage der Demokratie sind, einfach abgeschafft. Die Zusammenführung der Antiterrordatei z.B. ist für die Prävention von Anschlägen völlig ungeeignet. Die mutmaßlichen Täter der Regionalzüge wären von so einer Datei nicht erfasst worden. Voraussetzung für eine Terrorabwehrmaßnahme ist aber, dass sie geeignet ist. Die geplante Datei ist vielmehr dafür da, möglichst viele BürgerInnen zu bespitzeln und persönliche Daten über sie zu sammeln. Auch Kontaktpersonen von eventuell Verdächtigen, in der Regel Menschen wie Du und ich, sollen in diese Datei aufgenommen und ebenfalls überwacht werden. Also aufgepasst, wo Sie in Zukunft Ihr Brot kaufen. Vielleicht ist die Verkäuferin ein Schläfer, und Sie haben sie mit Ihrem Geld unterstützt. Wenn Sie dann auch noch in den letzten 20 Jahren mal auf einer Demonstration waren, dann wird es schon gefährlich, denn dann könnten Sie genau die Kontaktperson sein, die nächtlich vom BKA be- und durchsucht wird.

Was hat man sich in den 90er Jahren über die "lückenlose Überwachung durch die Stasi" aufgeregt. Gute zehn Jahre später ist das alles vergessen, und wir akzeptieren freiwillig einen immer stärker werdenden Überwachungsstaat.

"dann fehlt - wenn es drauf ankommt -
nur noch ein,
nun, ich will nicht sagen Führer.
Aber warum eigentlich nicht?,

Refr.: Nach diesem Quantensprung in eine neue Zeit,
in eine neue Dimension."

Ein Führer? - Degenhardt malt den Teufel an die Wand, aber leider ist seine Idee gar nicht so abwegig. Kriege legitimieren andere Folgeverbrechen wie Vergewaltigungen, Umweltzerstörung bis zur völligen Verwüstung ganzer Landstriche, Morde und die Kürzungen von Sozialleistungen im eigenen Land. Arbeitsdienste - heute noch Ein-Euro-Jobs genannt - werden "notwendig" an der "Heimatfront", um die Kriege zu bezahlen, die wir uns - in vieler Hinsicht -  nicht leisten können. Wie lange kann man den Baum der Demokratie immer wieder beschneiden, bevor er abstirbt? Eine neue Diktatur auf deutschem Boden? Ausgeschlossen!? Und was ist mit Bundeswehreinsätzen im Inneren? Das bedeutet doch nichts anderes, als dass deutsche Soldaten gegen deutsche BürgerInnen eingesetzt werden, oder?

Die viel beschworene neue Zeit ist keine Zeit der Freiheit oder der Ausbreitung der Demokratie, sondern eine immer stärker werdende Zuspitzung der Klüfte zwischen Arm und Reich, weltweit und in den jeweiligen Staaten, zwischen den Herrschenden und dem entmachteten Volk. Wir müssen die falsche Rhetorik nach dem 11.9.01 entlarven und gegen jede Form der Freiheitsbeschneidung ankämpfen.

Das Lied "Quantensprung" ist auf der CD "Krieg dem Krieg" (2003) erschienen.

Einen herzlichen Dank an Franz-Josef Degenhardt (www.franz-josef-degenhardt.de) für die Unterstützung dieses Artikels durch sein Lied und an den Eulenspiegelverlag für die Überlassung der Rechte (www.eulenspiegel-verlag.de). Im Herbst wird der Verlag eine komplette Sammlung aller Liedertexte von Degenhardt herausgeben.


Online-Flyer Nr. 61  vom 12.09.2006

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