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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Krieg und Frieden
Aachener Karlspreis 2023 für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij
Etikettenschwindel, Propaganda und Geschichtsfälschung
Von Wolfgang Effenberger

Seit 1950 wird der Karlspreis der Stadt Aachen an Persönlichkeiten verliehen, die sich angeblich um die Einheit Europas verdient gemacht haben. Im vergangenen Jahr wurden die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja sowie ihre Unterstützerinnen Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa ausgezeichnet. Swetlana Tichanowskaja trat 2020 im Wahlkampf als Gegenkandidatin zu Präsident Alexander Lukaschenko auf und warb Ende Juli 2021 in Washington –von Exil-Weißrussen begeistert empfangen – für Sanktionen gegen das Staatsoberhaupt ihres Landes. Die seit September 2020 in der Ukraine lebende Microsoft-Mitarbeiterin Veronika Zepkalo unterstützt Tichanowskaja. (1) Anfang September 2020 wurde die Musikpädagogin Maria Kolesnikowa verhaftet und am 16. September 2020 wegen „Gefährdung der staatlichen Sicherheit“ angeklagt. Nach Aussage der Ermittlungsbehörde habe die Beschuldigte mit Hilfe des Internets und der Massenmedien zu Handlungen aufgerufen, die gegen die nationale Sicherheit gerichtet gewesen seien, und sie habe Belarus Schaden zufügen wollen. (2)

2023 soll nun der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij mit dem Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen geehrt werden, der in dieser Auszeichnung ein „Symbol der Solidarität Europas mit der Ukraine“ sieht. (3) Als im Frühjahr 2022 eine Initiative aus dem EU-Parlament Selenskij für einen außer-ordentlichen Karlspreis vorschlug, ging das Aachener Karlspreis-Direktorium noch dezent auf Distanz. Es hielt zwar den ukrainischen Präsidenten als Preisträger durchaus für würdig, doch man wolle mit der Verleihung bis nach der Beendigung des Krieges warten. Mit schwindender Hoffnung auf einen baldigen Frieden wolle man mit dem Karlspreis jetzt „ein starkes Zeichen für die Ukraine im Kampf für die europäischen Werte setzen“, so Direktoriumssprecher Jürgen Linden. Anfang Dezember 2022 fiel dann das Votum des Direktoriums einstimmig aus. Zu diesem Zeitpunkt lag auch schon die schriftliche Zusage Selenksijs vor. Der Preis solle als Symbol der uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine verstanden werden. (4)

Nachdem der ukrainische Präsident seit dem 24. Februar 2022 Washington, London, Paris, Brüssel und Warschau besucht hat, könnte er nun nach Aachen kommen, wo ihm heuer am 14. Mai im Krönungssaal des Aachener Rathauses der Preis verliehen werden soll. Bisher wurde die Verleihung des Karlspreises immer an Christi Himmelfahrt (18.Mai) gefeiert. Nun findet sie vier Tage früher statt, um „eine Überschneidung mit einer relevanten Veranstaltung am Folgetag" zu vermeiden. Gemeint ist der G7-Gipfel im japanischen Hiroshima, der am 19. Mai beginnt. Um pünktlich anzukommen, muss man aus Europa schon am Vortag abfliegen. Am Gipfel nehmen unter anderen Ursula von der Leyen und Olaf Scholz teil. Die EU-Kommissionspräsidentin ist als Rednerin bereits offiziell angekündigt. Die "Bild am Sonntag" berichtet nun, dass auch der Deutsche Bundeskanzler nach Aachen kommen und die Laudatio halten wird. Zudem gibt es Spekulationen, dass aus Polen Ministerpräsident Mateusz Morawiecki oder Präsident Andrzej Duda sowie aus Frankreich Präsident Emmanuel Macron anreisen könnten. (5)

Bedenkliche Symbolik der EU: der Karlspreis - öffentliche Kritik

Impulsgeber zum Karlspreis war am 19. Dezember 1949 der Aachener Bürger Kurt Pfeiffer. Diese hohe Auszeichnung sollte mit einer Verpflichtung zu höchstem ethisch-moralischem Handeln prägend für die in die Zukunft sein. Der Karlspreis ziele ab auf „freiwilligen Zusammenschluss der europäischen Völker, um in neu gewonnener Stärke die höchsten irdischen Güter - Freiheit, Menschlichkeit und Frieden - zu verteidigen, den unterdrückten und Not leidenden Völkern wirksam zu helfen und die Zukunft der Kinder und Enkel zu sichern“. (6)

Die Kritik am Karlspreis ist so alt wie die Auszeichnung selbst. Mit Bezug auf einen Bericht des US-Nachrichtenoffiziers Saul Kussiel Padover wurde die Idee des Karlspreises wegen der Mitgliedschaft Pfeiffers in der NSDAP und fünf weiteren NS-Organisationen sowie den ebenfalls NS-belasteten Mitgliedern des ersten Karlspreis-Direktoriums, Oberstadtdirektor und Bürgermeister Albert Servais und Hochschulprofessor Peter Mennicken, kritisch hinterfragt. Zusätzlich wurde der Preis als vermeintliche und nicht angebrachte Mystifizierung Karls des Großen, seiner Politik and seines Reichs interpretiert. (7) Im Dritten Reich wurde Kaiser Karl als "Einiger" der deutschen Stämme gesehen und mit Hitler verglichen. Die Nationalsozialisten identifizierten seine Politik mit der germano-zentrierten Neuordnung Europas und zitierten seinen Feldzug gegen die "hunnischen“ Awaren zur Unterstützung ihres Vernichtungskriegs im Osten.

Am 26. Februar 2008, im Vorfeld des sich abzeichnenden EU-Lissabon-Vertrags, veröffentlichte der britische Wirtschaftswissenschafter, Publizist und Politiker Rodney Atkinson die Abhandlung "Die Totalitaristen, die die Europäische Union gegründet haben, und ihr bevorstehender Triumph". Atkinson beunruhigte die Tatsache, „dass so viele der Gründer der Europäischen Union in den 1950er-Jahren eine führende Rolle beim gewaltsamen Versuch der Schaffung einer Europäischen Union in den 1930er- und 1940er-Jahren gespielt haben. Führende Persönlichkeiten wie Walter Hallstein, Walther Funk, Alfred Toepfer, Paul-Henri Spaak und Hans Josef Globke waren sowohl aktive Unterstützer des europäischen Faschismus in den 1940er-Jahren als auch kritische Förderer der Europäischen Union in den 1950er-Jahren. Die Frage ist, würden die meisten Menschen ihre demokratische Souveränität an eine von solchen Personen gegründete supranationale Macht abgeben wollen? Denn genau das ist dem britischen Volk passiert, als es sich die Zwangsjacke der europäischen Verfassungsmacht um den Hals gelegt hat.“ (8) (Mit dem „Brexit“-Votum von 2016 wurde das ja rechtzeitig vor dem sich abzeichnenden Ukrainekonflikt beendet, Anmerkung Wolfgang Effenberger).

Nach Atkinson waren es Nationalsozialisten, die den Karlspreis auf den Weg brachten und in deren Geist die Europäische Gemeinschaft entwickelt wurde. Dazu gehöre die Zerschlagung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens in den 1990er-Jahren. Sie wurde ermöglicht durch eine „sorgfältige Strukturierung des supranationalen Rechts der Europäischen Union (unter Umgehung der Parlamente), die Annahme einer europäischen Staatsbürgerschaft, (unter Umgebung der Nationalstaaten), den Regionalismus (unter Umgehung demokratischer Regierungen in den Hauptstädten), eine zentrale Bürokratie und einen Europäischen Gerichtshof (eine nicht parlamentarische bürokratische Kontrolle anstelle demokratischer Rechenschaftspflicht) sowie die Förderung ethnischer Gruppen als Rammbock, um die Homogenität der Nationalstaaten zu zerstören.“ (9)

So wunderte es Atkinson nicht, dass laut einer Meldung von Newsweek am 6. Juni 1997 die deutschen Truppen, die nach dem Zerfall Jugoslawiens 1997 in Bosnien einmarschierten, mit "Sieg Heil"-Rufen begrüßt wurden. Mit dem Satz „Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten“, endet sein Artikel.

Auch die Auswahl der Karlspreisträger wurde kritisiert: Die Auszeichnung gehe fast nur an konservative Politiker. Die Vergabe an den sozialdemokratischen Bundeskanzler (und Friedensnobelpreisträger!) Willy Brandt sei seinerzeit in der Jury nicht durchsetzbar gewesen. (10) Sein Nachfolger im Amt, der 2015 verstorbene Helmut Schmidt, wurde ebenfalls als Preisträger übergangen. Dagegen erhielten - bis auf die kurzzeitig regierenden Kanzler Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger - alle christdemokratischen Bundeskanzler den Karlspreis. Auch einer der größten wahren Europäer, der Frankreich aus der NATO zurückzog und für ein "Europa der Vaterländer" eintrat, Charles de Gaulle, wurde vom Aachener Direktorium nicht als würdig empfunden. Das ist angesichts der Lebensleistung De Gaulles geradezu eine Unverschämtheit. Ihm ist zusammen mit dem ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer die deutsch-französische Aussöhnung gelungen, die Gustav Stresemann und sein damaliger französischer Kollege Aristide Briand nicht erreicht hatten: Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den "Vertrag über deutsch-französische Zusammenarbeit“, einen Freundschaftsvertrag, der einen regelmäßigen gegenseitigen Austausch zur Festigung der Beziehungen vorsah sowie Kulturabkommen, ein gemeinsames Jugendwerk, einen deutsch-französischen Wirtschaftsrat und vereinte Streitkräfte (Eurokorps).

Häufig wurden die Verleihungen von Demonstrationen begleitet. 1984 richteten sie sich gegen die Vergabe an Bundespräsident Karl Carstens wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP. 1987 wurde Henry Kissinger dessen Verstrickung in die Ausweitung des Vietnamkriegs und in den Putsch gegen die Regierung Chiles unter Salvador Allende zum Verhängnis. Aus Protest gegen die Preisvergabe an ihn traten die Stadträte von SPD und Grünen aus dem Karlspreis-Direktorium aus. Auch in der Verleihung an Jean-Claude Juncker 2006 sahen Kritiker eine Diskrepanz zum Anspruch des Karlspreises, verdiente Europäer zu würdigen. Sie verwiesen dabei auf die Luxemburg-Leaks. Juncker hatte lange die Steueroase Luxemburg regiert: "Der oberste Steuerhinterziehungsbeibelfer wird EU-Kommissionspräsident!" (11) Sein langjähriger Protégé Martin Schulz (Karlspreisträger von 2015) geriet im Zuge der Aufarbeitung im EU-Parlament ebenfalls in die Kritik.

2012 stieß die Verleihung an Wolfgang Schäuble auf Unverständnis: dieser hatte 2009 den "Big Brother Award" - einen Negativpreis für fragwürdige Staatspraktiken - "gewonnen", dazu war Kritik an seiner militaristischen Politik laut geworden. (12) 2018 führte die Vergabe des Karlspreises an Emmanuel Macron zu kritischen Kommentaren, in denen ihm die Beteiligung Frankreichs am belgischen Stromversorger "Engie Electrabel" und an den Kernkraftwerken Tihange sowie Doel in Belgien vorgeworfen wurde.

Die Kritik ist berechtigt, denn sowohl bei der heutigen EU als auch beim Karlspreis handelt es sich um einen Etikettenschwindel. Stephan Steins bringt es in seinem Beitrag "Steht die geplante EU-Armee in Konkurrenz zur NATO?" in der Linken Zeitung vom 12. Dezember 2017 auf den Punkt: „Natürlich ist die Idee der europäischen Einigung eine alte Idee in Europa. Etwas ganz anderes ist allerdings, was die anglo-amerikanischen Siegermächte nach 1945 daraus institutionell entwickelt haben. Die zentralistische, undemokratische EU ist so ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was die Europäer im Sinn hatten. Die Funktion der Institution EU für den globalisierten Imperialismus besteht darin, die bürgerlich-demokratische Republik der Europäischen Aufklärung zu desintegrieren und somit die, institutionell an den Nationalstaat gekoppelte, demokratische Partizipation des Souveräns auszuhebeln.“ (13) Kaiser Karl der Große allerdings sprach nie von Europa. An seinem Todestag, dem 28. Januar 814, hatte er für seine Zeit unfassbar lang, nämlich 44 Jahre, regiert. Sein Reich hat ihn nur eine Generation überdauert.

Durch Propaganda und Geschichtsfälschung wird die schöne Fassade Europas als friedliebende, freiheitlich-demokratische Wertegemeinschaft aufrechterhalten, die inneren Widersprüche bleiben ausgeblendet (wie u.a. der Umgang mit dem seit 2010 verfolgten und in Haft befindlichen Whistleblower Julian Assange untermauert). Wir leben sozusagen in einer von Medien geschaffenen künstlichen Welt: „Man hat keine Möglichkeit, die Fakten zu verifizieren, man ist sich nicht einmal wirklich sicher, ob gewisse Dinge sich tatsächlich zugetragen haben, und man ist stets mit völlig unterschiedlichen Interpretationen aus unterschiedlichen Quellen konfrontiert.“ (14)

Diese Sätze, die sich wie eine rezente Analyse von Fake News anhören, wurden im Mai 1945 von George Orwell verfasst. „Die freiwillige Unterwerfung der westlichen Demokratien unter das Gesetz des Kapitals hat in den letzten Jahren schwindelerregende Fortschritte gemacht. Für eine friedliche Zukunft müssten immer mehr Menschen den Wahrheitsgehalt ihres bisherigen Wissens anzweifeln, müssten den Versuch wagen, sich der verborgenen Wahrheit anzunähern, und müssten erkennen, dass Geschichte immer mehr Interpretation von Fakten und ihrem Zusammenhang ist“ (15).


Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld“ in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022)


Quellen und Anmerkungen

1) https://www.france24.com/en/20200908-belarus-opposition-figure-detained-at-ukraine-border
2) https://www.rnd.de/politik/belarus-anklage-gegen-oppositionelle-kolesnikowa-erhoben-EH7M7H46IZE6VRG7UXUPJHI7B4.html
3) https://www.aachener-zeitung.de/lokales/aachen/symbol-der-solidaritaet-europas-mit-der-ukraine_aid-81557853
4) https://www.aachener-zeitung.de/lokales/aachen/symbol-der-solidaritaet-europas-mit-der-ukraine_aid-81557853
5) https://www.n-tv.de/politik/Aachen-bereitet-sich-auf-moeglichen-Selenskyj-Besuch-vor-article24042168.html
6) https://www.karlspreis.de/de/der-karlspreis/die-europapolitische-wirkung-des-karlspreises
7) Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO - Warum die Welt keinen Frieden findet. Höhr-Grenzhausen 2020, S. 439
8) Rodney Atkinson: The Totalitarians who founded the European Union and Their Impending Triumph zitiert wie in Ebda.
9) Ebda.
10) Vgl. WDR: Stichtag vom 25. Dez. 2009; www1.wdr.de/stichtag/stichtag3922.html
11) https://www.zeit.de/wirtschaft/2016-01/kapitalismus-kritik-wagenknecht-streeck?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com
12) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kritisiert den Vorstoß des Innenministers und wirft ihm vor, Friedens- und Kriegsrecht gezielt zu verwischen. https://www.sueddeutsche.de/politik/luftsicherheitsgesetz-schaeuble-ist-besessen-1.434443
13) Stephan Steins: Steht die geplante EU-Armee in Konkurrenz zur NATO? 2017 zitiert aus https://www.friedendresden.de/europas-verhaengnis-aber-nicht-fuer-kapitalbesitzer/
14) Zitiert wie Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalismus Antworten auf Fragen meiner Enkelin. 2019, S. 108
15) Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO Warum die Welt keinen Frieden findet. Höhr-Grenzhausen, S. 31


Siehe auch:

Karlspreisverleihung an Selenskyj
Das Drehbuch, das kommt aus den USA
Von Aachener Bündnis gegen Waffenlieferungen
NRhZ 810 vom 12.05.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28590

Online-Flyer Nr. 811  vom 17.05.2023



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