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Kultur und Wissen
Schöner Kontrast zur Möbelmesse beim BBK im "Stapelhaus"
Der "Stühler von New York" jetzt in Köln
Von Georg Giesing

Der aus Würzburg stammende Matthias Ries studierte in Karlsruhe "Produkt-Design". 2004 und 2005 war er für mehrere Monate in New York. Dort hatte er eine sprühende Idee, die wir nun auch in Köln wahrnehmen können. Hier und da in der Innenstadt und in einer Ausstellung im "Stapelhaus" beim Berufsverband Bildender Künstler. Ein ansehenswerter Kontrast zur Kölner Möbelmesse.

New York. Mega-Stadt. Zentrum des internationalen Finanzkapitals. Weltmetropole aus Beton, Stahl, Glas und Menschen. Weltstadt der Suppenküchen und Hamburger-Filialen. Des Super-Smogs. Lärms. Der Armut und des ega-Mülls. Sammelpunkt und Spiegelbild der Völker dieser Welt. Mode und Money, Kunst und Korruption, Drogen und Dekadenz. Innovationen und Ideen. Das alles ist N.Y. und noch mehr: Stadt der Gegensätze und der Paranoia!

Die Armut kriecht auf die Abluftschächte der U-Bahnen. Das Elend schläft in Pappkartons, der Reichtum in den von Sicherheitsdiensten abgeschirmten Villenvierteln am Rande der Stadt oder in den Lofts zwischen den Sternen, dem Größenwahn und dem Gewirr der Straßen.

Matthias Ries
Matthias Ries
Foto: Georg Giesing



Zu den Ungeheuerlichkeiten dieser Super-City gehören auch die Müllberge, deren Beseitigung eine ganze Armee von tatkräftigen Kerlen täglich auf Trab hält. Ex und Hopp ist in N.Y. die Devise. Die Müllmänner sind hauptsächlich für das Ex zuständig.

Mathias Ries war von den Müllbergen in N.Y. beeindruckt. Halden von Müllsäcken. Berge von Verpackungsmaterial. Daneben immer wieder Sperrmüll. Getrenntes Sammeln, der Gedanke an Recycling, schonender Umgang mit den Werten von heute und gestern, sind in N.Y. lange zu suchen.

Der junge Designer Ries machte 2004 und 2005 ein mehrmonatiges Praktikum bei Stephen Burks und bei TODA in der Stadt. Seine vom Beruf geprägte Wahrnehmung verließ ihn auch hier nicht. Auf seinen Streifzügen durch die Mega-City begegneten ihm immer wieder Stühle. Produkt-Design. In den Super-Shops, den Möbel-Märkten, auf den Designer-Messen, in den Kaufläden und auf der Straße, an den Sperrmüllbergen der Metropole. Plastik-Stühle. Holz-Stühle. Polster-Stühle. Stuhlsessel. Büro-Stühle. Mit und ohne Lehnen. Mit Schalensitzen, verstellbaren Rückenteilen usw. usf.

Januar 2006. In Köln ist Möbelmesse. Die Branche ist zufrieden. Im Jahr 2005 stieg der Umsatz der Möbelindustrie in Deutschland auf 17,2 Milliarden Euro. Das beste Ergebnis seit sieben Jahren. Jedes dritte Möbel aus Deutschland wird exportiert. Auch in die USA.

Ich lerne Mathias Ries aber in den Räumen des "Stapelhauses" kennen, gelegen zwischen der Kölner Altstadt und dem Rhein. Hier gibt es eine Ausstellung von jungen Designern in den Räumen des "Berufsverbandes Bildender Künstler" (BBK), die sich der Wiederverwertung verschrieben haben. Von den ausgestellten Accessoires und Möbeln fallen mir sofort die Stühle auf. Besondere Stühle mit der Aufschrift: public chair.

Ein Bürosessel, ein Klappstuhl aus Holz (so einen hatte ich auch mal), ein funktionaler Plastikstuhl mit Gesäßmulde, ein Kindergartenstuhl, ein abgewetzter Bürosessel. Alle gezeichnet von den Jahren ihrer Nutzung. Lebensspuren überall. Und alle mit dem gleichen Schriftzug versehen public chair.

Die Idee der Umwidmung privater Stühle in allgemeines Eigentum ist von Matthias Ries. Irgendwann im Frühjahr 2005 in N.Y. entschloss er sich zu handeln. Er entnahm dem urbanen Sperrmüll gebrauchte Stühle und besprühte sie mit Hilfe einer Schablone. Erkennungszeichen: public chair. Die so markierten Stühle stellte er auf die Straßen und Plätze der US-City. Die Bürger sollten durch die Volksstühle animiert werden, sich die Straßen und Gehwege ihrer Stadt zurückzuerobern.

Im Stapelhaus
Im Stapelhaus
Foto: Georg Giesing



Matthias Ries berichtet mir im Kölner "Stapelhaus" von seinen Erfahrungen in den USA.

"Mit dem einfachen Besprühen der Stühle findet eine Umwandlung statt. Eine Schablone, ein Schriftzug und Farbe. Das sind einfache Mittel. Mit den Worten public chair erhalten die Stühle eine neue Funktion. Zuerst waren sie Privateigentum. Mit dem Aussondern aus der intimen Atmosphäre des privaten Raumes, dem Hinstellen an die Müllhaufen, wurden sie zu Nicht-Eigentum. Mit einfachen Mittel habe ich sie zu öffentlichem Eigentum gemacht.

Das Grundkonzept sieht vor, die Stühle direkt an Ort und Stelle zu besprühen und sie dort anschließend wieder vom Straßenrand zurück an die Hausmauer zu platzieren. Dadurch werden Möbelstücke vom Abfall recycelt und nehmen wieder am Leben teil."

Das erste Mal besprühte Matthias Ries die gefundenen Stühle anlässlich der Eröffnung einer internationalen Designer-Messe (International contemporary furniture fair, New York City) und stellte gleich eine ganze Serie von ihnen auf dem Columbus Circle und am Union Square ab. Von diesen zentralen Orten wanderten die Stühle dann durch die Mega-Stadt. Die Menschen nahmen die Stühle an. Sie hatten auf den Stühlen einen Platz gefunden, auf denen sie sich ein wenig ausruhen und miteinander kommunizieren konnten.

Im Laufe seines New York-Projektes besprühte Matthias Ries mehr als 150 Stühle.

"Ich hatte einen Stuhl in der Nähe meiner U-Bahn-Station gestellt. Da war ein Kiosk. Der Stuhl stand drei Monate dort. Nachmittags, wenn ich von meiner Arbeit zurückkam, befand er sich stets an einem anderen Ort. Der Stuhl wurde genutzt. Er wurde immer mit der Sonne platziert."

Matthias Ries sieht seine Aktion in einem engen Zusammenhang mit den von Architekten und Städteplanern gestalteten Plätzen. Hier sind, so Ries, die Bänke mehr oder weniger optisches Beiwerk. Ergebnisse von Architekturmodellen oder Computersimulationen. Die Bänke sehen vielleicht noch schön aus, haben eine ästhetische Komponente, doch werden sie, so der Designer, den menschlichen Bedürfnissen nach Ruhe, Bequemlichkeit und Kommunikation kaum gerecht.

"Alle sind festgeschraubt und aus Beton gefertigt. Die öffentlichen Sitzmöbel sind vandalismussicher gemacht. Die Ästhetik darf nicht durch Obdachlose gestört werden. Mitunter sind die Bänke sogar wellenförmig gestaltet, damit nur ja niemand darauf liegen kann."

Als positives Beispiel nennt er mir die lose Bestuhlung im Skulpturengarten des neuen Kunstmuseums (MOMA) in N.Y., bei der auf die fixierten Bänke zu Gunsten beweglicher Sitzmöbel verzichtet wurde.

Ich möchte noch mehr wissen über seine Erfahrungen in N.Y. Mathias Ries lächelt und erinnert sich.

"An einen Stuhl kann ich mich erinnern. Ich platzierte ihn am Union Square. Wochen später sah ich ihn wieder. In einem weit entfernten Stadtteil. Der Stuhl war gewandert, also von Menschen angenommen. Bei einem ebenfalls von mir markierten Stuhl, den ich wiederfand, entdeckte ich, dass auch die Rücklehne besprüht war. Nicht von mir, aber mit dem Vermerk: public chair. Die Idee hatte sich verselbständigt.

Ich fand einen Obdachlosen auf einem bequemen Stuhl, er schlief. An einem belebten Platz hatte ich eine ganze Stuhlgruppe aufgestellt. Als ich später wiederkam, waren die Stühle von Polizeiautos und Polizisten umstellt. Die Sicherheitsparanoia ist in N.Y. überall präsent. Die Stühle irritieren, denn sie befinden sich an Orten, an denen sie nicht hingehören. So etwas fällt auf. Man kann sagen: die Aktion mit den öffentlichen Stühlen verändert die Wahrnehmung!"

In der Kölner Altstadt
In der Kölner Altstadt
Foto: Georg Giesing



Die Möbelmesse in Köln ist vom "Stapelhaus" in der Altstadt weit entfernt. Sie findet hauptsächlich in geschlossenen Räumen und in Zeitungsanzeigen statt. Eine Messe der Händler. Der Konsument darf nur gegen Entgeld und nur an einem Tag in die neuen Hallen in Deutz und sich dort am "globalem Design" ergötzen. Mathias Ries ist nicht nur wegen seiner Ausstellung in Köln. Auch in der Stadt stehen jetzt Stühle mit der Aufschrift public chair im öffentlichen Raum.

Der Friesenplatz, der Barbarossaplatz, der Ebertplatz, der Neumarkt. Kölner Plätze, bei denen man immer den Eindruck hat, auf der Flucht zu sein. Es sind keine Verweilplätze, keine menschenfreundlichen Orte; sie sind geplant durch die Windschutzscheibe des Individualverkehrs. Diese Plätze sind eingeklemmt in einer Wachstumsfalle, die dem Fetisch Auto gewidmet ist und aus der sie nur sehr schwer zu befreien sind. Matthias Ries hat das schnell gemerkt.

"Ich habe Stühle in Köln auf dem Sperrmüll gefunden und umgewidmet. Public chair. Aufgestellt habe ich sie an den Ringen, am Friesenplatz, in der Altstadt, am Ebertplatz und am Dom. Am Dom waren sie sofort verschwunden."

In N.Y. bekam Matthias Ries, so erzählt er mir noch, schon bald eine Rückmeldung zu den Aktionen auf seine Homepage: "Danke für die Stühle. Wir frühstücken jetzt jeden Morgen auf den feinen Sitzen!"

Siehe auch Fotogalerie "Öffentliche Stühle"

Wer mehr über Mathias Ries und seine Stühle wissen will:
www.publicchair.com
www.matthiasries.com


Online-Flyer Nr. 28  vom 25.01.2006



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