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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Literatur
Eine Anklage des Jungen Christian gegen die Kriege dieser Welt
Erwachsene Kinder (5)
Von Karl C. Fischer

"Der Krieg entlässt seine Kinder. Aber: Es sind keine! Sind erwachsene Kinder. Kinder, die nicht Kind sein konnten, durften. Kinder, um ihre Kindheit, das heißt vor allem um die Unbedarftheit gebracht. Denn ihnen blieb keine andre Chance, als mit überlebensgroßem Überlebenskampfgeist zu Werke zu schreiten", schreibt Ulrich Land über die autobiografische Geschichte "Erwachsene Kinder" des Kölner Schriftstellers Karl C. Fischer. Die NRhZ bringt daraus – auch und insbesondere im Hinblick auf die zunehmend bedrohliche NATO-Aggression gegenüber Russland – eine Reihe von Auszügen... Das Kriegskind Christian vergißt in einer Gruppe von neu gewonnenen Freunden die Schrecken seiner Zeit. Aber nur kurz.

Im engen, muffigen Raum eines Schuppens nah am Neckar, unmittelbar am Bahndamm, sitzen sie zu acht zusammen. Eugen, Franz, Christine, Christian auf alten Bierkisten, die älteren Jungen Theo, Bert, Robert und Georg auf einer Gartenbank, die sie von draußen reinholten. Erwartungsvoll schauen alle auf einen kleinen Grammophonkoffer, dessen Laufwerk Georg, der Gründer der 'Bimbos', mit einer Kurbel aufgezogen hat. Die Schallplatte dreht sich. Die Nadel liegt auf. Erst wird ein Kratzen hörbar. Dann eine Trompete. Sie schreit. Kurz, hell und metallisch.

Ein Güterzug rattert vorbei und läßt die wenigen Gartengeräte an der Außenwand des Schuppens scheppern. Die acht in der Hütte freuen sich, daß der Zuglärm die lauten Klänge im Raum übertönt.

Abgehackt klimpert ein Klavier. Dunkle, hohle Gitarrenlaute. Im Hintergrund volle und breite Baßtöne. Rhythmisches Trommeln eines Schlagzeugs. Nur kurz eine rauchige Männerstimme. Über allem schwingend, im Takt wimmernd, ein Saxophon. Hohe und dunkle Klänge in kurzer, schneller Folge. Stampfen und Rollen. Wildes Quaken und Schluchzen der Instrumente. Christians Beine wippen, seine Arme schlagen den Takt, die Augen leuchten. Als die Grammophonnadel in der Mitte der Scheibe angekommen ist, merkt Christian, daß er die Freunde, die Hütte und alles, was draußen vorgeht, vergessen hat.

Plötzlich nimmt der Junge einen Geruch wahr, den er schon kennt und nie mehr vergessen wird. Georg will die Scheibe umdrehen und sagt noch: "Die Platte ist der St. Louis Blues von einem gewissen Louis Armstrong, Leute. Sie wurde vor zehn Jahren in Chicago ..."

Da schreit Christian: "Raus hier! ... Feuer!"

Er ist als erster an der Tür, reißt sie aus den Angeln, läuft in den Qualm hinaus.

"Nehmt eure Jacken und schlagt drauf! ... Tretet die Flammen aus!" brüllt er.

Er rennt den Bahndamm hoch. Einige machen es ihm nach, kippen Gartenerde auf das lohende, trockene Gras, das vom Funkenflug der zuvor vorbeigefahrenen Güterzuglok entzündet wurde.

Gemeinsam schaffen sie es. Schuppen und Plattenspieler sind gerettet. Die Freunde wollen Christian danken, aber der hat sich zurückgezogen. Christine bemerkt ihn zuerst.

Hinter dem Schuppen kauert er am Boden und weint. Er hört, wie sie sagt: "Ihr könnt ihn nicht verstehen. Laßt ihn erst mal in Ruhe!"




Karl C. Fischer
Erwachsene Kinder
Buchverlag Andrea Schmitz Overath, 1996
Erschienen mit Unterstützung des Werkreises Literatur der Arbeitswelt e.V.
2. Auflage 1998


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