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Warum konkret einen bestellten Artikel nicht veröffentlichte
Ulrike Meinhof: Antifaschistin, keine Judenfeindin
Von Christian Sigrist

Die Zeitschrift konkret hatte in ihrer Mai-Ausgabe als Titel Ulrike Meinhof. Im Heft würdigte  Hermann L. Gremliza Ulrike Meinhof in seiner Kolumne und Peter O. Chotjewitz verteidigte sie in seiner Rezension über Bettina Röhls Biographie-Versuch. In der Juni-Ausgabe hat die Redaktion zwei Leserbriefe dazu ausgesucht. Einer davon von einem Mark Lückhof, in dem es u.a.  heißt: "Wer einen Terroranschlag auf jüdische Sportler als emanzipatorischen Akt darstellt und diesen damit rechtfertigt, daß man auf den israelischen `Blitzkrieg` von 1967 angemessen reagiert habe, der ist in meinen Augen in erster Linie eins: ein Antisemit."
Nach diesen Leserbriefen überredete ich Christian Sigrist, auf diesen Antisemitismus-Vorwurf eine Entgegnung zu schreiben, was er schließlich, sehr zögerlich zwar, zusagte. Als ich das Hermann L. Gremliza mitteilte, hat Christian Sigrist dafür einen Auftrag erhalten. Sein Text wurde wie erbeten fristgerecht für das September-Heft an die Redaktion gemailt. Am 10.8. hat er auf Nachfrage des Redakteurs von konkret, Wolfgang Schneider erfahren, daß der Text nicht gedruckt wird. Am 15. August kam von diesem Redakteur die schriftliche Begründung dafür. Ich will hier nur auf zwei der angegebenen Gründe eingehen. Es heißt darin: "Wir alle wissen, dass 5 Jahre allemal ausreichen, um aus einem anständigen Menschen einen unanständigen zu machen." Gemeint sind damit Ulrike Meinhof und ihr Positionswechsel von ihrer Kolumne 1967 zu ihrer Schrift zum Schwarzen September zugunsten des Kampfes der Palästinenser 1972. Dieses Adjektiv für Ulrike Meinhof hat nicht mal das BKA oder die Bundesanwaltschaft benutzt. An anderer Stelle heißt es, Sigrist rechtfertige den Text von Meinhof zum Schwarzen September. Sigrist aber zitiert und berichtet, was geschehen ist und geschrieben wurde.
Christiane Ensslin, Köln, den 17.8.06

Christian Sigrist
Professor Christian Sigrist - nicht in konkret
Foto: Klaus Jünschke


Was konkret nicht drucken wollte

Gremlizas Kolumne "Meinhof 2006" in Konkret 5/06 denunziert das fortdauernde Bedürfnis, "die Meinhof politisch um die Ecke zu bringen", die Rebellin, die gemeinsam mit anderen Genossen dem imperialistischen System den Krieg erklärt hat, hinter der Kontur der "Rabenmutter" verschwinden zu lassen. Gegen diese Kritik der Psychopathologisierung von Systemgegnerschaft verwahrt sich der Leserbrief von Mark Lückhof in Konkret 6/06 mit dem Verweis auf die "Bemerkungen der RAF zur `Aktion Schwarzer September´, dem Abschlachten jüdischer Sportler bei der Olympiade 1972 ... wer so etwas verfaßt,... ist... in erster Linie ein Antisemit".

Aktuelle Ausgabe von konkret
Meinhof-Ausgabe von konkret
Foto: konkret

"Die Aktion des Schwarzen September in München zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes" wurde im November 1972 von Ulrike Meinhof unter Bedingungen der Isolationshaft in Köln-Ossendorf verfasst; das handschriftliche Manuskript wurde von Anwälten nach draußen gebracht und als Strategiepapier der RAF gedruckt.

"Das Abschlachten jüdischer Sportler" stellt sich komplizierter dar, als der Leserbrief suggeriert: Das palästinensische Kommando wollte israelische Sportler, (die sämtlich Sportsoldaten waren), nicht töten, sondern sie als Geiseln nehmen, um sie gegen 236 palästinensische Gefangene auszutauschen. Bei dem Überfall am frühen 5. September 1972 wurden der israelische Teamchef getötet und ein weiterer Israeli tödlich verletzt. Die anderen Geiseln starben, weil deutsche Politiker das Kommando erst über das strikte Nein Golda Meirs zu Verhandlungen zu täuschen versuchten und den zugesagten Abflug von Palästinensern und Geiseln nach Ägypten nur als Falle organisierten, um auf dem Flughafen von Fürstenfeldbruck durch Scharfschützen das Kommando zu erledigen, wobei aber sämtliche neun Israelis (nur teilweise durch die Gewalt der Palästinenser) umkamen. Fünf Palästinenser und ein Polizist kamen sofort um, drei überlebende Palästinenser wurden nach zweimonatiger Haft gegen eine entführte Lufthansamaschine und deren Insassen freigelassen; sie wurden später sämtlich vom israelischen Geheimdienst Mossad umgebracht.

Meinhof bezeichnet die palästinensische Aktion als antifaschistisch, weil sie den Zusammenhang zwischen altem NS-Faschismus und dem faschistischen System des entfalteten Imperialismus hergestellt - weil sie die Aktion dorthin zurückgetragen habe, "von wo aus die Juden in West- und Osteuropa nach Israel auszuwandern gezwungen worden sind". Meinhof bezeichnet hier den fatalen Zusammenhang von NS-"Antisemitismus" und dem Palästinakonflikt, wie es auch die palästinensischen Befreiungsorganisationen getan haben.

Schreibt so eine Judenfeindin?


Die Schrift stellt den Zusammenhang von Rohstoffstrategien mit dem Autowahn in den Metropolen, der Betäubung der Massen durch Konsumismus und Medien (24-Stundentag) her; aus der Erfahrung des Verfalls der europäischen Protestbewegungen und des Opportunismus der arrivierten Intellektuellen, des Problems der "Arbeiteraristokratie" etc. werden angesichts der Erfolge des vietnamesischen Widerstands die Suche nach dem revolutionären Subjekt in die Peripherie verlagert und die Völker der Dritten Welt als Avantgarde im antiimperialistischen Kampf bestimmt. Gegen Israel als "imperialistisches Zentrum" (richtiger wäre: Satellit) richtet sich der palästinensische Widerstand. Dieses revolutionäre Subjekt war der einzige Bündnispartner, der der klandestinen Gruppe um Baader, Meinhof, Ensslin und Mahler militärisches Training und ein Rückzugsfeld anbot.

Man musste sich schon damals fragen: kann es sich eine deutsche Gruppe, deren Mitglieder jahrelang das politische System der BRD wegen der Hegemonie der für die NS-Verbrechen, gerade auch des Holocausts Verantwortlichen aufs schärfste kritisiert hatten, leisten, diese militärische Hilfe anzunehmen? Man konnte das damals schon als unmögliche Option ansehen, wie sich spätestens bei der Selektion jüdischer Passagiere durch ein palästinensisches Kommando in Entebbe zeigte (1976, nach Meinhofs Tod).

Trotzdem: Der Text Ulrike Meinhofs unterstützt den Kampf der Palästinenser, aber er geht nicht auf die Frage des Existenzrechts Israels ein; es finden sich keine Invektiven gegen Juden, die v.a. als Opfer der NS-Politik genannt werden, auch noch in der zynisch klingenden Aussage, das imperialistische Israel verheize seine Sportler wie die Nazis die Juden. Allerdings vergreift sich Ulrike Meinhof nicht nur im Ton, sondern auch in der Sache, wenn sie Moshe Dayan als "Himmler Israels" bezeichnet.

Die Solidarität mit den Palästinensern wurde in einer Situation bekundet, als diese in der BRD nach dem Attentat von München als Terroristen stigmatisiert und mit Ausweisungen und Organisationsverboten belegt wurden.

Ulrike Meinhof hat sich den Text buchstäblich abgerungen; sie schreibt in einer Notiz, sie habe sich in einem "Antisemitismusloch" befunden.

Dass es (anders als Leserbriefschreiber Lückhof meint), in Ulrike Meinhof nie "antisemitisch gedacht" hat, dokumentiert die Konkret - Kolumne 7/ 67 zum 6 Tage-Krieg "Drei Freunde Israels": Da ist zunächst die europäische Linke, für sie gibt es "keinen Grund, ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben, sie reicht in die Gegenwart und schließt den Staat Israel ein, den britische Kolonialpolitik und nationalsozialistische Judenverfolgung begründet haben".
Die Sympathien der USA beruhen im Gegensatz dazu auf ihren Ölinteressen, die sie durch Unterstützung Israels fördern wollen.

Allerdings: "Auch die Politik der westeuropäischen Linken könnte nicht araberfreundlich im Sinne der Araber sein, müßte ihnen den Verzicht auf Palästina abverlangen, die Bereitschaft zur Koexistenz mit Israel."

Die dritten Sympathien werden von großen Teilen der deutschen Presse vertreten. "Bild gewann in Sinai ... doch noch die Schlacht von Stalingrad; der Einmarsch in Jerusalem wurde als Vorwegnahme einer Parade durchs Brandenburger Tor begrüßt; ... die Läuterung fand statt, der neue deutsche Faschismus hat aus den alten Fehlern gelernt, nicht gegen - mit den Juden führt der Antikommunismus zum Sieg".

Ulrike Meinhof
Ein unanständiger Mensch?
Foto: NRhZ-Archiv


Am Schluss der Kolumne steht die nachdenkliche Frage: Was will Israel - leben oder siegen?
Von dieser Kolumne von 1967 zu den Bemerkungen zum Schwarzen September liegt ein Positionswechsel zugunsten des palästinensischen Widerstands vor - dies rechtfertigt aber nicht, Ulrike Meinhof als "Antisemitin", gemeint ist als "Judenfeindin" zu diffamieren.
Ulrike Meinhof war als Antifaschistin keine Judenfeindin; ihre Solidarität mit den Palästinensern macht das Wort Antisemitismus gegenstandslos, denn diese sind wie die Juden linguistisch als Semiten klassifiziert.

Antisemitismus


Der Vorwurf des "Antisemitismus" legt auch in diesem Fall eine begrifflich-ideologische Misere bloß, deren Bedeutung hinter dem Grauen, das der Begriff bezeichnen soll, zwar völlig zurücktritt; gleichwohl sollte die Konfusion aufgelöst werden: Der Begriff Antisemitismus setzte sich etwa ab 1879 zunächst in Deutschland durch, wurde dann aber international rezipiert. Er sollte den religiös konnotierten Begriff des Antijudaismus, des Judenhasses etc. ablösen und ein konstruiertes "rassisches" Kollektiv diffamieren, nachdem bereits in den Jahren zuvor "Semitismus" als Synonym für "Judenherrschaft" benutzt worden war. Dazu bedienten sich antijüdische Publizisten, Philosophen und Wissenschaftler eines Rückgriffs auf linguistische Klassifizierungen, die Ende des 18. Jahrhunderts aufkamen:

Der vom Historiker August Ludwig Schlözer geprägte und von G. Eichhorn in die Sprachwissenschaft eingeführte Begriff "Semiten" war aus der Völkertafel in der Genesis abgeleitet und diente als Sammelbezeichnung für Sprachen, die im Vorderen Orient ins Licht der Geschichte traten, wie akkadisch, arabisch, hebräisch und aramäisch. Erst die Biologisierung dieser linguistischen Klassifikation ermöglichte seine rassistische Verwendung, die in erster Linie gegen die Juden gerichtet war. Die danach aufkommende sprachhistorische Einführung des Arierbegriffs nutzten die Orientalisten Paul de Lagarde und Adolf Wahrmund für eine kontrastive pseudowissenschaftliche Begründung ihrer Judenfeindschaft. 1879 begannen Aktivitäten zur Gründung einer Antisemitenliga; im gleichen Jahr wurde die antisemitische Phraseologie vom Publizisten Marr in zwei Publikationen in die Literatur eingeführt. In seinem Buch " Der Sieg des Germanentums über das Judentum" hat er die angeblichen Gedanken der Juden formuliert: "Dem Semitismus gehört die Weltherrschaft". Semitentum oder Semitismus hatte die antiliberale und judenfeindliche Literatur seit der Gründerkrise als Kampfbegriff verwendet. "Antisemitismus" sollte eine Bewegung gegen die angeblich wachsende Judenherrschaft in Gang setzen.

Die verhängnisvollste Wirkung hatte Heinrich von Treitschkes 1879 veröffentlichter Artikel in den Preußischen Jahrbüchern: "Unsere Aussichten", in dem vor "Scharen strebsamer hosenverkaufender (sic!) Jünglinge, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen", von der "betriebsamen Schar der semitischen Talente dritten Ranges" geredet, v.a. aber vor dem "gefährlichen Geist der Überhebung jüdischer Kreise" gewarnt wurde. In infamer Weise beklagt Treitschke eine "brutale und gehässige, aber natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element" und setzt anschließend wiederum als Wiedergabe einer ansteigenden Stimmung eine der verhängnisvollsten Parolen in die Welt: "die Juden sind unser Unglück!"

Der sich an diesen Hetzartikel anschließende Streit, in dem außer jüdischen Autoren v.a. Theodor Mommsen entschieden die Insinuationen Treitschkes zurückgewiesen hat, hat als "Berliner Antisemitismusstreit" die Vereinseitigung des Begriffs auf die "Judenfrage" festgelegt und die Ablösung der konfessionellen Judenfeindschaft durch scheinwissenschaftlichen Rassismus ermöglicht. Der Antisemitismus wurde zur mobilisierenden Kernideologie des Nationalsozialismus. Nach der Machtübertragung 1933 freilich änderte sich die politische Semantik: jetzt wurde klar formuliert, dass es um die Lösung der "Judenfrage" ging. Die Antisemitismus-Terminologie passte nicht mehr zu den Bündnisbeziehungen mit dem arabischen Nationalismus, insbesondere mit dem Großmufti von Jerusalem.

Wenn heute Paläsinenser den Antisemitismusvorwurf als unsinnig zurückweisen, haben sie recht; deshalb muss man ihnen nicht die Frage ersparen, ob ihre Revendikationen nicht mit judenfeindlichen Verschwörungstheorien verquickt sind; so wie auch israelischen Juden die Überwindung der Indifferenz gegenüber den Leidtragenden zionistischer Politik abverlangt werden muss.

Christian Sigrist, geb. 1935 in St. Blasien, fiel seinerzeit unter die Bestimmungen der Nürnberger Gesetze. Seit 1971 Professor für Soziologie an der Uni Münster (em. 2000). Neben seinen Tätigkeiten in Forschung und Lehre war er z.B. von 1978 -1983 agrarsoziologischer Berater des kapverdischen Ministers für ländliche Entwicklung.

Feldforschungen in Afghanistan und Guiné-Bissau, zahlreiche Artikel und Reportagen zu Problemen der Dritten Welt und Teilnahme an einer empirischen Untersuchung über die Totalschließung von Videocolor in Ulm.
Sachverständiger beim Afghanistan-Hearing des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. (1986)
Schwerpunkt seiner Arbeiten zur Gesellschaftstheorie: Kritik von Herrschaftsverhältnissen und ihrer Rechtfertigung durch liberale Ideologen (Dahrendorf) und Systemtheoretiker (Luhmann).
Organisator eines israelisch-pälästinensisch-deutschen Symposiums über Perspektiven der Koexistenz, veröffentlicht zusammen mit U. Klein: Prospects of Israeli-Palestinian - Co-existence. Lit Verlag, 1996

Auswahl seiner Veröffentlichungen: Regulierte Anarchie (1967) - Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas. 4. Auflage 2005, Lit Verlag.
Hrsg.: Indien (1976)
Mit anderen: Projektgruppe Videocolor am Institut für Soziologie: Der Sozialplan ersetzt mir ja nicht den Arbeitsplatz. (1987)
Hrsg.: Macht und Herrschaft, Münster 2004
Im Kursbuch 32, "Folter in der BRD - Zur Situation der Politischen Gefangenen", erschienen im August 1973, schrieb Christian Sigrist einen Beitrag unter der Überschrift "Imperialismus: Provokation und Repression". Angesichts der allgemeinen Verurteilung der RAF in der BRD wurde mit dem Text vermittelt, daß man in der Dritten Welt die RAF ganz anders wahrnahm - als Hoffnung auf revolutionäre Veränderung. Die Übermittlung dieser Tatsache hat die offizielle Bundesrepublik Christian Sigrist jahrelang spüren lassen. Er arbeitete davon unbeirrt in den Komitees gegen Isolationshaft mit. Im Gegensatz zu Hermann L. Gremliza, der 1977 seine Leserschaft wie alle anderen bürgerlichen Zeitungen zur Denunziation der RAF-Mitglieder bei der Polizei aufgefordert hat.


Online-Flyer Nr. 58  vom 22.08.2006

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