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Kommentar
Statt nach Halifax nach Dortmund zur „Westfälischen Rundschau“
Ein sehr persönlicher Nachruf
Von Hajo Jahn

„Stirbt die Westfälische Rundschau – um wieviel stiller wird es in der Welt“. Dieses leicht abgewandelte Zitat von Kurt Tucholsky ging mir durch den Kopf, als mich die Nachricht vom faktischen Ende der WR erreichte. Es ist, als stürbe ein nahestehender Mensch.
 

Hajo Jahn – ehemaliger WR-
Redakteur
NRhZ-Archiv
Wem das zu emotional oder gar kitschig klingt, der sollte besser nicht weiter-lesen. Im Kommentar von Bülend Ürük in www.newsroom.de vom 15. Januar 2013 ("Westfälische Rundschau": Ein Flickwerk von einer Zeitung) ist eigentlich alles gesagt, was die Fakten betrifft. Dass hier eine Zeitung von einer seelenlosen Geschäftsführung geschlachtet wird, ohne Rücksicht auf Mitarbeiter und Leser - dem ist nichts hinzuzufügen.
 
Dennoch brennt es mir auf den Fingern, ein paar Anmerkungen ganz persönlicher Art zu schreiben. Weil ich 71 Jahre alt und nicht nur eine Art Dinosaurier bin, der inzwischen eine Reihe von Journalisten ausgebildet hat, von denen einige Karriere machen konnten. Sie hatten Talent, vor allem aber die heute unerlässlichen Voraussetzungen: Abitur und möglichst auch ein abgeschlossenes Studium.
 
Die Abfahrt des Frachtschiffs von Bremerhaven nach Halifax stand schon fest, die Papiere für meine Auswanderung nach Kanada waren ausgestellt. Statt als Volontär bei einer Zeitung anzuheuern, würde ich auf der anderen Ozeanseite als Holzfäller anfangen. Alle Bewerbungen waren abschlägig beschieden worden. Wer wollte auch schon einen 17-, 18-jährigen in einer Redaktion beschäftigen, der aus der 7. Klasse Volksschule abgegangen war, mit noch 13 Jahren eine ungeliebte Laborantenlehre angetreten und zwei Jahre später abgebrochen hatte, um Bergmann zu werden (auf der Dortmunder Zeche Neu Iserlohn, die zur Harpener Bergbau AG in Bochum gehörte).
 
Auch die sieben Volksschuljahre waren nicht echt. Durch Krankheiten und später durch Flucht aus der DDR habe ich zusammengerechnet etwas mehr als drei Jahre die Schulbank gedrückt. Im Westen mit einem arbeitslosen, entwurzelten Vater jobbte ich bei Bauern oder als Kofferträger in Hamburg, verkaufte Zeitungen, arbeitete wieder auf Bauernhöfen und bei einem Bäcker in Witten, der seinen Laden neben dem Flüchtlingslager hatte.
 
Das ist die Schule des Lebens. Unzähligen Menschen ging es so. Nach einem Jahr „auf Zeche“ arbeitete ich als Packer im Akkord bei der Deutschen Tafelglas AG in Witten. Doch schon während der Laborantenlehre hatte ich für Zeitungen in dieser Ruhrgebietsstadt geschrieben und fotografiert. Mit einer “Braun-Super Paxette“ (oder so ähnlich), auf Raten wurde sie abgezahlt. Die ersten Bilder wurden im „Wittener Wochenspiegel“ veröffentlicht, später in den Lokalausgaben der „Westfälischen Rundschau“, den „Ruhrnachrichten“ und der WAZ, die damals noch nebeneinander existierten.
 
Joachim Eichhof, der erste Redakteur der WR in Witten, schrieb auf eine Postkarte mit dem Stempel der Zeitung, dass man mich doch bei meiner journalistischen Arbeit unterstützen möge. Dadurch kam ich 1959 in Berlin tatsächlich sogar ins Studio zu Dreharbeiten von Mario Adorf und Horst Buchholz für den Film „Das Totenschiff“. Doch auch mit dieser bebilderten Geschichte wollte mich keine Zeitung anstellen.
 
Meine Mutter kam mir nach Schichtende mit Tränen in den Augen und zugleich schlechtem Gewissen entgegen. Dass es Freudentränen waren, konnte ich nicht erkennen. Sie hatte die Antwort auf meine allerletzte Bewerbung aufgemacht, was sie sich sonst nie erlaubt hatte. Denn sie sah mich schon in Kanada. Auf Nimmerwiedersehen. Geschrieben hatte Walter Poller. Er gab mir eine Chance als Volontär. Einerseits auf Grund der geknipsten Fotos und meiner auf einer gebrauchten Reiseschreibmaschine getippten ersten Artikelchen. Andererseits aber wohl vor allem, weil dieser legendäre erste Chefredakteur der Westfälischen Rundschau Verständnis hatte für meinen ungewöhnlichen Werdegang. Der sozialdemokratische Journalist hatte Schlimmeres erlebt, hatte Zuchthaus und KZ im „Dritten Reich“ überlebt.
 
Das Volontariat war „learning by doing“. Günter Gecks und andere Kollegen, denen ich bei der WR in den Lokalausgaben von Castrop-Rauxel oder während der Nachtredaktion in der Metage in Dortmund begegnete, hielten wenig bis nichts von einem (damals noch relativ unbekannten) Journalistik- oder Publizistik-Studium. Sie waren Akademikern kritisch gesinnt, hatten zu viele Nazis mit Dr.-Titel erlebt, und sie waren geprägt von Kriegs- und Aufbaujahren. So ließen sie mich gewähren, lehrten mich die technischen Feinheiten von Schriftgrößen, von Umbruch und „Schmuckseiten“ etc. Großzügig sahen sie darüber hinweg, wenn ich im Münsterland bei der Ausgabe Coesfeld/Dülmen den adligen Großgrundbesitzern die ererbten Titel in der Berichterstattung verweigerte. Sie ließen mich jungen Spund gewähren, wenn ich - der ich als Bergmann 1958 in die SPD eingetreten war, während mein Vater als Flüchtling typsicherweise CDU-Mitglied geworden war – in dieser „sozialdemokratischen Zeitung“ auch die Kandidaten der anderen Parteien vorstellte, kritisch über den einen oder anderen SPD-Betonkopf berichtete und mit kessen 18, 19 Jahren den Ortsvereinsvorsitzenden die anfangs noch üblichen Veröffentlichungen langweiliger Sitzungsberichte verweigerte.
 
Solche Haltung war damals eher unüblich. Doch die Toleranz von Poller und den Genossen Fritz Henßler, Paul Sattler und Heinrich Sträter als Herausgeber ließ das ebenso zu wie die Anstellung eines von der DDR geprägten Volksschülers. Diese Männer waren auf Grund ihrer Biografien und der wiedergewonnenen Pressefreiheit stilbildend für einen mehr und mehr unabhängigen Mantelteil der Zeitung. Vielleicht passte die WR ja auch deshalb anfangs so gut zum WAZ-Konzern...
 
Mir bleibt neben Walter Poller und meinen „Ausbildungsredakteuren“ ein Mann in Erinnerung, der für diese tolerante Zeitung und diese Zeit geradezu ein Symbol ist. Ohne die Erfahrung von Verfolgung unter den Nazis hätten Chefredakteur und Herausgeber wohl kaum den ehemaligen Kommunisten Kurt Lichtenstein eingestellt. 1956 war die KPD, für die Lichtenstein zuvor im Landtag von Nordrhein-Westfalen gesessen hatte, verboten worden - ein Verbot, das wir heftig diskutierten und mehrheitlich ablehnten, weil wir die politische Auseinandersezung wollten, nicht die juristische. Auch der Widerstandsgeist, der Lichtenstein schon in der NS-Diktatur war, hatte sich bald mit seinen kommunistischen Genossen angelegt. Sie entließen den Unbequemen als Chefredakteur ihrer „Neuen Volkszeitung“ sang- und klanglos; er musste sich und seine Familie mit Gelegenheitsjobs ernähren. Lichtenstein wandte sich vom Kommunismus ab, wurde 1958 SPD-Mitglied, aber nicht deshalb Redakteur der WR (obwohl es nicht geschadet haben dürfte).
 
Kurt Lichtenstein war ein vorbildlicher Journalist. Ein guter, aber das ist eigentlich unnötig, extra betont zu werden. Während einer Reportage entlang der DDR-Grenze wurde er von Vopos mit Maschinenpistolen erschossen. Das war am 13. Oktober 1961. Wir, die wir ihn in Redaktionskonferenzen mehr von ferne erlebt hatten, haben geweint.
 
Bei ihm, Walter Poller, Joachim Eichhof, Willy Albert und anderen habe ich das Zitat von Cecil King zu hören und vorgelebt bekommen: „Ein Journalist hat nicht die Pflicht, geliebt zu werden. Aber er hat die Pflicht, gelesen zu werden.“ Ob das noch lange gilt für die heutigen Kollegen der Westfälischen Rundschau, der Frankfurter Rundschau und und und??? (PK)
 
Hajo Jahn wurde  nach seiner Zeit als Redakteur bei der „Westfälischen Rundschau“ freiberuflicher Journalist beim WDR, wurde Rundfunk- und Fernsehmoderator und -reporter und arbeitete von 1970 bis 2000 als WDR-Studioleiter in Wuppertal. 1990 wurde er Gründer, ehrenamtlicher Geschäftsführer und später Vorsitzender der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft sowie der Stiftung „Verbrannte und verbannte Dichter – für ein Zentrum der verfolgten Künste“, über das wir zuletzt in der NRhZ 388 unter dem Titel "Dornröschenschlaf oder Pionierprojekt?" berichteten. Siehe http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18626


Online-Flyer Nr. 390  vom 23.01.2013



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