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Inland
Offener Brief an Stadt Frankfurt am Main und Hessische Landesregierung, 21. April 2023
Kein Auftrittsverbot für Roger Waters
Von NachDenkSeiten-Gesprächskreis Darmstadt

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Josef, sehr geehrter Herr Staatssekretär Rösmann, beigefügt finden Sie bitte einen Offenen Brief, den wir bereits vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Frankfurt initiiert hatten. Die Unterschriftenaktion lief noch, als das Urteil fiel das Auftrittsverbot aufzuheben. Natürlich begrüßen wir ausdrücklich diesen Beschluss. Dennoch möchten wir auf diesem Weg unsere Empörung zum Ausdruck bringen gegen zunehmende Versuche, die beabsichtigen unsere Kunst- und Meinungsfreiheiten einzu-schränken oder gar zu unterbinden, insbesondere öffentliche Debatten zu demokratie-unwürdigen Themen wie z. B. die seit mehr als drei Jahren völkerrechtswidrige Inhaftierung von Julian Assange, die gegen praktisch alle selbstgesetzten zivilisatorischen Regeln des menschlichen Miteinander verstößt. Wir betrachten das beigefügte [nachfolgende] Schreiben als unseren Beitrag zur Woche der Meinungsfreiheit des Börsenvereins des deutschen Buchhandels e.V. in Frankfurt.


Sehr geehrter Damen und Herren, wir, der Gesprächskreis Darmstadt der NachDenkSeiten (Liste der Unterzeichner siehe unten), fordern Sie hiermit auf, das Auftrittsverbot gegen Roger Waters für den 28. Mai 2023 in der Festhalle in Frankfurt zurück zu nehmen.

Als Grund für das Auftrittsverbot geben Sie an, dass sich Roger Waters für die Kampagne Boykott, Investitionsabzug/Desinvestition, Sanktionen (BDS)-Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell isolieren will, einsetzt und dass es israelfeindliche Äußerungen von ihm geben soll.

Die BDS-Kampagne ist eine gewaltfreie Kampagne der palästinensischen Zivilgesellschaft zur Beendigung der völkerrechtlich illegalen israelischen Besatzung. Die Kampagne ist eine Rechtskampagne, die sich ausnahmslos auf das internationale Recht sowie auf UN-Resolutionen stützt. Das Selbstverständnis der BDS-Bewegung ist durchgehend antirassistisch. Die Bekämpfung jeglicher Art von Rassismus, insbesondere gegen Jüdinnen und Juden, gehört zum grundlegenden politischen Selbstverständnis. Viele Menschenrechtsorganisationen und Organisationen der Vereinten Nationen haben Israel als Apartheidstaat definiert und es wurden Israel und das Südafrika der Apartheid-Ära miteinander verglichen. Während im Falle von Südafrika diese gewaltfreie Methode zur Aufhebung der Apartheid führte und weltweit bejubelt wurde, soll es jetzt im Falle Israel antisemitisch sein? Wir vermuten doch eher, dass es sich hier um die selbst verordnete Staatsräson in Deutschland handelt, die jegliche Kritik an der Politik des Staates Israel schon seit Jahren unterbindet. Im Übrigen beteiligen sich Staatsbürger von Israel (z.B. Ilana Hammerman) und viele Prominente an dieser Kampagne. Prof. Amos Goldberg, außerordentlicher Professor für Holocaust-Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem führt in einem Interview aus: „Der Beschluss des deutschen Bundestags (über BDS) ist ein schlimmer Präzedenzfall. Ein Staat (Deutschland, Anmerkung Unterzeichner) hat aus fragwürdigen Beweggründen in die öffentliche Debatte eingegriffen und Meinungsfreiheit und Proteste beschränkt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis jede scharfe Kritik an Israel als antisemitisch bezeichnet wird und damit ihre Legitimität verliert. Damit begehen liberale Demokratien einen schwerwiegenden Verrat an Menschenrechten und Meinungsfreiheit. Diesen Werten sollte sich gerade Deutschland verpflichtet fühlen.“ (1)

Wenn sich Israels Staatspräsident Izchag Herzog selbst von dem Vorgehen seines eigenen Staates distanziert und auch unser Bundespräsident sich „besorgt“ über die Pläne der jetzigen rechts-religiösen Regierung äußert, Entscheidungen des Höchsten Gerichts mit einfacher Parlamentsmehrheit aufheben zu können, wie muss ein solches Vorhaben dann erst auf die unterdrückten palästinensischen Staatsbürger in Israel (ca. 20 Prozent) und in den völkerrechtswidrig besetzten Siedlungsgebieten wirken, wenn sie schon bei uns in Deutschland Hunderttausende auf die Straße treiben? (2)

In seiner Rede vor der UNO, die ihm heftige Angriffe seitens der Medien eingebracht hatte, weil er Verhandlungen in dem Ukraine-Konflikt anstatt Waffenlieferungen forderte und weil er dem Westen die Mitschuld an diesem Krieg gibt („..war der russische Einmarsch in die Ukraine nicht „unprovoziert“, also verurteile ich die Provokateure ebenfalls aufs Schärfste“), hatte Roger Waters an seine Jugendzeit und an seine Mutter erinnert:

„Als ich ungefähr dreizehn war, kämpfte ich mit irgendeinem kniffligen pubertären Problem und versuchte zu entscheiden, was ich tun sollte, es ist egal, was es war, ich kann mich jedenfalls nicht mehr daran erinnern, aber meine Mutter setzte sich mit mir zusammen und sagte: „Hör zu, du wirst in deinem Leben mit vielen kniffligen Problemen konfrontiert werden, und wenn du das bist, hier ist mein Rat: Lies, lies, lies, finde alles heraus, was du kannst, egal was es ist, betrachte es von allen Seiten, aus allen Blickwinkeln, höre dir alle Meinungen an, besonders die, denen du nicht zustimmst, recherchiere es gründlich, wenn du das getan hast, hast du die ganze schwere Arbeit getan und der nächste Teil ist einfach, „Ist er das? Ok, Mama, was ist der einfache Teil?“… „Oh, der einfache Teil ist, dass du einfach das Richtige tust.“ Hmm!“ (3)

Wir haben in den letzten Jahren beunruhigende Einschränkungen unserer Grundrechte und Meinungsfreiheiten erfahren müssen, die bis heute nicht aufgearbeitet sind. Wer eine andere Sichtweise zur Corona-Krise, zum Ukraine-Konflikt, in der Klima- oder Energiepolitik vertritt, wird aus dem gesellschaftlichen Diskurs hinausgedrängt. Das passiert durch Raumverbote, Auftrittsverbote, Löschen von Internet-Inhalten, Entziehung der Gemeinnützigkeit und Rufmord-Kampagnen (die aktuellsten Beispiele sind Roger Waters, Ulrike Guérot und der Schweizer Historiker Dr. Daniele Ganser).

Fast täglich hören wir, dass „in unserer Demokratie“ Kritiken erwünscht und Diskurse darüber ausgehalten werden müssen. Wir sind erwachsene Menschen mit dem Recht auf audiatur et altera pars. Wir brauchen kein verordnetes Denken. Wir sind darüber hinaus als Steuerzahler Mitfinanziers öffentlicher Einrichtungen und fordern Sie deshalb auf, uns diese als öffentlichen Debattenraum zur Verfügung zu stellen. Auftrittsverbote, wie das für Roger Waters ausgesprochene, kommen Redeverboten gleich und entsprechen nicht den Wertevorstellungen demokratischer Gesellschaften. Unsere Regierung kritisiert mit Recht derartige Vorgehensweisen autokratischer Staaten - und jetzt tun Sie es heuchelnd selbst. Damit steht die Frage im Raum: Seit wann ist Andersdenken in Deutschland wieder verboten?

Mit um unsere Demokratie besorgten Grüßen,


Liste der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:

PD Dr. Johannes M. Becker
Peter Betscher
Eva Biebel
Peter Biebel
Irene Biebel
Walter Creutz
Guy Dawson
Anneliese Fikentscher
Karl-Heinz Fuchs
Senne Glanschneider
Karl-Heinz Goll
Angela Hammann
Hermann Hamman
Evelyn Hecht-Galinski
Manfred Heinzmann
Rita Hempel–Schwarz
Corinna Henninger
Edith Humeau
Manfred Illke
Werner Kappel
Bodo Kaul
Michael Köditz
Karl Kühner
Klemens Lüdecke
Andreas Neumann
Karina Perinelli
Rainer Rupp
Ernst Schwarz
Günter Skupin
Anette Sorg
Wolfgang Trittin
Jan Veil
Lutz Weber


Fußnoten:

1 Quelle: https://www.goethe.de/ins/il/de/kul/mag/21581473.html
2 Beleg: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/israel-proteste-demos-justiz-100.html
3 Quelle: https://www.pressenza.com/de/2023/02/roger-waters-vollstaendige-rede-vor-dem-un-sicherheitsrat/

Online-Flyer Nr. 811  vom 17.05.2023



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