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Inland
Kulturstaatsminister: Deutsches Reich des Mittelalters Vorbild für EU
Auch Benedikt für die Reichsidee
Von Hans Georg

Das europaweite deutsche Reich mittelalterlichen Zuschnitts kann als Modell für den Zusammenschluss der heutigen EU-Staaten gelten. Dies erklärte der Staatsminister für Kultur, Bernd Neumann. Demnach offenbare erst die Erinnerung an das Heilige Römische Reich deutscher Nation die "innere, historische Folgerichtigkeit" von Gründung und stetiger Erweiterung der EU.

Neumanns Äußerungen bereiten die Berliner Feiern zum 50. Jahrestag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vor, zu denen Bundeskanzlerin Merkel den deutschen Papst Joseph Ratzinger eingeladen hat. Ratzinger ist engagierter Befürworter der "Reichsidee" und soll in der deutschen Hauptstadt über die "geistigen Grundlagen" Europas sprechen. Die Regierungsoffensive zur Revitalisierung der Reichsidee unterstreicht den deutschen Führungsanspruch in der EU und bestätigt Befürchtungen in Frankreich, Großbritannien und fast sämtlichen Staaten Osteuropas. Selbst Teile der deutschen Eliten warnen vor einer allzu offenen deutschen Hegemonialpolitik.

"Modell einer überstaatlichen Ordnung"

Wie der Berliner Kulturstaatsminister weiter erklärt, kann das mittelalterliche deutsche Reich "aus heutiger Sicht" als "Modell einer funktionierenden überstaatlichen Ordnung" gelten.[1] Neumann wählte diesen aktuellen Bezug, als er am 27. August eine historische Ausstellung eröffnete, die dem angeblichen historischen Vorbild gewidmet ist ("Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 962 bis 1806"). Wegen des prominenten Ausstellungsorts (unter anderem im staatskontrollierten Deutschen Historischen Museum in Berlin) finden die Exponate und ihre inhaltliche Zusammenschau besondere Beachtung.

Der Auftritt des Berliner Kulturstaatsministers, der der Bundeskanzlerin unmittelbar unterstellt ist, verstärkt die politische Ausstrahlung der Ausstellung. Sie schlage "jenen großen Bogen (...), der uns die innere, historische Folgerichtigkeit der europäischen Einigung sehr deutlich macht", sagte Neumann. Ausdrückliches Ziel der Initiatoren ist es, "in einer Zeit grundlegender innerer und äußerer Neuorientierungen (...) die Vergangenheit Alteuropas zu sichten".[2] Man habe dabei "Strukturen und Entwicklungsprozesse" eruiert, die "für die gegenwärtigen Diskussionen um den föderalen Aufbau Europas von großer Bedeutung sind", teilen die Veranstalter mit.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de



Klerikale und rechtsradikale Wurzeln

Die offene Bezugnahme auf Strukturen des mittelalterlichen Reichs, die in Neumanns Stellungnahme zu erkennen ist, war nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit auf Kreise des deutschen Rechtsradikalismus sowie auf konservativ-klerikale Milieus beschränkt. So meinte der CSU-Politiker und deutsche Kaiserenkel Otto von Habsburg Ende der 1970er Jahre erkennen zu können, dass die "derzeitige europäische Integrationspolitik (...) die Fortsetzung der großen Linien und Grundsätze des Reiches" sei, "die 1806 überlebten, weil sie dauernde Gültigkeit haben".[3] Ähnlich hieß es in in der Paneuropa-Union, einer Vereinigung CSU-naher EU-Befürworter, man müsse "im Europa von morgen die ewige Funktion des Reiches" erneuern - "im Interesse des Abendlandes".[4] Auch Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI, wollte an den Ursprüngen der heutigen EU eine "gemeinsame Reichsidee" erkennen.[5] In den letzten Jahren haben konservative deutsche Zeitungen ihre Feuilletons für neue "Reichs"-Plädoyers geöffnet.[6]

Papst als Unterstützer eingeladen

Wie Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) jetzt mitteilt, hat er für das kommende Jahr den Befürworter der Reichsidee Joseph Ratzinger nach Berlin eingeladen. Die Einladung wurde Ratzinger am gestrigen Montag von der deutschen Bundeskanzlerin erläutert, als sie sich zu einem Empfang in Castel Gondolfo aufhielt. Der deutsche Papst soll in Berlin den Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Römischen Verträge beiwohnen und das Ereignis durch eine Rede adeln. Die religiösen Weihen gelten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und seien den "geistigen Grundlagen der politischen Einigung Europas" gewidmet, heißt es vorab in der deutschen Presse.[7] Die Einladung aktualisiert die "Reichs"-Konzeption eines stetigen Miteinanders von Kirche und Staat und stellt einen besonderen Affront gegen das EWG-Gründungsmitglied Frankreich dar. Paris ist dem Laizismus verpflichtet. Die Trennung von Kirche und Staat gilt seit der französischen Revolution im Jahr 1789 als fundamentales Prinzip politischer Organisation.

Affront gegen Frankreich und Osteuropa

Ein weiterer Affront der Rede des Berliner Kulturstaatsministers trifft die östlich und südöstlich an Deutschland angrenzenden europäischen Länder. Unter offenkundiger Anspielung auf Polen oder die Tschechische Republik erklärte der deutsche Regierungspolitiker, das Heilige Römische Reich deutscher Nation sei "Teil der Vergangenheit vieler europäischer Staaten". Laut Neumann sind "Deutschland und Mitteleuropa (...) historisch und kulturell unauflösbar miteinander verwoben".[8] Der Staatsminister erinnert damit an die frühere deutsche Hegemonie östlich der heutigen deutschen Grenzen, an deren Wiedererrichtung die Bundesrepublik seit 1990 arbeitet.

Historiker kritisiert "Beschwörung des Reiches"

Die Revitalisierung des Reichsmythos ist auf scharfe Kritik gestoßen. In einem Presseinterview weist der Historiker Heinrich August Winkler auf die Bedeutung des Reichsmythos für die NS-Propaganda. Entscheidend war Winkler zufolge, "dass das Reich immer etwas anderes und mehr war als ein normaler Nationalstaat": "Als Hitler 1939 in der so genannten Resttschechei das Protektorat Böhmen und Mähren errichtete, bescheinigten ihm großdeutsch gesinnte Rechtshistoriker, dies liege ganz auf der Ebene der alten Reichsidee, die stets übernational gewesen sei." Winkler warnt vor neuen Spannungen zwischen den europäischen Staaten: Eine "Beschwörung des Reiches" werde "Unweigerlich (...) Ängste vor deutschen Ansprüchen" wecken, "wieder ein Modell für die Ordnung Europas zu sein".[9] Da die Kritik des bekannten Historikers Winkler bereits vor drei Wochen an prominenter Stelle veröffentlicht wurde [10], kann die jetzige Minister-Rede als bewusste Zurückweisung jedweden Zweifels an der deutschen Reichs-Propaganda verstanden werden.

[1] Kulturstaatsminister Bernd Neumann eröffnet Ausstellung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962-1806"; Pressemitteilung des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung 27.08.2006
[2] www.dhm.de/ausstellungen/heiliges-roemisches-reich/index_2.html
[3] Otto von Habsburg: Karl IV. Ein europäischer Friedensfürst, München/Wien 1978
[4] Monatsinformationen der Paneuropa-Union, Januar 1977
[5] s. dazu Habemus Europam und Deutscher Sohn
[6] s. dazu 
Reichwerdung und Heiliges Reich
[7] Lammert lädt Papst in den Bundestag ein; Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.08.2006
[8] Kulturstaatsminister Bernd Neumann eröffnet Ausstellung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962-1806"; Pressemitteilung des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung 27.08.2006
[9], [10] "Erste Macht Europas"; Der Spiegel 32/2006print

www.german-foreign-policy.com

Online-Flyer Nr. 60  vom 05.09.2006

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