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Inland
Die Schweiz liefert kurdischen Aktivisten an bundesdeutsche Behörden aus
Ein Geschenk für Erdoğan
Von Peter Kleinert

Kaum hatte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan seinen einvernehmlichen Dialog mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über die gemeinsame Bekämpfung der PKK beendet und die Bundesrepublik verlassen, wurde umgehend die Theorie in Praxis umgesetzt. Daran hatte auch die große Protestkundgebung einiger tausend Kurden und engagierter Deutscher in Berlin im Zusammenhang mit dem seit fast zwei Monaten anhaltenden Todesfasten in türkischen Gefängnissen nichts ändern können, über das wir vergangene Woche berichteten (1), (1), und von dem Erdoğan angeblich nichts weiss. 

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan
NRhZ-Archiv

Am 1. November lieferte nämlich die Schweizer Justiz den kurdischen Aktivisten Metin A. an die BRD aus. Und dies, obwohl sich der Kurde dort seit über 50 Tagen in einem Hungerstreik befand - mit ernsthaften Folgen für seine Gesundheit. Metin A. hatte als anerkannter Flüchtling in Frankreich gelebt. Vor einem Jahr wurde er während einer Reise durch Schweizer Sicherheitskräfte festgenommen und inhaftiert. Ursache für die Festnahme war ein Übergabegesuch der deutschen Bundesanwaltschaft in Zusammenarbeit mit Interpol. Seither saß er in Auslieferungshaft im Bezirksgefängnis Pfäffikon. Nun ist er im Haftkrankenhaus der JVA Stuttgart-Stammheim auf dem Hohenasperg untergebracht. Inzwischen nimmt Metin A. zumindest wieder etwas Flüssigkeit zu sich, was er in der Schweiz strikt verweigert hatte. Am Donnerstag wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen.
 
Die Bundesanwaltschaft beschuldigt den 34-Jährigen der Mitgliedschaft in der „ausländischen terroristischen“ Vereinigung PKK (§ 129b StGB); die entsprechende Ermächtigung, ihn in diesem Sinne strafzuverfolgen, erteilte das Bundesjustizministerium bereits am 19. April 2011. Der Kurde soll seit März 2008 als Kader in der Jugendorganisation „Komalen Ciwan“ (KC) für das Gebiet Berlin und Bremen verantwortlich gewesen sein und in diesem Rahmen politische Demonstrationen und Schulungsveranstaltungen organisiert und Propagandamaterial verteilt haben. Außerdem habe er - laut Anklage - an Ausbildungsseminaren im In- und Ausland teilgenommen und Jugendliche für den Einsatz bei der Guerilla „in den Bergen“ rekrutiert.

Anfang 2010 soll Metin A. eine leitende Funktion mit umfassenden Weisungs- und Entscheidungsbefugnissen übernommen haben. So auch gegenüber den kurdischen Aktivisten Mehmet A. und Ridvan Ö., die sich seit dem 13. September vor dem Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart ebenfalls mit einer Anklage nach § 129b StGB konfrontiert sehen.

Weil er im Falle einer Auslieferung nach Deutschland politische Verfolgung befürchtete, hatte Metin A. während seiner Haft in der Schweiz einen Antrag auf Asyl gestellt, über den aber bis heute nicht entschieden worden ist. Trotzdem wurde er ausgeliefert. AZADÎ e.V., der Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland, ist der Auffassung, dass es sich bei diesem Verhalten der Behörden um einen rechtswidrigen Akt handeln dürfte: „Auf jeden Fall ist dieser Vorgang ungeheuerlich und das Menschenrecht verletzend."

Nach Angaben seines Verteidigers in der Schweiz ist dieser weder über den tatsächlichen Gesundheitszustand von Metin A. informiert worden noch durfte er seinen Mandanten vor der Auslieferung nach Deutschland sehen und sprechen. AZADÎ: „Diese Ungeheuerlichkeiten reihen sich ein in eine lange Liste von Willkür, Rechts- und Menschenrechtsverletzungen, politischer Verfolgung und unerträglichen Drangsalierungen von Kurdinnen und Kurden.

Seit fast zwei Jahrzehnten ist vonseiten der deutschen Politik nicht ein einziger Beitrag zur Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts geleistet worden. Im Gegenteil: Man stellt sich offensiv an die Seite der Türkei und unterstützt deren Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und Freiheitsbewegung, gegen Oppositionelle, MenschenrechtlerInnen, JournalistInnen, PolitikerInnen, Abgeordnete, Kinder und Jugendliche." Da ein entsprechendes Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei besteht, droht Metin A. nun die weitere Auslieferung in die Türkei. In diesem Falle haben Garantien der Regierungen wenig Bedeutung. Die Beteuerungen, er würde in der Türkei nicht gefoltert und man werde ihm ein rechtsstaatliches Verfahren gewähren, sind nicht glaubwürdig. Die bekannten Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch sowie die Asylbehörden bestätigen dies.

AZADÎ fordert eine Prüfung dieses Auslieferungsverfahrens, die sofortige Freilassung von Metin A. und aller Gefangenen, die sich wegen politischer Interessen Deutschlands und aufgrund der traditionell guten Beziehungen zur Türkei - insbesondere auf dem militärischen und ökonomischen Sektor - in Haft befinden. Dazu gehöre auch die Forderung nach „Aufhebung des 1993 verfügten PKK-Betätigungsverbots - die Ursache für Repression, Ungerechtigkeit und Verfolgung. Die Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden und ihrer politischen Arbeit muss endlich ein Ende haben!" (PK)
 
(1) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18364


Online-Flyer Nr. 379  vom 07.11.2012



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