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Kultur und Wissen
Deutschland 2008: Wachsende Obdachlosigkeit, Armut und soziale
Kunst gegen den Strom
Von Hans-Dieter Hey

Seit Dienstag, dem 22. April, machen Künstler im „Kalk-Carré" Köln und der Lutherkirche in der Südstadt auf die wachsende Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aufmerksam. Denn seit der Agenda 2010 ist es in Deutschland um die Herzen kälter geworden. Die Obdachlosigkeit wird von Wissenschaftlern inzwischen auf 400.000 Menschen geschätzt. Für den Rest der Welt unbekannte Einzelschicksale. Dem wollen sich Künstler trotzig widersetzen: „Kunst trotz(t) Armut" nennt sich die Ausstellung deshalb, die aufrütteln soll und mehr Menschlichkeit und Solidarität einfordert.


Armut äußert sich
Foto dahinter: Katharina Mayer                
Begonnen hatte die Wander- ausstellung im vergangenen November in Berlin, sie wurde ins Leben gerufen von der Evangelischen Obdachlosenhilfe e.V. und der Kulturstiftung der evangelischen Kirche und bereits in zwölf weiteren Städten gezeigt. Nach Köln holte sie der Leiter der Kölner Wohnungsversorgungs- betriebe, Michael Schleicher. In mehr als 100 Exponaten von 20 Künstlerinnen und Künstlern werden die Probleme von Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit thematisiert. Fast zu Begeisterungsstürmen führte die musikalische Untermalung durch das „Menschensinfonieorchester Köln“ anlässlich der Eröffnungsfeier am Dienstag Abend. Im Jahr 2005 wurde es mit dem Förderpreis der Regionalen Kulturförderung der Rheinischen Sparkassen ausgezeichnet.

Obdachlosigkeit und die damit verbundene Ausgrenzung und seelische Unbehaustheit sind in Deutschland schon längst keine Randerscheinung mehr. Und wer anders als Künstler können mit ihren Mitteln Menschen damit berühren. Bischof Dr. Wolfgang Huber hierzu: „Künstlerinnen und Künstler beschenken uns durch ihren aufmerksamen Umgang mit der Lebenswirklichkeit. Sie nehmen häufig Stimmungen und Zusammenhänge wahr, die anderen verborgen bleiben.“



Für Stimmung gesorgt: das „Menschensinfonieorchester Köln“

Deshalb darf die Ausstellung als gelungenes Konzept gesehen werden, Menschen die Augen zu öffnen. Denn letztlich haben gespaltene Gesellschaften keinen dauerhaften Bestand – wovon auch die Hungerrevolten auf der Welt derzeit in einem warnenden Beispiel zeugen. „Kunst trotz(t) Armut“ legt daher den Finger genau in diese Wunde der Gesellschaft. Das ist notwendig, denn die Armut steigt. Nach dem neuen Jahresgutachten der Bundesregierung 2007/2008 zur Beurteilung gesamtgesellschaftlichen Lage leben inzwischen fast 20 Prozent aller in diesem Lande in Armut. Allein in Köln sind 4.500 Menschen obdachlos, 150.000 Menschen erhalten staatliche Fürsorgeleistungen, zuzüglich etwa 40.000 Menschen, die ein Einkommen am Rande des Existenzminimums haben.


Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes
wünscht sich großes Interesse an
der Ausstellung
Die Kölner Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes weist in ihrer Eröffnungsrede auf positive Erfahrungen in der Obdachlosenhilfe in Köln hin: „Auch in Köln hat die Obdachlosigkeit eine lange und bewegte Tradition. Die in unserer Stadt entstandenen Konzepte sind bundesweit kopiert und vom Deutschen Städtetag als Modelle übernommen worden. Als Beispiele nenne ich die seit 25 Jahren praktizierte Vermeidung von Räumungsfällen, durch aufsuchende Hilfen und Mietrückstands- übernahmen. Die hier ausstellenden Künstlerinnen und Künstler können mit ihren Sichtweisen Anstoß sein und Anregungen für diese weiterhin notwendige Arbeit sein.“, und weiter:
„Ich wünsche mir ein großes Interesse an dieser Ausstellung“.


Dr. Werner Schönig, Professor für Soziologie an der Katholischen Fachhochschule Köln, sagte: „Wir sehen, hier ist die Kunst aktiv, sie trotzt." Und Schönig fragt, ob Armut ein Skandal und ein Normbruch ist: "Das was wir jetzt an Kinderarmut entdeckt haben und was wir an Wohnungslosigkeit haben, wird als Normbruch in der Gesellschaft gesehen". Was die Ausstellung selbst betrifft, sieht Schönig eine bestimmte Distanz der sogenannten „Fachwelt" zum Milljöh der Obdachlosenkunst: „Es gibt eine Distanz der Fachwelt gegenüber dem, was wir hier heute erleben, dass Kunst von Menschen in Armut mit Kunstwerken professioneller Künstler gemischt sind. Und was man sich als bürgerlicher Interessent sofort fragt: Was ist eigentlich von wem Kunst, was ist wie wertvoll und was muss ich jetzt unbedingt gesehen haben. Unterdrücken Sie diese Reflexe!"


Werner Schönig wünscht sich den
nötigen Respekt für die Ausstellung     
Für Schönig hat Authentizität Vorrang vor dem Kulturevent: „Es geht um die Echtheit statt einer gewissen künstlerischen Dünnlippigkeit, es geht um eine Wertschätzung im Sinne von ‚Benefiz statt Malefitz’, die in einem erweiterten Kunstbegriff notwendig ist. Wir haben in der Kölner Trägerlandschaft ganz viel Kunstpraxis im Armutskontext. Ich denke an den Pfingsttreff, an die ‚Oase’, ‚Gulliver’ oder viele andere. Das ist für Köln nichts Neues. Dort gibt es die beiden folgenden Aspekte: Zum einen die individuellen Aspekte des Mutes, der Heilung, der Selbstfindung und der gesellschaftliche Aspekt der Repräsentation, der Einmischung und des Respekts. Der Begriff des Respekts ist hier ganz besonders angebracht. Und ich wünsche mir, das wir alle mit dem nötigen Respekt durch die Ausstellung gehen“.


Marlies Bredehorst wünscht sich
mehr Bewusstmachung
In ihrer Eröffnungsansprache äußert Marlis Bredehorst, Dezernentin für soziales, Integration und Umwelt der Stadt Köln die Hoffnung: „...dass das ‚Kalk-Carré’ gewonnen hat, wenn hier weiter künftig Kunst hängt. Und ich hoffe, dass dieser Raum von den Bürgerinnen und Bürgern neu erfahren wird, im Spannungsfeld zwischen künstlerischer Bearbeitung und tatsächlicher sozialer gesellschaftlicher Ausgrenzung. Der Trotz, das Ziel dieses Ausstellungsprojektes, und die an diesem Ort geleisteten Arbeit ist nicht Mitleid und Voyeurismus, sondern Bewusstmachung und Auseinandersetzung, sowie Teilhabe und gesellschaftliche Anerkennung.“

Bredehorst weiter: „Fast 20 Prozent dieser Stadt lebt von einem Einkommen, was knapp an den Regelsätzen liegt, die vom Bundestag beschlossen wurden. Und wir alle wissen, das diese Regelsätze eigentlich zu niedrig sind. Das ist schon erschreckend, vor allem, weil darunter 30.000 Kinder sind. Und wir erleben Tag für Tag eine wachsende Zahl. Immer mehr größere Familien sind auf SGB II angewiesen. Das macht mir ganz große Sorgen. Das ist Armut. Dennoch: Soziales und Kultur gehören in Köln zusammen.“ Schließlich dankte die Kölner Sozialdezernentin allen Beteiligten für die reibungslosen Zusammenarbeit, damit dieses Kunstprojekt Wirklichkeit werden konnte.



...bis zum Schluss: Menschensinphonieorchester

In der Ausgabe 132 der Neuen Rheinischen Zeitung vom 6. Februar 2008 wurde das Projekt "Ich habe eine Namen...." von Ingrid Bahß vorgestellt. Und wir hoffen, noch mehr Künstlern aus dem Projekt „Kunst trotz(t) Armut" Öffentlichkeit zu bieten. (CH)

Die Künstlerinnen und Künstler des Themas „Obdachlosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung":

Douglas Buelo – Ingrid Bahß – Adrian Basilius – Winfried Baumann – Wolfgang Bellwinkel – Sebastian Blei – Dorél Dobocan – Felix Doese – Elke Heydecke – E. H. Jörg Immendorff – Miriam Kilali – Kathrina Mayer – Liesel Metten – Wolfgang Neußer – Karin Powser – Sigmar Polke – Gisela Rothkegel – Barbara-Maria Vahl – Cornel Wachter

Der Ausstellungskatalog kann nur über die Geschäftsstelle der Evangelischen Obdachlosenhilfe bestellt werden. Adresse: Evangelische Obdachlosenhilfe e.V., Stafflenbergstraße 76, 70184 Stuttgart.
Näheres unter: Evangelische Obdachlosenhifle e.V.

Eine CD des „Menschensinfonieorchester" kann beim Orchester für 15,00 Euro zuzüglich Porto selbst bestellt werden.


Online-Flyer Nr. 143  vom 23.04.2008



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